Читать книгу Schatten der Wahrheit - Ali Erbas - Страница 3

- PROLOG -

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Donnerstag, 15. November 2001. Bereits seit den frühen Morgenstunden zeigte sich über München ein wolkenloser, blauer Himmel. Die gemächlich im Osten aufgehende Sonne schickte ihre wohltuenden Strahlen auf München und ließ die Temperaturen langsam nach oben klettern.

In einem modernen Krankenhaus mitten in der Stadt wurden bereits am Tag zuvor die für die bevor stehende Operation notwendigen Unterlagen sowohl von dem Patienten als auch von dem Anästhesisten vollständig ausgefüllt und unterschrieben. Sie steckten nun unter dem Kopfkissen des Patienten, der mit glasigen Augen die Decke betrachtete.

Die Spritze, die er von der Stationsschwester bekommen hatte, ermüdete ihn zwar, reichte aber nicht aus, ihn in Schlaf zu versetzen. Er schwebte in einem hypnoseähnlichen Zustand und sein Gehirn arbeitete nur noch auf halber Flamme, so dass er die blechern klingenden Stimmen um ihn herum kaum wahrnahm.

Wie lange lag er bereist in dem Vorraum des Operationssaales Nummer eins? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Oder mehrere Stunden? Er wusste es nicht. Er hatte kein Zeitgefühl.

„Grüß Gott, mein Name ist Dr. Dieter Schulze. Ich bin Ihr Anästhesiearzt“, sagte eine männliche Stimme, die freundlich klang.

Der Patient wusste nicht, ob es sich bei dieser Stimme um eine reelle Wahrnehmung oder um eine Halluzination handelte. Mühsam drehte er seinen Kopf ein paar Zentimeter in die Richtung, aus der die Stimme kam. Hinter einer Nebelschwade erkannte er ein unbekanntes Gesicht, das einem hochgewachsenen Mann mit einer OP-Haube gehörte.

Der Mann sprach weiter, ohne zu wissen, ob der Patient ihn verstand oder nicht. „Gestern Abend hat ja der Chirurg Sie über die bevorstehende Operation eingehend informiert. Sie wissen, dass Sie einige Steine in der Gallenblase und sozusagen steinreich sind.“

Der Gesichtsausdruck des Patienten blieb unverändert, so dass der Anästhesist über den eigenen Witz alleine lachen musste. „Und nun“, fuhr er fort, „müssen Sie meine Kollegin, die gestern mit Ihnen die Narkose besprochen hat, entschuldigen. Aufgrund einer persönlichen Angelegenheit konnte sie heute leider nicht hier sein. Daher werde ich an ihrer Stelle die Narkose bei Ihnen durchführen. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.“

Das Ganze klang nach einem Urteil, das bereits schon lange zuvor gefällt war. Der Patient musste sich einfach damit für einverstanden erklären. In seinem Trancezustand blieb ihm keine andere Alternative.

Dr. Schulze nahm die ausgefüllten Unterlagen in die Hand, schob seine Kunststoffbrille auf seinem Nasenrücken zu Recht und überflog die wichtigsten Eintragungen.

Eine Frau etwa Mitte zwanzig mit einem schlanken Gesicht und mit der Tusche perfekt halbbogenförmig nachgezogenen Augenbrauen, ebenfalls in einem grünen OP-Anzug, kam in eiligen Schritten zu ihm und blickte auf den Patienten herab. „Ist das die Gallenblase?“, fragte sie den Anästhesisten.

„Ja, das ist der Patient“, antwortete Dr. Schulze genervt und betonte dabei das Wort der Patient. Er ärgerte sich jedes Mal, wenn das medizinische Personal und vor allem die Anästhesieschwestern von einem Organ oder einer Krankheit sprachen, wenn sie damit einen Patienten meinten. Die Ausdrücke, wie „das ist der Magen“ oder „das ist das Bein“, lösten bei ihm regelmäßig einen Wutanfall aus. Er atmete mit hörbarem Pfeifen einige Male tief ein und aus und schloss für etwa zwei Sekunden die Augen. Dadurch gelang es ihm, doch noch einen Wutanfall zu unterdrücken.

Die Anästhesieschwester nickte mit dem Kopf und entschuldigte sich mit reumütigen Blicken. „Sind Sie schon fertig mit dem Patienten?“, fragte sie dann leise.

Dr. Schulze antwortete nur mit einem Kopfnicken und legte seine Hände auf die vordere Querstange des Bettes. Zusammen schoben sie das Patientenbett in den Zwischenraum. An mehrere Metallständer hingen Infusionsflaschen mit Kochsalzlösung.

Die Anästhesieschwester näherte eine der beiden fahrbaren OP-Liegen ans Patientenbett. Sie legte ihre rechte Hand vorsichtig unter den Nacken des Patienten.

„Würden Sie bitte auf diese Liege rutschen?“, sagte sie nun mit etwas kräftigerer Stimme.

Die Wirkung der Spritze, die der Patient auf der Station bekommen hatte, erreichte inzwischen ihr Maximum, so dass er kaum eine Reaktion zeigte. Er hatte schon die Augen geschlossen und schlief mit leicht offenem Mund.

Die Schwester verdrehte die Augen wie bei einem Kind und beschwerte sich bei Dr. Schulze über die Schwestern auf der Station. Sie warf ihnen Unfähigkeit vor, die Medikamentendosis an das Gewicht des Patienten anzupassen.

Der Anästhesist kicherte leise und gab ihr zu wissen, dass sie zu Übertreibungen neige.

Das Umbetten des Patienten auf die OP-Liege ging ziemlich schnell. Die Anästhesieschwester band ihren Mundschutz am Hinterkopf fest und schob anschließend die Liege in den OP-Saal I. Mit der Blutdruckmanschette staute sie den Arm des Patienten und steckte anschließend eine dicke Nadel in eine prall gefüllte Vene an der Ellenbeuge. Es dauerte nicht einmal eine Minute und die Infusion lief bereits in die Vene.

Drei Plastikelektroden leiteten über dünne Kabel die Herzaktivität an einen EKG-Monitor, auf dem eine hellgrüne Linie mit Zacken von links nach rechts wanderte. Ein rotes Lämpchen piepste im Rhythmus des Herzschlages.

„Sind wir soweit?“, fragte einer der beiden Chirurgen, die mit frisch desinfizierten Händen den Operationssaal betraten.

„Schon längst, Herr Chefarzt“, log Dr. Schulze.

Der Bauch wurde mit einer braunen Flüssigkeit gründlich desinfiziert und anschließend bis auf das Operationsgebiet mit sterilen Tüchern abgedeckt.

Der Chefarzt nahm das Skalpell in die rechte Hand, warf einen Blick auf die Uhr am Monitor und sagte: „Schnitt!“

Die scharfe Klinge wanderte in einem feinen Bogen am rechten Oberbauch des Patienten und hinterließ eine lange vom Mittelbauch bis in die rechte Flanke klaffende Wunde. Blut spritzte. Die Chirurgen unterbanden die Blutungen mit einer elektrischen Sonde, die bei jeder Berührung der Pinzette ein zischendes Geräusch verursachte.

Beide Chirurgen sprachen kaum miteinander und arbeiteten schnell. Die Stille im OP-Raum wurde nur von dem Piepsen des EKG-Monitors und des Beatmungsgerätes unterbrochen. Nach circa 90 Minuten war die Operation vorbei. Die Wunde wurde Schicht für Schicht verschlossen. Der Anästhesist entfernte den Tubus aus dem Rachen des Patienten und klopfte auf sein Gesicht. Sobald er selbständig zu atmen begann, schob ihn die Anästhesieschwester in den Aufwachraum zur weiteren Beobachtung.

Die beiden Chirurgen begaben sich unter Begleitung des Anästhesisten und der Anästhesieschwester umgehend in den Operationssaal II und fingen, nachdem sie erneut frische Anzüge und Handschuhe angezogen hatten, sofort mit der nächsten Operation an.

In diesem Operationsraum herrschte andere Arbeitsatmosphäre. Sowohl die Chirurgen als auch der Anästhesist sprachen unter lauten Gelächtern miteinander und tauschten Witze aus.

„Wie geht es dem Patienten draußen?“, fragte einer der Chirurgen nach etwa einer halben Stunde.

„Mist, ich habe ihn total vergessen“, antwortete die Anästhesieschwester und lief sofort heraus. Kaum war sie draußen, so hörte man ihre durchdringenden Schreie. „Herr Doktor schnell … Schnell … Er atmet nicht mehr!“

Der Anästhesist lief heraus und sah den Patienten, der eben operiert wurde, in einem kreideblassen Zustand. Durch die geschlossenen Augenlider war nur ein schmaler Streifen der weißlichen Skleren sichtbar. Kleine Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er atmete kaum noch. Ein Krampfanfall setzte gerade ein. Der Blutdruck war nicht messbar. Der EKG-Monitor zeigte unregelmäßige Zacken im Sinne von frustranen Herzaktivitäten. Das rote Lämpchen blinkte ohne irgendeinen erkennbaren Rhythmus und setzte immer wieder für längere Intervalle aus.

Der Anästhesist drehte sofort die langsam tropfende Infusion voll auf und ließ die restliche Flüssigkeit in der Plastikflasche schnell durchlaufen. Er legte noch zwei Infusionen dazu. Mit Hilfe der Helferin schob er den Patienten sofort in den OP-Saal I zurück.

Der Patient wurde wieder intubiert und an das Atemgerät angeschlossen. Die Sauerstoffsättigung im Blut zeigte nur noch 57%. Es folgten mehrere Injektionen über die noch in der Vene liegende Nadel.

Einer der Chirurgen kam zu ihnen mit vor der Brust gehaltenen Händen. „Was ist los?“, fragte er gelassen, als würde er sich nach der Wetterlage erkundigen. Die Stimme gehörte dem Chefarzt.

„Dem Patienten geht es miserabel. Die Sauerstoffsättigung fällt rapide ab. Der Blutdruck ist nicht messbar“, antwortete der Anästhesist, der immer noch mit seinen Spritzen herumhantierte.

„Woran liegt es denn?“, fragte diesmal der Chefarzt und blickte auf den Monitor. Die grünen Zacken sahen wüst aus.

„Ich glaube, er hat innere Blutungen. Ich denke, eine der Nähte ist insuffizient oder aufgegangen.“

Der EKG-Monitor spielte verrückt. Das Gepiepst bestand nur noch von rasenden und dann aussetzenden Intervallen ohne jeden Rhythmus. Der Zustand des Patienten verschlechterte sich zunehmend. Jetzt liefen die Infusionen nicht mehr. Die Vene, in der die Nadel steckte, bekam eine bläuliche Verfärbung. Eine dicke Beule trat hervor.

Dr. Schulze hatte keine Zeit, nach einer neuen Vene zu suchen. Der Patient benötigte ein großkalibriges Blutgefäß. Für ihn kam nur noch ein Subclavia-Katheter in Frage, auch wenn es sich hierbei um ein gefährliches Manöver handelte. Er musste es riskieren. Es gab keine Alternative. Über einen solchen Katheter hatte er zumindest die Möglichkeit, jede Menge Flüssigkeit, Kolloidlösungen, Blut und, was noch alles zur Verfügung stand, zu infundieren.

Inzwischen gesellte sich auch der andere Chirurg dazu. „Sieht es schlimm aus?“, fragte er, nur um gesprochen zu haben.

„Er geht uns verloren“, antwortete der Anästhesist hektisch.

„Wir müssen dann den Operationssitus revidieren. Machen wir es schnell“, schrie der Chefarzt und griff nach einem Skalpell.

Der Patient wurde an den Nahtstellen schnell aufgeschnitten, ohne auf die Verhältnisse der Sterilität zu achten. In diesem Fall mussten sie alle Regeln des sterilen Arbeitens missachten.

Eine erschreckende Szene überraschte die Ärzte. Der Anästhesist hatte mit seiner Vermutung völlig Recht. Der gesamte Bauchraum bestand nur noch aus einem See von Blut. Ein paar luftgefüllte Darmschlingen schwammen wie eine Schlange in der Blutlache. Das Blut stieg höher, sobald der Chefarzt seine Hände in die Wunde steckte, um sich an den Organen zu orientieren. Der Oberarzt steckte die Düse des Saugers in die rote Flüssigkeit. Ein schlürfendes Geräusch wirkte gespenstisch und erfüllte den Raum. Unter der zu bewältigenden Blutmenge setzte er immer wieder aus.

Die Chirurgen stopften mehrere grüne Tücher zwischen den Darmschlingen. Das Rot des frischen Blutes vermischte sich mit dem Grün und bildete eine rostbraune Farbe wie auf einem Wandbild aus dem Mittelalter.

Kaum im Betrieb klang das Schlürfen des Saugers wie das Krächzen eines Motorrollers, der einen steilen Hang zu meistern hatte. Es gab ein dumpfes Blubb. Und Stille. Er gab seinen Geist auf.

„So ein Scheißding“, schrie der Oberarzt wutentbrannt und schleuderte den Schlauch auf den Boden. Die Anästhesieschwester rannte in den OP-Saal nebenan und holte einen neuen Sauger. Keine Zeit verlieren. Weiter saugen.

Die hektische Arbeit der Chirurgen wurde regelmäßig von dem verzweifelten Geschrei, wie „Saugen, saugen… Tuch… schnell noch eins… wo bleibt das Tuch, verdammt noch mal?“ begleitet.

Den Chirurgen gelang es nicht, die Blutungsquelle auszumachen. Sie saß irgendwo und wurde von der roten Flüssigkeit bedeckt.

„Absaugen, absaugen… hier“, befahl der Chefarzt dem zweiten Operateur. Der Oberarzt bewegte die Öffnung des Schlauches an die Stelle. Das Schlürfen wurde lauter und machte den Chefarzt noch nervöser.

Die OP-Schwester warf einen Blick auf das Gefäß, in dem das gesaugte Blut gesammelt wurde. Es war voll. In dem Moment schaltete der Sauger automatisch ab.

„Was ist denn nun, verdammt?“, schrie der Oberarzt.

„Das Gefäß ist voll“, antwortete die Schwester.

„Worauf warten Sie denn? Wechseln Sie es aus!“, befahl er.

„Keine Zeit“, mischte sich der Anästhesist ein, „wir verlieren ihn.“

Der Oberarzt schleuderte den Schlauch des Saugers durch den Raum, so dass das ganze Gerät umkippte und langsam wegrollte.

Die Chirurgen steckten nun ihre Hände in die auseinanderklaffende Wunde und drückten blind irgendwelche Strukturen zusammen.

Die Flüssigkeit in den Infusionsflaschen lief mit einer rasanten Geschwindigkeit in den Subclavia-Katheter des Patienten. Die Anästhesieschwester wechselte sie, ohne darauf zu achten, ob sie vollständig leer waren.

Das Piepsen am Monitor war nun unzählbar schnell. Er ähnelte mehr einem Dauerton. Die grünen EKG-Zacken verliefen sehr unregelmäßig und hatten eine Haarnadelform.

Der Anästhesist spritzte immer wieder irgendwelche Medikamente in den Katheter. Die Haut des Patienten schimmerte unter den OP-Lampen wächsern. Die Sauerstoffsättigung zählte wie beim Countdown für den Start einer Rakete abwärts.

„Wir müssen ihn defibrillieren!“, schrie der Anästhesist. „Also los“, befahl er seiner Helferin, die im Nu den Defibrillator heranschaffte.

Alle entfernten sich aus der Nähe der Liege. Dr. Schulze legte die Paddles, nachdem die Schwester sie mit einem Gel befeuchtete, auf den Brustkorb und lud dann die Energie auf.

„Alle weg, weg“, befahl er. „Eins, zwei und Stoß!“

Der Oberkörper des Patienten hob sich nach der Energieentladung einige Zentimeter von der Unterlage ab. Die Kurve am Monitor änderte sich nicht. Der nächste Stoß folgte; diesmal mit höherer Energie. Ebenfalls ohne Erfolg. Dann noch eine und noch eine… Immer wieder höhere Energien wurden abgegeben. Der Oberkörper hob sich bei jedem Stoß von der Unterlage ab.

„Hören Sie auf“, flüsterte der Chefarzt resigniert. Seine Augen blickten ratlos auf den Boden. „Hören Sie auf. Es hat keinen Sinn mehr.“

„Ja, da haben Sie Recht“, antwortete Dr. Schulze ebenfalls resigniert und legte die Paddles auf den Defibrillator.

Aus und Amen. Alle Maßnahmen für die Katz.

Sie hatten den Patienten nicht retten können. So schnell verwandelte sich ein lebendiger Körper in eine Leiche. Ein winzig kleiner Fehler und er verabschiedete sich für immer.

Der blutverschmierte Körper lag nun leblos auf der Liege. Die Haut glänzte eigenartig, flau, unnatürlich.

Die Ärzte schauten mit müden und traurigen Blicken einander. Die Realität kreiste grausam über ihren Köpfen. Es gab kein Zurück mehr. Ihnen blieb nun nur noch ein einziger Schritt:

Die Wunde zuzunähen.


Schatten der Wahrheit

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