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- KAPITEL 3 -
ОглавлениеIngolstadt, Mai 1992
Gleich nach dem Examen begann Emin mit seiner Facharztausbildung im Klinikum Ingolstadt. Obwohl er sich bereits als Student in den Kopf gesetzt hatte, Chirurg zu werden, nahm er eine frei gewordene Stelle in der Inneren Medizin an, zu der er mehr oder weniger Frau Privatdozentin Dr. Barbara Himmel überredet wurde.
PD Dr. Himmel arbeitete als leitende Oberärztin im Klinikum München Nord und betreute zusätzlich die internistische Station 3 B im ersten Stock. Als Emin dort den zweiten Abschnitt seines Praktischen Jahres absolvierte, lernte er die Vierzigjährige kennen und zwischen den beiden begann eine vertrauensvolle Freundschaft. Er arbeitete drei Monate lang als Student im Praktischen Jahr auf Himmels Station und gewann durch seine Art bald die Herzen des Personals. Er erinnerte sich noch sehr gut an das Telefonat mit Dr. Himmel, mit dem sie ihn überreden konnte, doch noch mit der Inneren Medizin in Ingolstadt anzufangen. Er wollte an dem Abend eher ins Bett gehen. Das Telefon läutete ausgerechnet in dem Moment, als er im Bad seine Zähne putzte. Er spülte schnell die Zahnpasta aus dem Mund und rannte zum Telefon. Die Stimme kannte er viel zu gut. „Hallo Barbara, schön Deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?“ Er bekam auf seine Frage keine Antwort. Dafür fragte sie ihn, ob sie ihn störte. Er erzählte ihr, dass er gerade ins Bett gehen wollte.
„So früh? Anscheinend hattest du einen anstrengenden Tag“, bemerkte sie halb ernst halb im Spaß.
„Stimmt. Ich musste mein Zeugnis auspacken, es in eine Folie legen und dann in einem Ordner verstauen.“
„Oje, du Ärmster. Das klingt nach Knochenarbeit“, sagte sie mitleidsvoll und wechselte gleich das Thema. „Hast du schon eine Assistentenstelle?“
„Offen gestanden, ich wollte mir etwas Freizeit gönnen.“
Daraufhin erzählte sie ihm mit gekonnter Eloquenz von den Vorteilen der Inneren Medizin und überzeugte ihn innerhalb von nur zwei Minuten, die Stelle bei ihrem Mann anzutreten. Jedes Mal, wenn er daran dachte, musste er grinsen.
Emins 3-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoss lag in der Fußgängerzone, direkt im Zentrum von Ingolstadt. Er hatte eine geräumige Terrasse zur Südseite, deren Brüstung er mit verschiedenen Geranien bepflanzt hatte. An den dienstfreien Tagen setzte er sich hin, frühstückte gemütlich oder trank einfach eine Tasse Kaffee und betrachtete die Leute. In den Sommermonaten verwandelte sich die Fußgängerzone bereits in den ersten sonnigen Morgenstunden in eine Urlaubsinsel irgendwo in der Karibik oder in eine Piazza in Italien. Eisdielen, Cafés, kleine Tischen und Stühle im Freien, große Blumentöpfe am Ladeneingang, herum lärmende Kinder. Das Paradies auf Erden.
Wenn er abends aus der Klinik kam und es noch hell war, setzte er sich gerne in die kleine Eisdiele Maurizio, trank dort einen Espresso doppio und aß anschließend einen großen Becher gemischtes Eis mit viel Krokant, den der Besitzer, er hieß tatsächlich Maurizio, extra für ihn zubereitete.
Maurizio war ein kleiner Italiener aus Sizilien und machte das beste Eis in Ingolstadt. Er erzählte allen, dass er sein Eis nach einem speziellen Rezept des Großvaters zubereitete. Seine Familie sei seit Generationen Eishersteller. Oft stand er minutenlang in der Sonne und betrachtete aus der Entfernung die Gesichter seiner Kunden. Er wollte, dass jeder seinen Laden mit einem zufriedenen Gesicht verließ.
„Ich habe heute etwas Besonderes für Sie, Dottore“, sagte Maurizio mit seinem italienischen Akzent. Emin mochte diesen Akzent und hörte Maurizio gerne zu.
Maurizios Gesicht strahlte voller Stolz und Freude. Auf seinen dicken Wangen bildeten sich zwei tiefe Grübchen. Er brachte einen kleinen Teller mit drei dünnen Streifen, die unten gelb und oben rot waren.
„Was ist das?“ fragte er neugierig den Italiener, der grinsend danebenstand und auf Emins Frage wartete.
„Das ist etwas Neues“, verriet Maurizio. „Ich habe es selbst gemacht und Sie, Dottore, sind meine Testperson.“
Emin hätte schwören können, dass er, wie immer, hinzufügte, er habe es nach einem Geheimrezept seines Großvaters zubereitet. Er wartete etwa eine Minute vergeblich. Maurizio sprach nicht weiter. Das Telefon der Eisdiele läutete und Maurizio ging hinein. Nach zwei Minuten kam er zurück und setzte sich zu Emin. „Und, Dottore?“, fragte er erwartungsvoll.
„Sehr gut, köstlich“, antwortete Emin. Er spitzte dabei seine Lippen und küsste den an den Kuppen zusammengefügten Daumen und Zeigefinger.
„Habe ich den Test bestanden?“, fragte Maurizio erneut.
„Sogar mit der besten Note.“ Emin schmatzte diesmal mit den Lippen. „Wollen Sie mir nicht verraten, was das ist?“
„Das ist Zuppa romana und ist eine Spezialität von …“
„Ihrem Großvater“, unterbrach Emin mit einem zufriedenen Lächeln.
„Stimmt, Dottore! Woher wussten Sie es? Mein Großvater war im Dorf in Sicilia, wissen Sie? Er war der erste, der Zuppa romana gemacht hat.“
„Ihr Großvater war sicherlich ein Genie“, schmunzelte Emin und war schließlich doch froh, dass Maurizio ihm die Entstehungsgeschichte der Zuppa romana in allen Details zu erzählen begann.