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- KAPITEL 6 -

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Iskenderun (Türkei), Juli 2002

Verglichen mit vielen anderen europäischen Flughäfen war der Münchener Flughafen Franz-Josef Strauss, nicht nur sauber, sondern auch bautechnisch ein Meisterstück. Durch die großen Schilder und Wegweiser finden sogar Leute sich zurecht, die bis dahin kaum geflogen waren. Auch die zahlreichen Informationsstände an jeder Ecke brachte immense Hilfe für die Passagiere.

Eine besondere Spezialität stellten die vielfältigen Angebote an Last-Minute-Reisen zu TOP-Preisen und TOP-Konditionen. Hunderte von Schaltern diverser Reisebüros lagen dicht beieinander in den extra hierfür eingerichteten Gängen, die sich Reisemärkte nannten, und verkündeten ihre aktuellsten Reisesonderangebote auf bunten Kärtchen. An manchen Schaltern liefen auf riesigen Monitoren Videofilme von Hotelanlagen und zeigten zufriedene Urlauber am Pool, im Restaurant oder in der Bar.

Eine laute Frauenstimme hallte aus versteckten Lautsprechern. Der schnell und ohne Punkt und Komma heruntergeleierte Text forderte die Passagiere für den Flug TK 431 von München nach Adana auf, sich für den Check-In an den Schalter 24 im Bereich B zu begeben und ihre Flugtickets bereit zu halten. Dieselbe Ansage kam anschließend im mit deutschem Akzent gesprochenen Türkisch, so dass der Text kaum noch zu verstehen war.

Emin saß auf der Bank zwischen zwei älteren Paaren und las in seinem Buch Ethik in der Medizin, das genauso langweilig war wie das Buch Dialektischer Materialismus.

Der Mann mit dem gestutzten Vollbart, rechts von Emin, blickte auf ihn. „Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?“, fragte er aufgeregt. Dabei drehte er seinen Kopf nach rechts und klappte zusätzlich die rechte Ohrmuschel mit der Hand wie eine Parabolantenne nach vorne, um Emins Stimme besser zu hören. Auch seine Frau mit einem einfachen weißen Kopftuch beugte sich nach vorne und hörte zu.

„Die Passagiere nach Adana sollen zu Schalter 24 kommen“, antwortete Emin mit einer kräftigen Stimme, damit der Alte ihn hört. Der Mann behielt aber seine Position bei und starrte ihn unbeirrt mit demselben fragenden Blick an.

„Er hört sehr schlecht, mein Sohn“, sagte die Frau. Von ihrer Oberlippe aus zogen tiefe Falten zur Nase hin, aus denen einige längere Haare wuchsen.

Emin näherte sich dem Mann und wiederholte die Information langsam und laut direkt ins Ohr. Am Ende fragte er den alten Mann, ob er alles verstanden hatte. Der Mann lächelte freundlich und nickte lebhaft mit dem Kopf. Emin erklärte ihm im selben langsamen Rhythmus und in derselben Lautstärke, dass auch er nach Adana flöge und, wenn sie wollten, er sie begleiten könnte. Der Mann harrte einige Sekunden in derselben Position, als würde er sich die Antwort überlegen und die Vor- bzw. Nachteile gegeneinander abwägen. Dann nahm er mit einer schnellen Bewegung Emins rechte Hand und schüttelte sie voller Enthusiasmus mehrmals. Er hatte ziemlich raue, warme Hände. „Gott segne dich mein Sohn! Gott segne dich mein Sohn!“, schrie er laut.

Die Leute drehten ihre Köpfe und schauten mit neugierigen Blicken hin, als fürchteten sie, eine außergewöhnliche Szene zu verpassen. Der Mann schüttelte unbeirrt Emins Hände weiter, bis die Frau ihm einen Klaps auf die Schulter gab und mit einem festen Griff am Unterarm ihn stoppte. „Das reicht Mann! Du brichst dem Herrn noch die Hände!“, sagte sie, woraufhin der Mann sich umdrehte und sie fragte, ob sie etwas gesagt hatte. Die Frau wedelte mit beiden Händen und machte ein Zeichen, dass er sich beruhigen solle. Sie wandte sich zu Emin. „Sprich lieber mit mir mein Sohn. Ansonsten hast du nach fünf Minuten selber keine Stimme mehr und brauchst dann einen Arzt. Und im Flugzeug ist sicherlich keiner.“

Emin lächelte, steckte sein Buch in die braune Aktentasche, stand auf und half dem alten Mann beim Aufstehen. Die Frau stand ebenfalls auf und nahm die drei vollgestopften Plastiktüten, die mit einer dicken Wäscheleine fest umschlungen waren, damit sie nicht aufplatzten. Sie stöhnte unter ihrem Gewicht.

Emin griff nach einer Tüte und wollte ihr helfen. „Gib her Teyze, lass dir helfen“, sagte er zu ihr.

„Danke mein Sohn, bemühe dich nicht. Sie sind eh´ nicht schwer.“

Emin hängte die Aktentasche mit dem Riemen um seine Schulter und nahm gleich zwei Taschen. Als seine Knie unter dem Gewicht beider Taschen kurz nachgaben, stellte er sich automatisch die Frage, was für die alte Frau das Wort nicht schwer wohl bedeutete. Danach ging ihm durch den Kopf, dass die beiden wohl Baumaterial in die Türkei transportierten. Er wunderte sich, wie die beiden diese schweren Taschen im Flugzeug als Handgepäck verstauen wollten.

Die Schlange vor dem Schalter 24 war ziemlich lang. Besonders schlaue Passagiere drängelten sich seitlich hinein. Emin musste die Taschen immer wieder absetzen, um sich zu erholen. Er konnte irgendwann seine Neugier nicht überwinden und fragte die Frau nach dem Inhalt der Taschen.

„Nur ein paar Kleinigkeiten“, antwortete sie.

„Was für Kleinigkeiten, Teyze?“, wollte er genauer wissen, obwohl Neugier seiner Natur widersprach.

„Zwei Töpfe und zwei Bratpfannen. Etwas Waschmittel und Nutella.“

„Töpfe? Bratpfannen?“, wiederholte er völlig perplex und musste unwillkürlich grinsen. „Ihr nehmt sogar Waschmittel mit in die Türkei?“, fragte er dann. Er dachte zuerst, dass er sich verhört hätte.

„Weißt du, mein Sohn? Unsere Enkelin heiratet nächste Woche und sie kriegt die Töpfe und die Pfannen von uns als Hochzeitsgeschenk“, erklärte sie ganz stolz.

„Ahah, ich weiß nun Bescheid“, lachte er und fügte hinzu:

„Und das Waschmittel?“

„Es ist für unsere Nachbarin.“

„Für die Nachbarin“, wiederholte er. „Gibt es denn in der Türkei kein Waschmittel, so dass Ihr es mitnehmen müsst?“

„Doch, doch, mein Sohn. Dieses Waschmittel hat aber Qualität; mit einem Becher kannst du die Wäsche von dem ganzen Dorf waschen. Und es riecht noch dazu gut, wie frische Blumen.“

„Und das Nutella?“

„Das ist für unsere Enkelkinder, Nichten, Neffen und so weiter. Jedes Kind bekommt ein Glas.“

„Und wie viele Gläser sind es, Teyze?“

„Sechsunddreißig!

Sie erreichten endlich den Schalter. Emin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er verbrauchte von der Sitzbank bis zum Schalter eine halbe Packung Taschentücher. Das Paar bekam Sitzplätze in der zwölften Reihe, einen am Fenster und einen in der Mitte. Die Dame am Schalter, eine Brünette mit lockigen Haaren, die nicht unbedingt wie eine Türkin aussah, fragte Emin, ob er zu den beiden gehörte. Er verneinte es und erklärte ihr, dass er ihnen nur beim Tragen der schweren Taschen geholfen habe. Daraufhin bekam er einen Fensterplatz mit einer hohen Zahl. Als er ins Flugzeug kam und seine Bordkarte einer stark geschminkten Stewardess zeigte, erfuhr er, dass sein Platz in der letzten Reihe links war. Das konnte ihm nur recht sein. Dass unter den Fluggästen ein paar Patienten von ihm am Board sein könnten, die ihm die ganze Zeit von ihren Erkrankungen erzählten, war nicht unwahrscheinlich. Er wollte mit niemandem reden, sondern nur ab und zu aus dem Fenster hinausschauen und schlafen.

Beim Abheben spürte er einen Druck in den Ohren und musste immer wieder gähnen und schlucken, woraufhin das unangenehme Gefühl in den Ohren kurzfristig nachließ. Er hatte wieder einmal die Kaugummis, die er extra für den Flug gekauft hatte, zuhause vergessen.

Nachdem die Maschine die vorgesehene Flughöhe erreicht hatte, gingen die Anschnallzeichen mit einem Klingelton aus. Eine Schar von Frauen rannte nach hinten zu den Toiletten, vor denen sich innerhalb weniger Augenblicke eine lange Schlange bildete.

Emin blieb angeschnallt. Der Nachbar, der seinen Bart an beiden Spitzen zu einem Zwirn gedreht hatte, schnarchte bereits. Er hatte nicht einmal seinen Cowboy-Hut abgesetzt. Dieser rutschte ihm nach nicht mal fünf Minuten langsam vom Kopf, fiel auf den Boden und rollte unter die vorderen Sitze. Emin schaute aus dem Fenster und erblickte bizarre Wolkenformationen, die einem Feld aus Baumwolle ähnelten. Ihm fiel seine Kindheit er, wie er jedes Jahr mit der Familie nach Adana zum Baumwollpflücken gefahren war. Sie fuhren mit anderen Familien auf einem überladenen Lastwagen, der bei jeder Unebenheit der Fahrbahn schwankte und zu Kippen drohte. Die Leute schrien dann angsterfüllt mit nach oben gerichteten Händen „Allah.“

Als die Stewardess mit ihrem Essenswagen kam, schlief er bereits. Er träumte von seiner 82-jährigen Tante Müzeyyen, die er lange nicht gesehen hatte. Sie saß in einem weißen Zelt und war splitternackt. Ihr Körper bestand nur aus Haut und Knochen. Ihre Haut war blass und voller Falten. Sie lachte unmäßig laut, so dass ihre Gelächter im Himmel hallten. Vor dem Eingang des Zeltes warteten viele junge Männer in einer langen Schlange. Tante Müzeyyen lachte ununterbrochen. Emin schämte sich und konnte nicht hinsehen. Er hielt mit beiden Händen die Augen zu. Er sprach mit ihr. Seine Stimme klang allerdings eigenartig, so dass er sie selbst nicht erkannte.

„Tante, was wollen diese Männer von dir?“, fragte er.

„Mich wollen sie, mein Sohn, mich.“

„Weswegen wollen sie dich?“, fragte er dann erstaunt.

„Diese jungen Männer wollen meinen Körper haben. Siehst du nicht, wie attraktiv ich bin, mein Sohn?“

„Aber Tante, du bist doch so alt“, beanstandete Emin.

„Eben und das ist das, was diese jungen Männer reizt!“

„Tante, ich kann nicht hinschauen. Komm zieh dich an!“, schrie Emin.

„Nein, nein. Nackt ist viel besser. Hahahaha… So viele Männer, die nur für mich den weiten Weg genommen und hergekommen sind. Hahahahaha…“

„Tante, komm zu dir. Es passt doch nicht zu dir. Du bist nicht so eine Frau. Schick die Männer weg!“

Emin schrie nun noch lauter. Er konnte aber die eigene Stimme nicht hören, als hätte er auf einmal sein Gehör verloren. Ein lautes Knacksen aus den Lautsprechern weckte ihn auf. Er rieb die Augen mit beiden Händen und fühlte sich einige Sekunden lang in einer zeitlosen Leere. Er wusste nicht, wo er war und was er gerade machte.

Das Knacksen aus den Lautsprechern ging weiter und vermischte sich mit einer männlichen Stimme. Der Mann neben ihm schnarchte weiterhin.

Als ihm bewusst wurde, dass er im Traum seine alte Tante splitternackt gesehen hatte, schämte er sich. Schlechtes Gewissen überfiel ihn. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass das Flugzeug im Landeanflug war. Der Druck in den Ohren setzte wieder ein. Er schluckte und gähnte mehrmals. Es gab einen Ruck und die Maschine setzte auf. Die Reifen quietschten.

Das metallische Klicken der Gurte hallte im ganzen Flugzeug, obwohl es noch nicht zum Stehen kam. Eine Stewardess versuchte vergeblich, die Leute zu überreden, ihre Sitze nicht zu verlassen. Keiner beachtete sie. Ihre Stimme ging in dem Lärm der Passagiere unter.

Emin stellte sich in die Schlange vor dem Schalter, auf dem das Schild foreign passengers stand, da er mit seinem deutschen Pass einreiste. Er hatte bereits seit mehreren Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit und musste dafür auf seine türkische verzichten. Vor Jahren schwor er, nie wieder mit einem türkischen Pass in seine eigene Heimat einzureisen, als er damals 200 Dollar für Konut Fonu, ein schön klingender Ausdruck für Ausreisegebühr, zahlen musste.

Die Schlange, in der er stand, bewegte sich wesentlich langsamer, als die anderen. Als er endlich vor dem Zollbeamten stand, legte er seinen Pass mit den aufgeschlagenen Seiten auf den Tresen. Der Beamte, auf dessen Schild Haldun Aksakal - Emniyet Amiri stand klappte den Pass zu, befeuchtete seinen rechten Mittelfinger mit etwas Spucke und blätterte gemütlich darin. Nach der zweiten Seite legte er Emins Pass beiseite und blickte auf. „Du bist doch Türke, oder nicht?“, sagte er auf Türkisch.

„Ich war. Jetzt habe ich aber die deutsche Staatsangehörigkeit“, antwortete Emin.

„Das sehe ich“, sagte der Emniyet Amiri gelangweilt. „Ist die deutsche Staatsangehörigkeit besser als die türkische?“, fragte er dann.

Emin war sprachlos. „Nerven hat der Typ“ dachte er. Er ließ seine Hirnzellen schnell arbeiten und suchte nach einer diplomatisch klingenden Antwort. Er wollte auf keinen Fall diesen Polizeibeamten beleidigen oder etwas sagen, was er als Beleidigung auffassen konnte. „Nein, aber die Umstände zwangen mich dazu“, antwortete er freundlich.

„Welche Umstände denn?“ Immer noch derselbe gelangweilte Ton.

Die Umstände, die dich zu einem verdammten Arschloch der Nation gemacht haben“, hätte er am liebsten geschrien. Er musste sich allerdings beherrschen. „Verzeihung aber, ich dachte, ich bin hier beim Einreiseschalter und nicht auf einem Polizeirevier bei der Vernehmung.“ Emins Stimme klang immer noch freundlich, obwohl er innerlich kochte. Für einige Sekunden ging ihm durch den Kopf, zu dem Vorgesetzten zu gehen und sich über diesen Mitarbeiter zu beschweren. Er wusste jedoch nicht, ob es zu dieser Zeit überhaupt einen Vorgesetzten gab. Wenn nicht, dann hätte er möglicherweise mehr Ärger gehabt.

„Was ärgerst du dich denn? Ich wollte mich mit dir nur paar Sekunden unterhalten!“, beanstandete der Polizist völlig empört und kippelte mit seinem Stuhl hin und zurück.

„Tut mir leid. Ich habe es etwas eilig. Meine Familie wartet draußen“, antwortete Emin ungeduldig und trat von einem Bein aufs andere.

„Arbeitest du in Deutschland?“

„Ja“, sagte er kurz angebunden. Seine innerliche Antwort lautete aber: „Wie soll ich ansonsten zu einem deutschen Pass kommen, du verdammter Wasserkopf?

„Was machst du beruflich?“, wollte der Beamte diesmal wissen.

Emins Nerven lagen blank. „Ich bin doch der neue Zuhälter deiner Frau“, hätte er am liebsten geschrien; „Ich bin Arzt“, flüsterte er dann resigniert.

„Gut, bravo. Das höre ich gerne, wenn einer von uns im Ausland als Arzt arbeitet. Das zeigt, wie fleißig wir Türken sind. Oder?“

Emin schwieg. Der Beamte gab ihm auch nicht die nötige Gelegenheit zu antworten und sprach lieber selber weiter.

„Und, was für ein Arzt bist du?“

„Ich bin Internist“, log er.

„Internist… Also innere Medizin… Das ist ja super. Das finde ich aber wirklich toll!“ Nun lächelte der Beamte zufrieden über das ganze Gesicht und bat ihn, sich kurz zur Seite zu bewegen.

Emin folgte.

Der Polizist stand auf, beugte sich nach vorne und sagte zu den Leuten, die in der Schlange warteten: „Go other queue! Go other queue! Here finish.“ Er wedelte dabei mit der rechten Hand und zeigte auf die Schlange nebenan. Die Leute schauten einander fragend an und wussten nicht, was dieser Beamte damit meinte. Er schimpfte auf einmal auf Türkisch, dass diese blöden Ausländer kein Englisch verstanden. Er bat Emin, den Leuten auf Deutsch zu sagen, dass dieser Schalter ab sofort geschlossen sei und dass sie sich an den anderen Schaltern anstellen sollten. Er übersetzte es und war selbst mehr als überrascht über diese plötzliche Entscheidung des Beamten.

Ein lautes Meckern breitete sich in der Schlange aus, wobei die Leute gezwungenermaßen dem Befehl des Polizisten folgten. Nachdem sich die Schlange vollständig aufgelöst hatte, drückte der Beamte in den Pass von Emin den Einreisestempel auf, steckte ihn allerdings in die Innentasche seiner blauen Uniformjacke. Er kam aus der Kabine heraus und reichte Emin die Hand, die er aus Höflichkeit drückte.

„Doktor Bey, kommen Sie bitte mit.“ Die Stimme des Beamten klang überaus freundlich.

Emin verstand nun absolut nichts mehr. Hatte er einen Fehler gemacht? Bezichtigte man ihn mit einem Vergehen? Wird er jetzt verhaftet werden? Beging er eine illegale Tat, ohne sich dessen bewusst zu sein? Er bekam Angst. Er fühlte eine unangenehme Schwäche in den Beinen, so dass seine Füße mit jedem Schritt unsicherer wurden. Andererseits dachte er an den freundlichen Händedruck des Polizisten. Wieso sollte er einem Gesetzesbrecher die Hand reichen? Das passte nicht zusammen. Abwarten.

Sie betraten einen völlig verrauchten Raum. An der Wand gegenüber der Tür hing ein Porträt des Staatsgründers Atatürk mit einer weißen Fliege. Unmittelbar darunter klebte ein großes Schild, auf dem als Zeichen des Rauchverbots eine mit einem roten X durchgestrichene Zigarette abgebildet war. Unter dem X stand in schwarzer Schrift no smoking.

Emin blickte zuerst auf das Schild und dann auf den Tisch mit dem Aschenbecher, der von Zigarettenkippen überquoll. Zwei schmutzige Plastikstühle standen vor dem Tisch. Der relativ neue Ledersessel an der Wand sah jedoch recht bequem aus. Links neben der Tür fand sich eine Couch mit einem an vielen Stellen verschlissenen, löchrigen Bezug.

Der Polizist schob Emin höflich hinter den Tisch und bot ihm den bequemen Ledersessel an. Er setzte sich immer noch gespannt hin. Der Beamte ließ sich stöhnend ihm gegenüber auf einen der Plastikstühle nieder. „Danke, Herr Doktor, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben“, fing der Sicherheitsbeamte an.

„Ich mache es doch gerne“, log er und bombardierte sein Gegenüber innerlich kreuz und quer mit wüstesten Beschimpfungen, die er bis dahin noch nie benutzt hatte.

„Kann ich Ihnen einen Tee anbieten, Herr Doktor?“ Der Ton war immer noch höflich und zuvorkommend.

„Nein danke, das nächste Mal aber nehme ich es gerne an.“ Emin musste sich einige Male räuspern, damit seine Stimme einigermaßen freundlich klang. Er spürte regelrecht, wie das Blut durch die Halsgefäße rauschte.

„Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe seit vielen Jahren immer wieder hier“, dabei zeigte der Beamte auf die Mitte seines Oberbauches, „Schmerzen und weiß nicht, was ich machen soll. Glauben Sie, dass Sie mir helfen können?“

Emins Körper entspannte sich. Der Krampf seiner Nerven verschwand schlagartig. Die Erleichterung löste bei ihm ein zufriedenes Lächeln. Sein Gehirn setzte allerdings alle möglichen Schimpfwörter unvermindert fort.

„Sind die Schmerzen vor oder nach dem Essen schlimmer?“, fragte er.

„Ich kann kaum noch etwas essen, Herr Doktor, ich habe absolut keinen Appetit mehr“, antwortete der Polizist leidend und verzog dabei sein Gesicht, als könnte er jederzeit losheulen.

„Dafür ...“. Rechtzeitig zügelte er seine Zunge. Beinahe wäre aus seinem Mund der Satz „Dafür bist du aber fett wie eine Sau“ herausgerutscht. Er räusperte sich und klärte seinen Hals. „Dafür...“, wiederholte er, „ich meine, für diese Schmerzen kommt meines Erachtens nur der Magen in Frage.“

„Der Magen? Aber ich habe mit dem Magen noch nie etwas zu tun gehabt“, antwortete der Polizist völlig überrascht, als hätte er eben etwas Unmögliches gehört.

„Das denken Sie. Alles, was Sie mir erzählen, weist auf eine Magenerkrankung hin. Legen Sie sich bitte aufs Bett und ich untersuche Sie.“ Emin stand auf. Er wollte diesen Quälgeist schnell untersuchen und dann noch schneller verschwinden.

Der Beamte benötigte nicht einmal eine Minute, um seinen Oberkörper zu entblößen. Als Emin in die Magengrube drückte, hielt der Beamte Emins Hand fest und schrie „Allah!“

„Sehen Sie? Das ist eben der Magen!“ Er bereute es, nicht mit seinem gesamten Gewicht in die Magengrube gedrückt zu haben, wie bei einer Reanimation.

„Und was mache ich jetzt?“, stöhnte der Beamte weiterhin.

Emin schrieb ihm auf ein Privatrezept, das er für Notfälle stets bei sich trug, ein Medikament zur Reduktion der Magensäureproduktion und riet ihm, das Rauchen nach Möglichkeit aufzugeben, auch wenn der Beamte die Auffassung vertrat, dass zwei Päckchen am Tag seines Erachtens kaum ins Gewicht fielen.

Er eilte zum Rollband für die Gepäckausgabe. Sein Koffer ruhte als einziges Gepäck auf dem mittlerweile abgestellten Transportband. Die Flughafenhalle war fast menschenleer. Er erblickte hinter der Glastür seinen Schwager Mahmut, den Mann seiner ältesten Schwester Hanife, der ungeduldig hin und her ging und nervös alle paar Sekunden einen Blick auf die Armbanduhr warf.

Mahmut, knapp 1.90 und über 100 kg ein ziemlich kräftiger Mann mit einem eckigen Gesicht, stand vor dem Ausgang und war zunehmend davon überzeugt, seinen Schwager Emin verpasst zu haben. Die Anzeige auf der Ankunftstafel war schon längst erloschen.

Als Mahmut ihn doch noch am Gepäckband sah, lächelte er zufrieden, so dass sich sein mächtiges Kinn abflachte. Er näherte sich unter heftigem Winken der elektronischen Glastür, die automatisch aufging. Er blieb unterhalb des Sensors stehen. Die Glastür ging immer wieder auf und zu.

Emin rollte seinen Koffer hinaus, stellte ihn ab und umarmte seinen Schwager. Er staunte über die Kraft in den Armen, die ihn umklammerten. Mahmut war trotz seines Alters mit 72 Jahren nach wie vor stark wie ein Bär. In seinen jungen Jahren nahm er als Profiboxer an vielen nationalen und internationalen Meisterschaften teil. Mahmut packte Emins Koffer mühelos wie eine leere Schuhschachtel und legte ihn in den Kofferraum des silberfarbenen Toyota, der schräg auf dem riesigen Parkplatz stand. Dann hielt er ihm die Beifahrertür auf.

„Und, geht es euch allen gut?“, begann Emin, sobald der Wagen den Parkplatz verlassen hatte.

„Ja, uns allen geht es gut. Und du kommst rechtzeitig zur Beerdigung“, antwortete Mahmut.

„Beerdigung? Wessen Beerdigung?“, fragte Emin erstaunt.

„Deine Tante Müzeyyen ist vor ein paar Stunden gestorben.“

Emin fiel unwillkürlich der Traum im Flugzeug ein. Ihm wurde übel. Ein flaues Gefühl breitete sich aus der Mitte des Oberbauches in beide Richtungen. Hatte der Tod seiner Tante mit dem Traum im Flugzeug zu tun? War das eine Art Telekinese?

Mahmut fuhr auf der neuen Autobahn von Adana nach Iskenderun recht schnell, als wollte er aus dem silberfarbenen Toyota alles herausholen. Er hatte das Fernlicht eingeschaltet und blinkte andauernd, um Autos zu verjagen, die vor ihm auf derselben Spur zu fahren wagten. Wenn es ihm nicht schnell genug ging, überholte er, ohne zu zögern, rechts.

Emin presste sich auf den Beifahrersitz und hielt verkrampft den Griff an der Tür fest, von dem die untere Hälfte fehlte. Er kam sich vor wie der Beifahrer in einem Rennwagen. Er schloss immer wieder die Augen. Im Gegensatz hierzu saß Mahmut entspannt am Steuer und war guter Laune. Er begleitete ein Gesang aus dem Radio über die Sehnsucht nach der wahren Liebe mit einer tiefen Stimme, die alles andere war, als schön. Umso falsch singen zu können und keinen einzigen Ton richtig zu treffen, musste man tatsächlich ein Genie sein.

Emins Herz klopfte wie verrückt aufgrund der riskanten Fahrweise seines Schwagers und die Ohren schmerzten aufgrund seiner Singkünste. Seine Bemühungen, ihn mit Fragen zu einem Gespräch zu bewegen, damit er endlich aufhörte zu singen, scheiterten an Mahmuts leidenschaftlicher Singgewohnheit. Er erinnerte sich an ein Asterix-Heft, in dem Trubadix von den Römern entführt wurde. Auf dem Schiff ruderten die Sklaven erschöpft und lustlos, so dass die Galeere nur langsam vorwärtskam. Da erklärte sich Trubadix bereit, mit einem Gesang die Ruderer zu motivieren. Trubadix sang jedoch so grauenvoll, dass die Sklaven schrien: „Erbarmen! Auch die Sklaven haben Rechte! Wir werden uns bei der Menschenrechtskommission beschweren!“

Nach einer Fahrt von knapp zwei Stunden erreichten sie Iskenderun, die Stadt, in der Emin aufwuchs, mit seinem bogenförmigen Kai. Die blaue Farbe des Mittelmeers wirkte entspannend. Weiße ovale Strukturen glitzerten unter der strahlenden Sonne, als würden Fische der Reihe nach hochspringen, um danach gleich wieder im Wasser zu verschwinden. Einige Handelsschiffe und ein graues Marineschiff mit vielen sich drehenden Radarantennen lagen ruhig im Meer.

Auf der linken Seite erstreckte sich wie ein Schutzschild das Amanosgebirge, ein Arm des Taurusgebirges. Es hatte im mittleren Bereich einen massiven Spalt, durch den orkanartige Stürme tobten und das Stadtleben immer wieder lahmlegten. Diese Winde bezeichneten die Einheimischen als Yarikkaya firtinasi, der Sturm des gespaltenen Felsen.

Emins Herz klopfte schneller. Ihn überkam ein Gefühl der Sehnsucht nach der Stadt, in der er viele Jahre verbracht hatte. Gute und schlechte Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf und er musste immer wieder feststellen, dass er diese Stadt liebte.

Sie fuhren an der mächtigen Eisen- und Stahlfabrik vorbei, die mit ihren Drahtzäunen und Wachttürmen eine eigene Stadt bildete. Aus den Essen stiegen Dampfwolken in verschiedenen Grautönen empor und hüllten die Gegend in einen unangenehmen Geruch. Auch wenn die Fabrik der Stadt Tausende von sicheren Arbeitsplätzen bot, zerstörte sie das idyllische Bild der Stadt.


Emin stand in der Wohnung seiner Schwester hinter dem Fenster und betrachtete den dunklen Himmel mit Hunderten von Blitzen und erschreckend lautem Donnern. Früher glaubte seine Mutter an solchen Tagen an das Ende der Welt bzw. an den nahenden jüngsten Tag. Als Kind machte er sich lustig über den Aberglauben seiner Mutter. Nachdem ein solches Ereignis vorbei war, fragte er seine Mutter halb ernst und halb im Spaß, wo der jüngste Tag schon wieder geblieben war. Seine Mutter sprach dann von „Vorboten“ für die bald zu erwartenden Ereignisse.

Er erinnerte sich an sein Staatsexamen in München. Es regnete damals auch so heftig. Die Straßen standen unter Wasser. Und dann schien doch noch die von den Münchnern lang ersehnte Sonne und vertrieb im Nu die depressive Verstimmung. Er dachte an seine Kollegen. Was machten sie jetzt? Was ist aus denen geworden?

Stefan Mehring, das Genie, hatte sich mit Sicherheit schon längst habilitiert und arbeitete nun irgendwo als Chefarzt einer Universitätsklinik.

Tino hatte sich wohl bei erster Gelegenheit niedergelassen und arbeitete nun in eigener Praxis mit einem direkten Zugang zu einem separaten WC, das nur er benutzen durfte.

Und Tanja? Vielleicht stand sie jetzt in der Küche hinter dem Herd und kochte für ihre Kinder. Wie viele Kinder mochte sie wohl haben? Tanja als Mutter; das konnte er sich wahrlich nicht vorstellen.

„Magst du einen Tee?“.

Er wurde von der Frage seiner Schwester aus dem Traum in die Realität geholt. Sie hatte in den letzten Jahren deutlich an Gewicht zugelegt und bekam starke Arme. Ihre grau melierten, in der Mitte gescheitelten schulterlangen Haare waren dünn geworden. An manchen Stellen sah man die Kopfhaut. Ihre Augenbrauen waren immer noch kräftig.

„Ja, gerne“, antwortete er, ohne sich umzudrehen. „Aber bitte nicht stark. Den starken Tee vertrage ich nicht mehr.“

„Zucker?“

„Nein danke, ich bin süß genug.“ Er drehte sich um und betrachtete seine Schwester und wartete auf ihre Reaktion.

„Wieso müssen alle Ärzte so eingebildet sein?“, fuhr sie ihn halb ernst an.

„Ich bin doch nicht eingebildet“, verteidigte er sich und schürzte die Unterlippe, um ein Grinsen zu unterdrücken. Zusätzlich fuhr er mit beiden Händen durch die Haare und tat so, als wollte er sie in Ordnung bringen.

Hanife stand breitbeinig vor ihm, beide Hände auf der Taille aufstützend, und musterte ihren Bruder mit prüfenden Blicken. „Bist du ein Arzt, oder nicht?“, fragte sie dann.

„Natürlich bin Arzt“, bestätigte Emin überrascht und überlegte, was sie mit dieser Frage bezweckte.

„Dann bist du eingebildet!“, stellte sie fest. Einfach so. Kurz und bündig.

Er gab sich geschlagen. Er sah keinen Sinn darin, das Gespräch weiterzuführen. Er hob resigniert beide Hände hoch. „Dann muss ich wohl zugeben, dass ich eingebildet bin“, antwortete er und fragte sie, ob sie Hilfe benötigte.

„Wobei denn?“

„Egal, wobei. Beim Tragen der Teetassen, zum Beispiel.“

„Siehst du? Du bist doch eingebildet; genau wie ich es bereits gesagt habe. Du denkst, dass deine Schwester, nur weil sie schon über 60 ist, nicht in der Lage ist, zwei Teetassen zu tragen.“

„Sag´ mal, willst du mich ärgern oder was?“ Er war nun unsicher. Machte sich seine Schwester über ihn lustig? Oder bedrückte sie ein Problem, über das sie nicht offen zu sprechen wagte?

Sie kam näher, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Mein kleiner Bruder“, sagte sie freundlich und lächelte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert. Kannst du dich erinnern, wie leicht ich dich zum Heulen bringen konnte? Wir haben uns immer wieder über dich lustig gemacht und du bist jedes Mal hereingefallen. So wie jetzt.“

Auch er umarmte sie sanft und flüsterte ihr ins Ohr: „Du, böses Weib.“

Die Melodie der Klingel imitierte das Gezwitscher eines Kanarienvogels, der fröhlich herum trillerte. Die Klingeln mit diversen Melodien waren zu der Zeit in der Türkei ein Novum. Maunzen einer Katze oder Bellen eines Hundes oder ein Lied… alle möglichen Melodien. Das Zwitschern eines Kanarienvogels war allerdings der Renner schlechthin.

„Das muss Aysel sein“, sagte Hanife zu beiden und drehte sich dann zu ihrem Mann um. „Worauf wartest du denn? Geh und hilf doch deiner Tochter. Der Lift funktioniert, wie immer, ausnahmsweise wieder nicht. Den Kinderwagen brauchst du nicht hoch zu tragen.“

„Wird er nicht geklaut?“, fragte Mahmut.

„Das glaube ich nicht“, antwortete Hanife.

Mahmut zog schnell seine Schuhe an und lief heraus, ohne sie zuzubinden, während Hanife länger auf den Türöffner drückte.

Der Lift funktionierte tatsächlich nicht. Mahmut war froh darüber, dass er nur zwei Stockwerke zu laufen hatte. Ihm taten die Nachbarn aus dem achten Stock leid.

Aysel kam kurzatmig die Treppen hoch. Dabei stützte sie mit beiden Armen die Hüften. Sie hatte deutlich Übergewicht. Durch die enge Bluse konnte man die Konturen ihrer mächtigen Brüste erkennen, die bei jeder Bewegung locker hin und her wackelten. Durch die kurzen glatten Haare wirkte das runde Gesicht noch runder.

„Hallo, Onkel“, sagte sie jubelnd und fiel ihm in die Arme. Sie umarmte ihn fest und zog ihn zu sich. Emin wollte zwar auch dasselbe tun, hatte allerdings Angst, dass er aufgrund der Größe ihrer Brüste ihr wehtun könnte. Er fühlte zwischen seinen Händen ihre weiche Masse, als drückte er gerade ein Kopfkissen mit Daunenfüllung zusammen. Sie gab ihm auf beide Wangen einen Kuss und musste sich dafür auf die Fußspitzen stellen.

„Sei gegrüßt, junge Mama“, antwortete Emin und erwiderte ihre Küsse auf die Wangen. Er sah auf ihrem Gesicht einige Sommersprossen, an die er sich nicht erinnern konnte.

„Du siehst aber toll aus“, log er.

„Du erst recht“, antwortete sie. „Und hübsch, wie immer. Ich würde vor Stolz explodieren, wenn ich nur ein Zehntel deiner Schönheit hätte“, schmeichelte sie.

„Komm, komm, du willst nur hören, dass du die Allerschönste bist. Das nennt man fishing for compliments. Wo ist dein Putzibub?“

Mahmut überreichte ihm das kleine Baby mit den schwarzen, flauschigen Haaren, das an seinem übergroßen Schnuller nuckelte. Das Baby beäugte ihn misstrauisch und überlegte anscheinend, ob es vorsorglich weinen sollte. Emin legte es auf seinen linken Arm und streichelte mit dem Zeigefinger sanft die Wangen. Der Gesichtsausdruck des Babys änderte sich nicht. „Das ist aber ein Prachtbursche“, sagte er zufrieden.

„Das stimmt, Onkel“, antwortete Aysel. „Bei der Geburt wog er knapp über vier Kilo und war 56 cm groß. Er ist der Stolz der Familie.“

„Da kannst du wirklich stolz auf ihn sein“, bestätigte Emin, „er ist der süßeste Bursche, den ich je gesehen habe.“

„Hat meine Mutter dir seinen Namen verraten?“, fragte Aysel.

„Nein“, antwortete er, „sie wollte, dass du es mir verrätst.“

„Er heiiiiissssst… E… m…. i…. n!“, schrie Aysel und sprang dabei in die Luft. Alles an ihr schwabbelte. „Du bist der Stolz unserer Familie. Wir haben ihn nach dir benannt, damit auch er, hoffentlich unser zweiter Stolz wird. Nach dir natürlich!“

„Das ist er jetzt schon. Und danke! Das ist für mich wirklich eine große Ehre. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, antwortete er verlegen. „Er braucht aber einen zweiten Namen, damit man uns voneinander unterscheiden kann“, fügte er hinzu. Dabei drückte er den Kleinen fester an sich und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn, so dass nur die Spitzen seiner Lippen die Haut berührten. Der Kleine fing an zu brüllen und sein Schnuller fiel im hohen Bogen auf den Boden.

„Der hat aber eine Stimme“, jammerte Emin und gab das Baby umgehend der Mutter zurück.

„Das ist noch gar nichts. Wenn er wütend ist, dann werden wir alle ratlos und wissen nicht, wie wir ihn beruhigen können“, antwortete Aysel und wiegte ihn mit beiden Armen.

„Wenn ich mich recht erinnere, lieber Onkel“, sprach sie weiter“, heißt du eigentlich Emin-Can.“

„Das stimmt“, bestätigte Emin.

„Und der Kleine heißt mit dem zweiten Namen nicht Can, sondern Ali. Also er heißt Emin-Ali Sari. Somit kann man euch beide nicht verwechseln.“

Hanife hob den Schnuller, ging in die Küche und wusch ihn. Sie trocknete ihn nicht, so dass einige Tropfen an ihm hingen, und steckte ihn in den offenen Mund des Kleinen. Emin-Ali beruhigte sich sofort und nuckelte eifrig weiter.

„Sag´ mal, stinkt er?“, fragte Hanife ihre Tochter.

Aysel hob das Baby hoch und schnüffelte an seiner Windel und verzog das Gesicht. „Puuhhh, Du stinkst tatsächlich, Bub“, sagte sie zu ihm. „Komm´ ins Bad, damit du endlich wieder sauber bist. Was denkt der Onkel Emin über dich. Er wird überall erzählen, dass du ein Stinki bist.“

Aysel und ihre Mutter gingen mit dem Baby ins Bad, das am Ende des Flurs lag. Die Badewanne ließ Mahmut später installierten. Er kam sich stets wie ein König vor, wenn er in der Badewanne lag und die Bewegungen der Schaumkronen beobachtete. Oft dachte er dabei an eine Zigarre, so wie in den alten Western. Da er aber das Rauchen hasste, konnte er sich diesen Wunsch nicht erfüllen.

Emin nahm seinem Schwager gegenüber auf dem Ledersessel Platz. Das ursprüngliche Gelb sah an manchen Stellen grau aus. Er dachte an einen kleinen Spaziergang an der Strandpromenade, die seit Jahren gleich aussah. Die Palmen, das blaue Wasser, die Teegärten… immer wieder schön. Er konnte allerdings nicht einfach verschwinden, gerade wenn seine Nichte mit ihrem Sohn extra aus Antakya gekommen war, ihn zu sehen.

Mahmut warf auf Emin einen Blick und grinste gelassen. Er tat so, als würde er versuchen, mit ihm einen Dialog anzufangen. In der Wirklichkeit jedoch las er mit einem Auge in der auf dem Beistelltisch aufgeschlagenen Zeitung Hürriyet. Die fettgedruckte Schlagzeile lautete: Nahost: Das Land der Attentate. Die Palästinenser hatten wieder einen Anschlag auf einen Schulbus verübt, bei dem zwei Kinder ums Leben gekommen und mehrere verletzt worden waren. Im Gegenzug bombardierten die Israelis mehrere palästinensische Orte und töteten sechs Menschen, die zu der Gruppe der Hamas gehören sollen.

Emin hielt es nicht aus. „Was sagen denn die neuen Nachrichten in der Zeitung?“, fragte er.

Mahmut rückte sofort seine Lesebrille zurecht und nahm die Zeitung in die Hand. „Immer dasselbe“, antwortete er kopfschüttelnd. „Zumindest im Nahen Osten.“

„Wieso, was gibt es denn dort“, fragte Emin nach.

„Wieder neue Anschläge, wieder neue Tote auf beiden Seiten. Sie dezimieren sich gegenseitig, bis sie irgendwann zu den vom Aussterben bedrohten Lebewesen erklärt werden, wie Wale oder Elefanten“, meinte Mahmut.

„Da hast du völlig recht“, pflichtete Emin ihm bei.

„Weißt du, was ich nicht verstehe?“

„Was denn?“, wollte Emin wissen.

„Dass sie, die Israelis und die Palästinenser, nicht in der Lage sind, einfach den Frieden herzustellen. Sie leben im selben Ort, haben womöglich denselben Stamm, das heißt, wohl ethnisch verwandt, sind jedoch wie Katz und Hund zueinander.“

„So leicht ist es nicht, wie es aussieht, Schwager“, monierte Emin. „Es sind ja nicht nur die Israelis oder die Palästinenser. Dahinter stecken viele Nationen, die ihren Nutzen davon haben. Krieg bedeutet immer Verlust und Gewinn. Verlust für die am Krieg teilnehmenden Nationen und Gewinn für die Nationen, die ihren Profit davon haben und ihre Waffen verkaufen. Geld gegen Menschenleben. Und das ist ein sehr rentables Geschäft. Stell dir vor, es gäbe auf der Welt keine Kriege mehr; was würden dann die Länder, deren Wirtschaft fast nur von der Waffenindustrie lebt, machen?“

„Du verwechselst Birnen mit Äpfeln, lieber Schwager“, entgegnete Mahmut mit der Stimme eines Lehrers, der mit der Antwort seines Schülers unglücklich war.

„Das musst du mir aber erklären. Ich kann dir nicht richtig folgen.“

„Wir reden hier vom Frieden und nicht von der Wirtschaft“, betonte Mahmut.

„Hängen sie nicht voneinander ab? Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch den Leuten gut und damit herrscht Frieden.“

„Vernunft brauchen wir, mein lieber Doktor, Vernunft!“ Mahmut hob seinen rechten Zeigefinger hoch und bewegte ihn ermahnend vor und zurück.

„Sprechen Sie weiter, Herr Professor Politikus“, neckte Emin.

„Da hast du Recht. Ich müsste eigentlich Politiker sein. Wenn ich diese Hohlköpfe anschaue, die nicht einmal zwei und zwei miteinander addieren können und uns irgendeinen Schwachsinn vorgaukeln, dann wundert es mich nicht, dass fast alle Völker der Erde die Nase voll haben, so dass sie kaum noch an den Wahlen teilnehmen. Ich dafür, und das behaupte ich mit Leib und Seele, könnte einiges bewegen.“

„Tu´ dir doch keinen Zwang an. Fang damit jetzt gleich an. Dir gegenüber sitzt der erste Vertreter deiner Wählerschaft.“

„Auch wenn ich in deinen Worten etwas Sarkasmus wittere, erkläre ich es dir. Höre mir richtig zu. Das gesamte Gebiet, damit meine ich, das Gebiet von den Israelis und Palästinensern, bekommt einen neuen Namen. Sagen wir Isralästina. Beide Gruppen bilden ein Parlament, das zur Hälfte aus Israelis und zur anderen Hälfte aus Palästinensern, also fifty - fifty, besteht.“

„Ich höre“, unterbrach ihn Emin, um zu betonen, dass er ihm tatsächlich zuhörte.

„Dieses Fifty-Fifty-Parlament wählt ein Ministerkabinett nach demselben Fifty-Fifty-Prinzip und einen Vorsitzenden, der nach einer Rotation von nur einem Jahr einmal ein Israeli und einmal ein Palästinenser wird. Auch die Ministerämter werden im selben Rhythmus ausgetauscht.“

„Sprich weiter“, griff Emin erneut ein.

„Jede Entscheidung bedarf der Mehrheit des Parlaments.“

„Das würde es nie geben!“, monierte Emin, „denn es würde immer ein Patt geben.“

„Du bist aber ein ungeduldiger Schüler. Lass mich doch aussprechen, ich bin noch nicht fertig.“ Mahmut hob seine rechte Hand und machte das Stoppzeichen. „Ein internationales Friedenskomitee bewacht im Sinne eines international eingerichteten Gerichtes dieses Parlament. Und dieses Friedenskomitee erhält ebenfalls ein Stimmrecht. Ich betone es, nur ein Stimmrecht. Dies allerdings nur für den Fall, wenn es bei der Entscheidung zu einem Patt kommt. Irgendwann müssen beide Seiten wohl oder übel lernen, miteinander auszukommen und selbst über ihr neues Land zu entscheiden, so dass sie dann nicht mehr auf dieses internationale Komitee angewiesen sind.“

Emin überlegte und ließ das Ganze durch den Kopf gehen. „Eine interessante Theorie“, bestätigte er dann. „Es könnte funktionieren.“

„Was heißt, es könnte funktionieren? Es muss einfach funktionieren“, schrie Mahmut und haute dabei auf den Tisch.

In dem Augenblick kamen Hanife und ihre Tochter Aysel herein. Das Baby war in ein Badetuch eingewickelt, so dass man nichts von ihm sah. Aysel legte den Kleinen aufs Sofa und rieb mit dem Tuch weiter, damit er überall trocken war. Emin beobachtete seinen Namensvetter Emin-Ali stolz. Aysel legte eine Windel hin und hob das Baby an den Beinen, so dass der Po in der Luft schwebte, und schob die Windel darunter.

„Was ist denn das?“, rief Emin plötzlich.

Schatten der Wahrheit

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