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- KAPITEL 2 -
ОглавлениеMünchen, Mai 1992
Seit vier Tagen regnete es in München andauernd. Der für Mai gewöhnliche Niederschlag überstieg alle bisherigen Messungen sowohl von der Menge als auch von der Dauer her, so dass die trüben Wassermassen mancherorts auf den Straßen knöcheltiefe Pfützen bildeten.
Der Verkehr kam immer wieder zum Erliegen. Die S- und U-Bahnen fuhren nur noch mit Verspätungen. Die allradgetriebenen Geländewagen eroberten die Straßen. Ihre Besitzer kurvten stolz herum und ließen bei jeder Möglichkeit das Wasser in der Pfütze in hohen Bögen herumspritzen.
Am Dienstag hörte der Regen um fünf Uhr in der Früh schlagartig auf und die Wolken zogen innerhalb weniger Minuten weiter, als hätte jemand sie verschreckt. Der Himmel klärte auf und die ersten Sonnenstrahlen erreichten die Stadt mit hohen Temperaturen, so dass innerhalb von zwei Stunden sämtliche Straßen trocken waren. Eine diffuse Dunstwolke stieg von den Straßen empor.
Das Leben auf den Straßen kehrte langsam zum Alltagsrhythmus zurück.
Emin-Can Kayahan, eine Kommilitonin und zwei Kommilitonen standen in ihren schwarzen Anzügen mit Nadelstreifen vor der Tür der Prüfungskommission und warteten auf Einlass. Alle zitterten; nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung.
Da sich die Wetterlage rapide änderte und die Sonne mit ihren wohligen Strahlen die depressive Verstimmung der Leute vertrieb, hofften sie natürlich auf die gute Laune der Prüfer. Ungemütliches Wetter bedeutete für sie ungemütliche Prüfer.
Zwölf Semester lang hatten sie fleißig gelernt, mehrere Praktika und Klausuren erfolgreich absolviert und standen sie nun vor der letzten Hürde. Das medizinische Staatsexamen. Wer es schaffte, erhielt die Lizenz, sich als Arzt zu bezeichnen.
Das Wissen des sechs Jahre dauernden Medizinstudiums ruhte in den Köpfen der vier Prüflinge wie in einem Käfig und wartete ungeduldig auf den Moment der Befreiung. Als jedoch der Name des Prüfers in der Inneren Medizin bekannt gegeben wurde, schauderten sie angsterfüllt am ganzen Körper. Eigentlich wäre ihnen jeder Prüfer recht gewesen. Jeder Prüfer? Nein! Bis auf einen: Professor Hans Georg Nelson. Professor Nelson galt bei allen Studenten als Scheusal, als einen Mann ohne Herzen, ein Vampir. Man erzählte, dass alleine bei Erwähnung seines Namens jeder Fluss sofort gefrieren würde.
Nelson stellte, und das gerade in der letzten Prüfung des Studiums, die kniffligsten Fragen und ließ die Prüflinge gerne zappeln. Es bereitete ihm jedes Mal eine Freude zu sehen, unter welcher Last der Prüfling seine Fragen zu beantworten versuchte. Er war päpstlicher als der Papst und akzeptierte absolut keinen Fehler. Für ihn gab es keine so genannten kleinen Fehler. Denn für ihn könnte jeder Fehler in der Medizin gravierende Folgen für den Patienten haben.
Mit 36 Jahren war Tino Werner der Älteste der vier Prüfungskandidaten. Der hervortretende Unterkiefer und die einem Papageienschnabel ähnelnde Nase waren seine markantesten Zeichen. Als er den Namen Nelson hörte, stand er kurz vor einem Kollaps. Er rannte schnell auf die Toilette und übergab sich zweimal. Als er aus der Toilette herauskam, schien er, innerhalb von einigen Minuten um Jahre gealtert zu sein. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn sahen wie kleine Perlen aus. Er wischte sie vergeblich mit dem Taschentuch. Sobald er das mit seinen Initialen T. W. bestickte Tuch in seiner Hosentasche verschwinden ließ, schossen neue Schweißtropfen wie Pilze aus dem Boden.
„Ich glaub´, ich muss wieder aufs Klo“, sagte er zu seinen Kollegen, die nachdenklich auf einer Bank saßen und mit nach vorne gebeugten Köpfen den Linoleumboden betrachteten.
„Mensch, hör doch auf mit deinem Schmarr´n“ schimpfte Tanja Hofmeister, die einzige Studentin in der Gruppe, mit ihrem bayerischen Dialekt. „Du machst uns alle nur noch nervöser!“
Tanja war 29 Jahre alt und kam ursprünglich aus dem Allgäu. Sie lebte mit ihrer Familie seit über 10 Jahren in München Schwabing in einem Einfamilienhaus. Eine Schönheit war sie zwar nicht, aber ihre blauen Augen und ihre glatten blonden Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten, machten sie attraktiv.
„Ich kann doch nichts dafür“, antwortete Tino leise. Er schob dabei sein Unterkiefer vor und zurück und erzeugte dabei ein unangenehmes Knacksen in den Kiefergelenken.
„Dann geh halt aufs Klo und lass uns in Ruh´“, erwiderte Stefan Mehring, der jüngste und mit 165 cm auch der Kleinste der Gruppe. Da er im Gymnasium zwei Klassen übersprungen hatte, galt er als Genie und trat bereits mit 23 Jahren die ärztliche Prüfung an. Stefan kannte den Ausdruck Prüfungsangst nicht. Für ihn gehörte die Prüfung, egal welcher Art, einfach zur Lebensaufgabe. Er verfügte über ein Gehirn, das einer unerschöpflichen Videokamera ähnelte. Texte, Bilder, Fakten blieben bei ihm mühelos haften und warteten auf ihren Gebrauch.
Obwohl Emin sich in dieses Gespräch nicht einmischen wollte, brachte er ungewollt ein „und bleib bitte auch dort!“ heraus.
Er bereute es allerdings sofort, da er seinen Kommilitonen, gerade an diesem für alle sehr schwierigen und entscheidenden Tag, auf keinen Fall kränken wollte.
Emin bekam sofort die Zustimmung von Tanja, die es mündlich und mit einem deutlichen Kopfnicken bestätigte.
Tino ärgerte sich über die beiden. „Ihr macht euch nur lustig über mich, weil ich von euch allen der Älteste bin“ sagte er wütend und lief Richtung Toilette, ohne auf Antwort zu warten.
Just in dem Moment, in dem Tino aus der Toilette kam, ging die frisch gestrichene Tür des Prüfungsraumes auf und Professor Sebastian Köhler, der Chirurg, trat heraus. Seine Glatze ging stufenlos in sein gründlich rasiertes Gesicht über. Er lächelte und ging auf die künftigen Ärzte zu. Tanja, Stefan und Emin standen sofort auf. „Wo ist denn der vierte Kollege?“ fragte er höflich.
Alle drei drehten, wie einem Kommando folgend, ihre Köpfe in Richtung der Toilette. Tino kam angelaufen. Seine Stirn war erneut von mehreren Schweißtropfen bedeckt. „Ich bitte um Entschuldigung, Herr Professor“, sagte er mit einer röchelnden Stimme und atmete voller Panik wie ein Asthmatiker, der gerade mit einem Asthmaanfall zu kämpfte.
Köhler gab seine Hand zuerst Tanja und begrüßte sie freundlich. „Grüß Gott, mein Name ist Sebastian Köhler und Sie sind, wenn ich mich nicht täusche die Kollegin Frau Tanja Hofmeister."
Tanja nahm seine warme Hand, die auf sie beruhigend wirkte.
Nach der Begrüßung der restlichen Kandidaten, kontrollierte Köhler ihre Personalausweise und bat sie, ihm zu folgen. Der Prüfungsraum war geräumig. Die Sonnenstrahlen reflektierten auf mächtige Ölgemälde mit goldenen Rahmen und ließen die netzartigen Krakelees auf der Oberfläche deutlicher erscheinen. An der Fensterseite stand ein langer Tisch, auf dem, wie in einem Gericht, haufenweise Akten stapelten. Es handelte sich hierbei jedoch nicht um Strafdossiers, sondern um medizinische Unterlagen, wie Patientenberichte, EKGs, Röntgen- und Ultraschallbilder.
Als die Prüflinge die an der rechten Ecke des Tisches regungslos sitzende Gestalt erkannten, stieg ihnen eine Übelkeit auf, als hätten sie am Abend zuvor ein verdorbenes Fischgericht gegessen, das schon längst entsorgt gehörte. Sie folgten der Aufforderung Köhlers und nahmen Platz. Köhler räusperte sich zweimal und begann mit seinem unverändert freundlichen Ton zu sprechen: „Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrte Herren Kollegen, ich darf Ihnen zuerst meine beiden Kollegen vorstellen, die Sie sicherlich aus den Vorlesungen kennen. Wir werden versuchen, mit Ihnen ein möglichst lockeres und kollegiales Gespräch zu führen."
Obwohl Köhlers Stimme ziemlich beruhigend klang, spürte Tino erneut einen Druck in der Blasengegend und begann, im Sitzen abwechselnd einmal mit dem rechten und dann mit dem linken Bein zu wackeln.
„Zu meiner rechten“, fuhr Professor Köhler fort, „sitzt Herr Professor Nelson von der internistischen Klinik. Zu meiner linken sitzt Herr Professor Höfele von der Kinderklinik. Der Gesetzgeber schreibt mir vor, Sie zu fragen, ob Sie sich geistig und körperlich imstande fühlen, an diesem kollegialen Gespräch teilzunehmen.“ Das Nicken der Prüflinge mit dem Kopf reichte Professor Köhler nicht. Daher fragte er jeden Kandidaten einzeln der Reihe.
„Herr Kollege Kayachan“, begann Professor Nelson und drehte einen Bleistift geschickt zwischen den Fingern. Er fixierte Emin mit seinen durchdringenden Blicken, der plötzlich schauderte, als hätte ihn eine Kältewelle überrascht. „Spreche ich Ihren Namen richtig aus?“, fragte er mit einem nichts sagenden Ton.
„Ähm, eigentlich heiße ich Kaya-Han“ antwortete Emin und versuchte dabei die Betonung auf das H zu legen. Seine Stimme klang ängstlich und unsicher. Das brutale Vorgehen Professor Nelsons vor allem in den ärztlichen Prüfungen gehörte bereits in den ersten Semestern zu den wichtigsten Gerüchten der medizinischen Fakultät. Er spürte, wie ein Kloß ihm den Hals zuschnürte.
„Das sage ich doch: Kayachan!“ erwiderte Nelson im selben gleichgültigen Ton. Seine Gesichtsmimik verriet nichts. Dafür fixierten seine aschfahlen Augen den vor ihm sitzenden Studenten, wie bei einem Hypnotiseur, der sein Gegenüber nur innerhalb von einigen wenigen Sekunden zum Schlafen bringen wollte.
„Kaya-Han und nicht Kaya-Chan! H wie Hamburg oder Heinrich“ entgegnete Emin und hüstelte, um seine belegte Kehle frei zu machen. Er deutete mit seinen Lippen ein leichtes Lächeln an und schaute dabei Nelson in die Augen. „Gott, lass bitte, bitte diese Wachsfigur schmelzen“, betete er innerlich. Seine Angst wurde größer, als ihm der Gedanke kam, dass Professor Nelson eventuell sogar Gedanken lesen könnte.
„Also, Kaya-Chan… wie Hamburch", wiederholte Nelson und wirkte genervt.
In Emins Kopf läuteten die Glocken. Nelson machte sich sicherlich über ihn lustig, damit er später seine Krallen umso tiefer in sein Fleisch hineinbohren konnte. Was konnte er von einem dermaßen gefürchteten Prüfer erwarten, als im Nu in Rage zu geraten und einen Wutanfall zu bekommen? Er merkte, wie sein Bein zu zittern begann. Nun begriff er, welche Todesängste Tino vor den Prüfungen auszustehen hatte.
Eine Minute… zwei Minuten… drei… die Zeit verging. Wo blieb der Wutanfall? War es überhaupt möglich, dass Nelson einfach dasaß und Emin in die Augen schaute?
Nanu? Bildete Emin sich nun ein, dass er auf dem Gesicht des Professors den Anflug eines Lächelns entdeckte?
„Kaya-Ch-Ch-Chan“, flüsterte der Prüfer wieder und wieder, als führte er Selbstgespräche. Nun wusste Emin es. Tatsächlich, er lächelte. Professor Nelson lächelte. Welch Wunder?
„Sie sehen, Herr Kollege Nelson, Türkisch ist doch nicht so leicht wie die Innere Medizin“, griff plötzlich Professor Köhler ein und lachte heiter. Daraufhin lachte auch der Kinderarzt Professor Höfele und nickte heftig mit dem Kopf, als sprach er aus Erfahrung. Nelson drehte langsam seinen Kopf zu Höfele. „Und, was meinen Sie Herr Höfele, was leichter ist, Türkisch oder die Kinderheilkunde?“
„Türkisch natürlich“, antwortete Höfele ohne zu zögern, als hätte er bereits mit dieser Frage gerechnet.
„Dann sagen Sie uns bitte, wie der junge Kollege heißt“, forderte ihn Nelson und bedeckte mit der rechten Hand die Augen, als würde Höfeles Antwort ihn jede Sekunde blenden könnte.
Emin musste seinen Namen einige Male wiederholen. Er kam sich wie eine Schallplatte vor, die hing und nur noch den Refrain spielte. Es schien für die Herren Professoren tatsächlich schwierig zu sein, Emins Familiennamen richtig auszusprechen.
Professor Köhler schob den Ärmelbund um einige Zentimeter nach oben, und blickte demonstrativ auf seine wasserdichte Uhr. „Meine Herren, aufgrund der bereits fortgeschrittenen Stunde, darf ich Sie bitten, Ihre Diskussion über Hamburg oder Hamburch auf das Ende dieses Kollegiums aufzuheben“, intervenierte er dann, immer noch auf die Uhr schauend, und unterbrach somit die Diskussion zwischen den Nelson und Höfele. Er hielt kurz inne und fuhr dann fort. „Allerdings möchte ich Sie gerne darauf aufmerksam machen, dass die jungen Kollegen nun deutlich im Nachteil sind. Sie sitzen seit über einer halben Stunde angespannt hier und warten auf das Ende Ihres linguistischen Wettbewerbs. Und dass jeder Stress bzw. jede Anspannung die Konzentrationsfähigkeit unserer jungen Kollegen negativ beeinflusst, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Daher bitte ich Sie, dieses Gespräch dementsprechend zu gestalten.“
Diese Intervention nahm anscheinend Nelson die Luft aus den Segeln und rettete die Prüflinge vor einem möglichen Desaster. Die als kollegiales Gespräch bezeichnete Prüfung verlief in einer völlig entspannten Atmosphäre, so dass sogar der Angsthase Tino die Fragen bedacht und mit Überzeugung beantwortete. Er vergaß den Druck in der Blasengegend.
Nach eineinhalb Stunden war die Prüfung gelaufen. Alle vier Prüflinge schlugen sich tapfer und gaben ihr Bestes. Um sich über das Ergebnis zu beraten, entließen die Professoren die Prüflinge. Tino rannte sofort auf die Toilette, da ihm auf einmal einfiel, dass er bereits vor eineinhalb Stunden einen Druck in der Blasengegend gespürt hatte. Tanja und Emin setzten sich wieder auf die Bank, die ihnen nun zu klein zu sein schien. Stefan ging zum Fenster, machte es auf und genoss die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.
Nach etwa fünf Minuten ging die Tür des Prüfungsraumes auf und Professor Köhler erschien in der Türschwelle. Ihm fiel wieder auf, dass der vierte Kandidat fehlte. „Sagen Sie bloß nicht, dass der vierte Kollege wieder auf der Toilette ist“, sagte er schmunzelnd.
Alle Gesichter blickten in Richtung der Toiletten. Emin stand auf und machte zwei Schritte, um nach Tino zu sehen. Die Toilettentür ging dann doch noch auf und Tino kam heraus. Als er sah, dass Köhler und seine Mitstreiter auf ihn warteten, rannte er los. Er blieb kurz vor dem Professor stehen und entschuldigte sich mehrmals bei ihm.
„Wie wäre es, Herr Kollege, wenn Sie zuerst den Reißverschluss Ihrer Hose schließen würden“, sagte Köhler mit gespielter Empörung. „Erstens sind wir nicht im Kurs der praktischen Urologie und zweitens, es passt nicht zum ärztlichen Outfit."
Tino errötete und entschuldigte sich, diesmal viel hektischer, und zog mit zitternder Hand fest an seinem Reißverschluss. Sie gingen hinein und nahmen erneut auf denselben Stühlen Platz. Die Akten auf dem Tisch waren verschwunden und lagen nun neben auf der Fensterbank.
„So, Frau Kollegin Hofmeister“, sprach Köhler zu Tanja gewandt. „Wir waren bis auf einige Sachen, die wir teilweise als Versprecher eingestuft haben, mit Ihren Leistungen vollkommen zufrieden und gratulieren Ihnen mit einer Note 1,4 zu Ihrer bestandenen Prüfung und freuen uns, Sie als frisch gebackene Ärztin begrüßen zu dürfen.“
Tanja errötete kurz und legte voller Freude beide Hände aufs Gesicht. Sie spürte, dass ihre Wangen wesentlich wärmer waren, als die Hände. Professor Köhler wandte sich zu Stefan und wiederholte die gleichen Sätze wie bei Tanja, allerdings mit Enthusiasmus, und verkündete ihm die Note eins. Auch bei Emin und Tino fielen dieselben Sätze, wie von einem Tonbandgerät. Beide bekamen jedoch die Note zwei Komma null, was gerade für Tino eine enorme Leistung bedeutete. Die drei Professoren standen anschließend auf und gratulierten den frisch gebackenen Ärzten mit einem freundlichen Händedruck.
Sobald die vier jungen Ärzte alleine im Flur waren, umarmten sie sich voller Freude und gratulierten einander. Sie verließen das Gebäude nebeneinander in einer Kette mit dem Arm um die Schulter des anderen.