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Wölfe im Wald

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Die Sonne war untergegangen und die Temperaturen waren noch weiter gesunken. Dies waren die kalten, harten Monate, in denen die Tage so kurz waren, dass kaum genug Zeit zum Jagen blieb, zum Reparieren der Zelte, zum Holzhacken. Draußen stiegen die Temperaturen nie über den Gefrierpunkt. Gegen Ende des Winters wurde der Alltag immer schwieriger. Die getrockneten Beeren vom letzten Sommer gingen irgendwann zur Neige. Dann gab es Fleisch zum Frühstück, Fleisch mitten am Tag, Fleisch zum Abendessen. Meistens Rentierfleisch natürlich. Aber gelegentlich zur Abwechslung auch mal Pferd oder Hase.

Fünf Zelte standen im Lager, hoch und kegelförmig, wie stabile Tipis. Jedes bestand aus einem Gerüst von sieben oder acht Lärchenholzpfählen, gegen den Wind waren zusammengenähte Felle darüber gezogen und festgebunden worden. Unter dem Schnee hielt ein Ring aus Steinen den Zeltsaum am Boden. Der Schnee, der sich mindestens einen halben Meter hoch an den Seiten des Tipis auftürmte, half ebenfalls dabei, die Felle an Ort und Stelle zu halten. Zwischen den Tipis war der Schnee heruntergetreten. In der Mitte fanden sich die Überreste einer Kochstelle. Sie wurde im Augenblick kaum genutzt – in diesen frostigen Wochen zündete man die Feuer lieber in den Zelten an. Und so loderte in jedem ein Feuer in einer zentralen Kochstelle. Der Temperaturunterschied war extrem. Wenn sich die Familien zur Nacht in ihre Tipis zurückzogen, landeten Pelzmäntel und Pelzstiefel auf einem großen Haufen neben dem Eingang.

Außerhalb des Zeltrings lag ein Platz zum Holzhacken. Ein bis zwei Männer spalteten den ganzen Tag lang gefällte Lärchen, genug Holz, um die Feuer in den Zelten am Brennen zu halten. An einer anderen Stelle lagen die spärlichen Überreste von dem, was einmal ein Rentier gewesen war. Es war in Stücke gehackt worden und abgesehen von einigen Rippen und blutbeflecktem Schnee war kaum noch etwas übrig von ihm. Die Jäger hatten es an diesem Morgen getötet und ins Lager gebracht. Als sie ankamen, hatten sie sofort seinen Bauch aufgeschnitten, um Stücke seiner noch warmen Leber zu essen und sein Blut zu trinken. Der Rest wurde unter den fünf Familien aufgeteilt und in die Zelte gebracht; mit Ausnahme des Kopfes – nachdem Zunge und Wangen entfernt worden waren, hatte man den Schädel mit dem Geweih zum Waldrand zurückgetragen. Ein junger Mann hatte das erledigt, indem er ihn an seinen Gürtel band und mehrere Meter hoch auf eine Lärche kletterte, wo er den Schädel zwischen einem Ast und dem Stamm einklemmte: eine Himmelsbestattung, eine Opfergabe für die Waldgeister und den Geist des Rentiers selbst.

Nach einer weiteren Mahlzeit, die überwiegend aus Fleisch bestand, machten sich die Familien bereit für die Nacht. Die Kinder wurden mit mehreren Schichten Rentierfellen zugedeckt. Der letzte Erwachsene in jedem Zelt, der schlafen ging, legte Holzscheite nach. So würde das Feuer noch ein bis zwei Stunden weiterbrennen. Dann würde die Temperatur im Zelt fallen, bis es fast so kalt war wie draußen. Aber die Rentierfelle würden sie warm halten, so wie sie ihre ursprünglichen Besitzer in den eisigen Wintern in diesem kalten Land im Norden warm gehalten hatten.

Während die blauen Rauchschwaden, die aus den Spitzen der Zelte stiegen, dünner wurden und das Gemurmel der Unterhaltungen langsam verstummte, lockte der magere Kadaver am Rand des Lagers die Aasfresser aus dem Wald. Wie Schatten tauchten die Wölfe aus der Taiga auf und schlichen sich an das Lager heran. Sie machten kurzen Prozess mit den Resten des Rentiers und streiften dann auf der Suche nach weiteren Überresten zwischen den Zelten und um die zentrale Feuerstelle herum, bevor sie wieder zwischen den Bäumen verschwanden.

Die Jäger waren an die Nähe der Wölfe gewöhnt. Sie spürten sogar eine spirituelle Verbindung zu diesen Tieren, die wie sie den schütteren Wäldern am Rand der echten Tundra ihren Lebensunterhalt abtrotzten. Aber in diesem Winter war die Anwesenheit der Wölfe konstanter als sonst. Sie waren jede Nacht im Lager. In früheren Jahren waren sie gelegentlich im Tageslicht herangekommen – nie bis in den Kreis der Tipis, aber nahe genug. Vielleicht trieb sie der Hunger. Vielleicht waren diese Wölfe mit den Jahren oder im Laufe von Generationen kühner geworden. Meistens duldeten die Menschen sie, aber wenn sie zu nahe kamen, warfen sie Steine, Knochen und Stöcke nach ihnen.

Am Ende dieses langen, harten Winters – der mit Sicherheit sogar noch länger und härter gewesen war als der davor – kam ein Wolf, ein Jungtier, direkt in die Mitte des Lagers. Ein etwa siebenjähriges Mädchen saß auf einem Baumstamm und reparierte ihre Pfeile, und der Wolf kam ganz nahe an sie heran. Das Mädchen hielt inne. Sie legte die Pfeile nieder, ließ die Hände auf den Knien ruhen und sah auf den zertrampelten, kompakten Schnee hinunter. Der Wolf tappte ein paar Schritte näher heran. Das Mädchen sah auf und wieder nach unten. Dann kam der Wolf ganz nahe zu ihr. Sie fühlte seinen warmen Atem auf ihrer Haut. Jetzt leckte ihr der Wolf über die Hand und setzte sich kurz auf die Hinterbeine. Das Mädchen hob den Blick und sah in die blauen Augen des jungen Wolfes. Ein erstaunlicher Augenblick der Verbindung. Und dann sprang der Wolf auf, wirbelte herum und verschwand mit großen Sprüngen wieder in der Taiga, in den Schatten.

Die Wölfe schienen die Menschen in diesem Sommer zu verfolgen, während diese ihrerseits der großen Rentierherde folgten, die in Etappen durch die Landschaft zog. Der Schnee schmolz und gab weite Grasflächen frei. Die Rentiere grasten und zogen weiter. Die Menschen waren immer einen Schritt hinter ihnen, brachen jedes Mal das Lager ab, wenn die Herde sich weiterbewegte, und schlugen es wieder auf, wenn sie Halt machte. Normalerweise waren die Wölfe im Sommer unsichtbar, wenn das Jagen mehr einbrachte als das, was die Menschen übrig ließen. Aber diese Wölfe, oder wenigstens einige von ihnen, fühlten sich auf irgendeine Weise zu den Menschen hingezogen; sie beteiligten sich sogar an ihren Jagden und profitierten von der erlegten Beute.

Es war ein nervöses, zerbrechliches Bündnis. Die Wölfe waren den Menschen gegenüber misstrauisch, genau wie die Menschen den Wölfen gegenüber. Es gab Geschichten, dass diese Raubtiere Babys aus dem Lager stahlen, obwohl offenbar niemand das je selbst miterlebt hatte. Es kursierten Geschichten von Jägern, die einen Hirsch erlegt hatten und dann von Wölfen vom Kadaver vertrieben worden waren, den diese für sich beanspruchten. Die älteren Stammesmitglieder waren misstrauisch und vorsichtig. Aber zweifellos hatten die Wölfe den Jagderfolg verbessert. Sie konnten dabei helfen, ein Rentier oder ein Pferd von der Herde zu trennen, und rissen das Tier manchmal sogar, bevor die Jäger nahe genug herangekommen waren, um ihre Speere zu werfen. Die Wölfe scheuchten auch kleineres Wild auf. Die Jäger kamen selten mit leeren Händen nach Hause. Und so herrschte weniger Hunger, vor allem in den harten Wintermonaten. Immer mehr Wölfe wagten sich tagsüber ins Lager und sie schienen nicht aggressiv zu sein. Nach einigen weiteren Wintern und Sommern ließen die Eltern ihre Kinder sogar mit den freundlichen Wolfswelpen spielen; zwischen den Zelten balgten sie sich und rauften miteinander. Einige Wölfe schliefen jetzt in der Nähe des Lagers. Dieses Rudel hatte sich eindeutig den Menschen angeschlossen. Als die Zelte abgebrochen und eingepackt wurden und die Menschen weiterzogen, kamen die Wölfe mit ihnen.

Wer domestizierte hier wen? Hatten die Wölfe die Menschen erwählt oder die Menschen die Wölfe? Wie es auch anfing, dieses Bündnis sollte das Schicksal der Menschen verändern und sich auf die Form und das Verhalten ihrer vierbeinigen Gefährten auswirken. Nach wenigen Generationen hatten die freundlichsten Wölfe begonnen, mit dem Schwanz zu wedeln. Sie waren im Begriff, zu Hunden zu werden.

Das ist natürlich Fiktion. Aber sie basiert auf wissenschaftlichen Fakten, deren wir uns inzwischen ganz sicher sein können. Unsere heutigen Hunde in ihrer ganzen wunderbaren Vielfalt sind die Nachkommen von Wölfen. Nicht von Füchsen, Schakalen, Kojoten, nicht mal von Wildhunden. Genauer gesagt, stammen sie vom Eurasischen Wolf ab. Unsere heutigen Hunde teilen sich über 99,5 % ihrer Gensequenzen mit dieser Unterart, die auch Europäischer Wolf oder Grauwolf genannt wird.

Was zog die Wölfe an unsere Seite? Frühere Archäologen waren der Meinung, dass es mit dem Aufkommen der Landwirtschaft zu tun gehabt haben könnte. Den verlockenden Herden – leichte Beute für opportunistische Räuber – konnten sie nach dieser Theorie nur schwer widerstehen. Aber die frühesten Belege für die Landwirtschaft, die den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschen markieren, nämlich die Jungsteinzeit, reichen im Nahen Osten nur rund 12.000 Jahre zurück. Hundeskelette wurden jedoch schon in wesentlich älteren Ausgrabungsstätten gefunden. Von allen Tieren und Pflanzen, die sich durch den engen Kontakt mit dem Menschen veränderten und Allianzen mit ihm eingingen, scheint der Hund sein ältester Verbündeter zu sein: Die ersten Hundebesitzer waren keine Bauern, sondern eiszeitliche Jäger und Sammler. Aber wie weit zurück in unsere urzeitliche Geschichte können wir dieses Bündnis nachverfolgen? Und wo, wie und warum kam es dazu?

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