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Von der Levante zum Solent

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Anhand der Komplexität der menschlichen Gesellschaft, die vor der Landwirtschaft bereits existierte, vor der Zivilisation, wie wir sie kennen, können wir verstehen, wie Konzepte und auch Materialien von A nach B kamen und sich verbreiteten.

Die Archäologie liefert uns wunderbare Einsichten darüber, wie urzeitliche Gesellschaften miteinander verbunden waren. Die gemeinsame Ikonografie von Göbekli Tepe und anderen, viel weiter östlich gelegenen archäologischen Stätten wie Çayönü in Südostanatolien und Tell Qaramel in Nordwestsyrien zeigt, wie weit sich kulturelle Verbindungen über die nahöstliche Landschaft erstreckten: Çayönü und Tell Qaramel liegen über 300 Kilometer voneinander entfernt. Die vielfachen Ursprungszentren domestizierter Arten in den Gebieten am östlichen Ende des Mittelmeers machen die Vorstellung eines kleinen „Kerngebiets“ zunichte, belegen aber gleichzeitig kulturelle Verbindungen und Austauschsysteme, über die Konzepte – und Saatgut – weite Strecken zurücklegen konnten. Die Jungsteinzeit entstand nicht in einer südöstlichen Ecke der Türkei, sondern in mehreren untereinander verbundenen Zentren, die über den Nahen Osten und darüber hinaus verteilt lagen: Domestiziertes Einkorn wurde auch auf Zypern entdeckt und auf 8500 Jahre vor heute datiert. Damit ist die Fundstelle genauso alt wie die Stätten im ehemaligen „Kerngebiet“ in Nordmesopotamien.

Und nur 500 Jahre später hinterlässt das Einkorn seine DNA-Spur in der untermeerischen, mittelsteinzeitlichen Ausgrabungsstätte unter dem Solent. Wie legte der Weizen vor Jahrtausenden den langen Weg vom östlichen Mittelmeerraum bis zum Rand Nordwesteuropas zurück? Wir kennen die Handelsnetze, die sich vor zweitausend Jahren über das Römische Reich erstreckten. Dank der Archäologie wissen wir auch, dass es früher schon ausgedehnten Handel gab – in der Eisenzeit und sogar schon in der Bronzezeit und der davor liegenden Jungsteinzeit. Aber Fernhandel zwischen kleinen, isolierten Gruppen von Jägern und Sammlern, die sich in der Mittelsteinzeit oder im Epipaläolithikum mühsam durchschlugen? Das scheint doch deutlich einen Schritt zu weit zu gehen.

Bis man sich Beispiele aus der viel jüngeren Geschichte ansieht. Die amerikanischen Ureinwohner an der amerikanischen Nordwestküste unterhielten Handelsverbindungen in einem riesigen Gebiet, das sich über Hunderte von Kilometern erstreckte, und tauschten auf diesem Weg Güter, Geschenke und potenzielle Ehepartner aus. Diese Verbindungen bildeten die Grundlage für Macht und Ansehen. In Australien führten die Tauschnetzwerke von Aborigine-Gemeinschaften vor der europäischen Kolonisierung von Küste zu Küste über den ganzen Kontinent. Und Archäologen finden immer mehr Belege dafür, dass Rohmaterialien und bearbeitete Gegenstände in der Mittelsteinzeit in Europa über lange Entfernungen transportiert wurden. Feuerstein von der Küste reiste in Britannien rund 50 Kilometer landeinwärts, Äxte aus norwegischem Diabas tauchen in Schweden auf, Feuersteinklingen aus Litauen fand man fast 600 Kilometer entfernt in Finnland, auch Bernstein von der östlichen Ostsee gelangte nach Finnland, Gräber auf dem spätmittelsteinzeitlichen Gräberfeld Vedbæk in Dänemark enthielten Anhänger aus den Zähnen von Elchen und Auerochsen, die dort zu dieser Zeit ausgestorben waren. Natürlich kann ein Objekt über solche Entfernungen mehrmals den Besitzer gewechselt haben. Die Verteilung derart weit gereister Güter deutet darauf hin, dass sich die Menschen sowohl über Land als auch über das Meer fortbewegten. Archäologen glauben, dass die Menschen in der Mittelsteinzeit Reisen von bis zu 100 Kilometer unternahmen – wahrscheinlich benutzten sie dazu Einbäume mit Auslegern. Der Erwerb exotischer Materialien scheint mit der Entwicklung einer Gesellschaftsveränderung in Nordeuropa verknüpft gewesen zu sein, als die egalitären Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften immer mehr Interesse an gesellschaftlichem Status entwickelten. Es entstanden verschiedene Gesellschaftsschichten und damit das älteste Klassensystem der Welt. Es ist nicht gerade Downton Abbey, aber die archäologischen Funde beginnen eine Unterscheidung zwischen Personen mit hohem und niedrigem Status zu zeigen – zwischen Reich und Arm also. Einige kunstvolle mittelsteinzeitliche Grabstätten an der Ostsee enthalten exotische Gegenstände, die vermutlich als Symbole für den sozialen Status dienten.

Wie die gesellschaftliche Schichtenbildung zur Entwicklung der Landwirtschaft im Nahen Osten beigetragen haben könnte, so hat sie vielleicht auch im Norden und Westen den Übergang erleichtert. Wenn man sich nur auf das reine Überleben konzentriert, bleibt man unter Umständen recht abgeschirmt. Wenn man an exotischen Gütern und gesellschaftlichem Status interessiert ist, muss man Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Und die mittelsteinzeitlichen Menschen in Europa scheinen wesentlich engere Verbindungen gepflegt zu haben, als wir bisher annahmen.

Mittelsteinzeitliche Tauschnetzwerke für Materialien, Konzepte und Menschen bedeuteten, dass die Jäger und Nahrungssucher im Westen bereits mit den ersten Bauern im Osten kommunizierten. Vor 6500 Jahren hatten sich in der Donauniederung bereits bäuerliche Gemeinschaften dauerhaft niedergelassen. Die Jäger und Sammler im Norden, die immer noch einen sehr mittelsteinzeitlichen Lebenswandel führten, übernahmen Keramik, T-förmige Geweihäxte, Knochenringe und Kämme von ihren jungsteinzeitlichen Nachbarn im Süden. Wahrscheinlich gaben sie ihnen dafür Felle und Bernstein. Dennoch ist 8000 Jahre vor heute immer noch extrem früh für eine Einkornspur in einer mittelsteinzeitlichen Siedlung am nordwestlichen Rand von Europa. Die Eiszeit hatte ihren Klammergriff um diese nördlichen Breiten gerade erst gelockert.

Die Erwärmung am Ende der Eiszeit hatte einen Einfluss auf die Umwelt im Nahen Osten, wirkte sich aber noch stärker in Nordwesteuropa aus. Hier hatten Eispanzer den nördlichen Teil des Kontinents jahrtausendelang in erstarrter Umklammerung gehalten. Südlich des Eises lagen weite, baumlose Tundren. Örtliche Populationen wärmeliebender Arten, darunter Menschen, Bären und Eichen, starben aus, wo Eisschilde und Tundra vorherrschten.

Ihre Verwandten im Süden schlugen sich in noch bewohnbaren Rückzugsgebieten in Südfrankreich, auf der iberischen Halbinsel und in Italien durch. Als die Wärme zurückkehrte und sich die Eisschilde zurückzogen, war ein großer Teil Nordeuropas von sandigen Sedimenten aus den Flüssen bedeckt, die aus dem schmelzenden Eis flossen, und von feinerem Geschiebemergel, den die Gletscher selbst hinterließen. Riedgräser, Gräser, Zwergbirken und Weiden besiedelten die jungfräuliche Landschaft und machten daraus eine Steppentundra. Als vor 11 600 Jahren die Kälte der Jüngeren Dryaszeit abgeklungen war, begannen Birke, Haselnuss und Kiefer sich wieder nach Norden auszubreiten.

Vor 8000 Jahren dominierten Wälder aus Linden, Ulmen, Buchen und Eichen die Landschaften Nordeuropas einschließlich der britannischen Halbinsel. Sie boten zahlreichen Tieren wie Auerochsen und Elchen, Wildschweinen, Rehen und Rotwild, Baummardern, Ottern, Eichhörnchen und Wölfen sowie reichlich Wildgeflügel ein Zuhause. In den Küstengewässern wimmelte es von Weichtieren, Fischen, Robben, Delfinen und Walen. Die Menschen der Mittelsteinzeit nutzten diese Ressourcen, sie waren Jäger, Fischer und Sammler. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen und in Begleitung von Hunden jagten sie Tiere an Land. Ausstaffiert mit Kanus, Netzen, Angeln und Reusen zogen sie Fische aus Meeren und Flüssen.

Die Menschen begannen, Nordeuropa am Ende der Jüngeren Dryaszeit wieder zu besiedeln und erreichten 9600 v. Chr. Großbritannien. Die ersten Siedler brauchten sich nicht einmal die Füße nass zu machen: In der Eiszeit lagen die Meeresspiegel bis zu 120 Meter unter dem heutigen Stand. Als das Eis schmolz, stieg der Meeresspiegel, aber die ersten Pflanzen und Tiere kehrten nach Großbritannien zurück, als die künftige Insel noch fest mit Kontinentaleuropa verbunden war.

Das klassische Bild, das uns die Archäologie vermittelt hatte, waren kleine, mobile Gruppen von Jägern und Sammlern, die sich häufig weiterbewegten und kaum Spuren hinterließen. Mittelsteinzeitliche Stätten sind typischerweise von sehr bescheidener Größe und waren nur kurzzeitig bewohnt. Aber in Star Carr in Yorkshire brachten jüngere Ausgrabungen eine überraschend große mittelsteinzeitliche Siedlung zutage. Eine Plattform aus bearbeitetem Holz zieht sich an dieser 9000 Jahre alten Stätte über rund 30 Meter am Seeufer entlang. Das gesamte Gebiet deckt 20.000 Quadratmeter ab, also fast zwei Hektar. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche sesshafte Gemeinschaft in gewissem Ausmaß hierarchisch organisiert war, ist sehr hoch.

Selbst wenn in der Mittelsteinzeit vorwiegend kleine, mobile Gruppen von Jägern und Sammlern durch Nordwesteuropa zogen, schien die menschliche Gesellschaft wenigstens an einigen Orten komplexer zu werden. In diesem Kontext, angesichts der Existenz größerer, sesshafterer, komplexerer und besser vernetzter Gruppen als bislang angenommen, scheinen die Entdeckungen am Bouldnor Cliff vielleicht weniger erstaunlich.

Star Carr und Bouldnor Cliff befinden sich an entgegengesetzten Enden von England und deuten beide darauf hin, dass wir die Komplexität der frühen Mittelsteinzeit in Großbritannien wahrscheinlich unterschätzt haben. Und genau wie im Nahen Osten scheint die gesellschaftliche Komplexität dem Aufkommen der Landwirtschaft vorausgegangen und nicht etwa daraus hervorgegangen zu sein. In der Mittelsteinzeit gab es relativ unterschiedliche Lebensweisen: Einige Gemeinschaften waren offenbar schon recht sesshaft, andere entwickelten sich zu Seefahrern, wie sich am Obsidianhandel um das Mittelmeer ebenso zeigt wie an Belegen für die Hochseefischerei.

Und doch kam die 8000 Jahre alte Einkorn-DNA am Bouldnor Cliff wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Herkömmliche Untersuchungsmethoden, also Archäologie und Botanik, zeigen, dass domestiziertes Einkorn vor neun- bis zehntausend Jahren in ganz Mesopotamien auftauchte und sich nach Zypern verbreitete. Die Jungsteinzeit schwappte von Osten nach Westen über Europa und erreichte Irland vor etwa sechstausend Jahren. Vor 7500 Jahren wurde Einkorn im mittleren Donaubecken angebaut. Die Schweiz und Deutschland erreichte es vor über fünftausend Jahren. Aber entlang den Mittelmeerküsten scheint sich die Jungsteinzeit noch schneller verbreitet zu haben. Ausgrabungen lieferten erst kürzlich Belege für jungsteinzeitliche Bauern weit im Westen, an der Südküste Frankreichs, und das vor 7600 Jahren. Diese frühen französischen Bauern hatten Keramik, domestizierte Schafe, Emmer – und Einkorn. Bestimmte Arten von Keramik scheinen als Teil des Jungsteinzeitpakets in Stätten in Westeuropa aufzutauchen und sich an den Küsten entlang zu verbreiten. Mit den eindeutigen Belegen für Einkorn in Frankreich, die nur 400 Jahre jünger sind als die Spur am Bouldnor Cliff, schließt sich die Lücke offenbar. Niemand behauptet, dass die Bewohner von Bouldnor frühe Bauern waren, aber sie standen in Verbindung mit der Außenwelt. Landwirtschaftliche Erzeugnisse vom nahen Kontinent gelangten nach Großbritannien, bevor die Landwirtschaft selbst dort Einzug hielt.

Die Geschichte vom Einkorn am Grund des Meeresbodens eröffnet uns neue Möglichkeiten und erinnert uns auf jeden Fall daran, bei unserer Rekonstruktion der Vergangenheit nicht zu dogmatisch vorzugehen. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, das früheste Beispiel für irgendetwas irgendwo zu finden. Die Genetik reiht sich inzwischen in das Arsenal archäologischer Werkzeuge mit ein und macht es uns möglich, die winzigsten, tief verborgenen Hinweise ans Licht zu bringen. Daten werden nach hinten geschoben. Der Geschmack von Weizen, vielleicht sogar Brot – einer neuen Lebensweise, hatte die Küste von Südengland früher erreicht, als irgendjemand es für möglich gehalten hätte.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein mittelsteinzeitlicher Jäger und Sammler und hätten Ihr Lager in Bouldnor aufgeschlagen. Eines Tages bekommen Sie Besuch von Reisenden, Menschen aus einem entlegenen Stamm, die Sie von Zeit zu Zeit sehen. Als sie eintreffen, zeigen Sie sich gastfreundlich – sie setzen sich zu Ihnen und verzehren mit Ihnen gemeinsam einen Rentierbraten. Dabei bringen sie etwas Neues mit an den Tisch, etwas anderes als die Nahrung, die Sie in der Nähe sammeln können: harte, kleine Samenkörner. Die Besucher zeigen Ihnen, wie man die Körner mahlen, mit Wasser vermischen, den Brei ausrollen und zwischen den Handflächen plattdrücken und dann auf den flachen Steinen in der Feuerstelle backen kann. An diesem Abend essen Sie etwas Neues und Köstliches: Fladenbrot. Das essen die Menschen am anderen Ende des langen Meeres dauernd, erzählen Ihnen die Reisenden. Diese kleinen Samenkörner stammen ursprünglich aus den weiten Graslandschaften im Sumererland, dem Land, in dem die Sonne aufgeht.

Wir werden wahrscheinlich nie wissen, wie dieser Weizen nach Bouldnor gelangte und ob man dort daraus Brei oder Brot herstellte und aß. Aber man fragt sich doch unwillkürlich, ob diese mittelsteinzeitlichen Jäger und Sammler etwas über diese andere Lebensweise wussten, die entlang der Küsten Europas unaufhaltsam näher kam. Könnten sie sich sogar vorgestellt haben, dass die Körner in diesem Brot absichtlich angebaut und nicht gesammelt worden waren? Und doch sollte einmal eine Zeit kommen, gar nicht so viele Jahrhunderte später, da selbst die Wälder Großbritanniens Feldern Platz machen würden.

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