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Die Entstehung der domestizierten Arten

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Als der viktorianische Wissenschaftler Charles Darwin mit der Arbeit an seinem Buch Die Entstehung der Arten begann, dem Fundament der heutigen Evolutionsbiologie, wusste er, dass er im Begriff war, eine Bombe platzen zu lassen – und das nicht nur innerhalb der Biologie. Ihm war klar, dass er seriöse Grundlagenarbeit leisten musste, bevor er zu den Erklärungen seiner außergewöhnlichen Einsichten kam, wie sich die Arten im Laufe der Zeit durch das unbewusste Wirken der natürlichen Auslese, die Generation um Generation ihr Zauberwerk verrichtet, veränderten. Er musste seine Leser mitnehmen. Sie würden zusammen einen Berg erklimmen; es würde schwierig werden, aber die Aussicht vom Gipfel würde atemberaubend sein.

Und so entschied sich Darwin dafür, seine Entdeckungen nicht einfach nur zu erläutern. Stattdessen widmete er ein ganzes Kapitel – in meiner Ausgabe volle 27 Seiten – der Beschreibung von Arten, die sich unter dem Einfluss von Menschen weiterentwickelt haben. Innerhalb einer Population von Pflanzen oder Tieren gibt es immer Variationen, und durch die Interaktion mit dieser Vielfalt können Bauern und Züchter Rassen und Arten über Generationen hinweg verändern. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende haben unsere Vorfahren bei domestizierten Arten und Stämmen solche Veränderungen etabliert, indem sie Überleben und Fortpflanzung einiger Varianten förderten und den Erfolg anderer einschränkten. So formten sie Tiere und Pflanzen, bis sie den menschlichen Bedürfnissen, Wünschen und Vorlieben besser entsprachen. Darwin bezeichnete die Auswirkung der menschlichen Auswahl auf diese domestizierten Arten als „künstliche Auslese“. Er wusste, dass seinen Lesern diese Vorstellung bekannt war und dass sie sie akzeptierten. So konnte er darlegen, wie die Auslese durch Bauern und Züchter – das Auswählen einzelner Zuchttiere oder -pflanzen und das Verwerfen anderer – im Laufe der Generationen zu kleinen Veränderungen führt, und dass sich über die Zeit so viele dieser Veränderungen ansammeln, dass manchmal unterschiedliche Stämme oder Subtypen entstehen – aus einem einzigen Ahnenbestand.

Tatsächlich war diese sanfte Einführung in die Macht der Auslese, biologische Veränderungen herbeizuführen, mehr als ein literarischer Schachzug. Darwin hatte selbst damit begonnen, die Domestizierung zu untersuchen, weil er glaubte, dass sie Aufschluss über den Mechanismus der Evolution im Allgemeinen geben könnte, also darüber, wie wilde Pflanzen und Tiere sich allmählich verändern. Er schrieb: „… schien es mir wahrscheinlich, dasz ein sorgfältiges Studium der Hausthiere und Culturpflanzen die beste Aussicht auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und“, so fügt er fast augenzwinkernd hinzu, „ich habe mich nicht getäuscht“.

Nach der Erörterung der Auswirkungen künstlicher Auslese konnte Darwin dann sein Hauptkonzept der natürlichen Auslese als dem Mechanismus hinter der Evolution des Lebens auf der Erde erklären, dem unbewussten Prozess, der im Laufe der Zeit Veränderungen vermehrt und nicht nur neue Stämme, sondern ganz neue Arten herausarbeitet.

Wenn wir sein Werk heute lesen, stolpern wir über den Begriff „künstlich“. Zum einen kommt uns die andere Bedeutung von „künstlich“ im Sinne von „unecht“ in die Quere. In dieser Bedeutung hat Darwin das Wort aber nicht verwendet; er meinte „künstlich“ im Sinne von „kunstfertig“. Aber selbst in dieser Lesart impliziert der Begriff einen Scharfsinn, der die Rolle der bewussten Absicht bei der Domestizierung der Arten übertrieben darstellt. Die moderne Pflanzen- und Tierzucht mag nach sorgfältig geplanten, bewussten Zielen erfolgen, aber die frühe Geschichte unserer Verbindungen mit den Arten, die zu unseren größten Verbündeten wurden, belegt einen schockierenden Mangel an jedweder Planung.

Wir könnten also versuchen, einen neuen Begriff für „künstlich“ zu finden, aber da gibt es noch ein anderes Problem. Brauchen wir – angesichts der Tatsache, dass wir inzwischen die grundlegende Rolle der natürlichen Auslese in der Evolution akzeptieren, dass Darwin den Großteil von uns nicht mehr von dieser biologischen Realität überzeugen muss – tatsächlich eine separate Beschreibung für die Weise, wie die Menschen die Evolution domestizierter Arten beeinflusst haben?

Die getrennte Beschreibung der künstlichen und der natürlichen Auslese half Darwin dabei, seine Argumentation aufzubauen und ein anspruchsvolles neues Konzept vorzustellen, aber die Unterscheidung ist im Grunde nicht richtig. Es ist eigentlich nicht wichtig, dass wir Menschen – und nicht die physikalische Umgebung oder andere Arten – die Menge der Individuen in Gruppen mit mehr oder weniger Fortpflanzungserfolg einteilen. Bei keiner anderen Art würde man diese Unterscheidung treffen. Zum Beispiel üben auch Honigbienen auf Blüten einen Selektionsdruck aus, der im Laufe der Zeit zu Veränderungen an diesen Blüten führt, die sie für ihre Bestäuber attraktiver machen. Die Farben, Formen und Düfte von Blüten sind nicht dazu gemacht, unsere Sinne zu erfreuen, sondern haben sich entwickelt, um ihre geflügelten Verbündeten zu betören. Haben die Honigbienen damit eine künstliche Auslese durchgeführt? Handelt es sich nicht vielmehr um eine bienenvermittelte natürliche Auslese? Vielleicht wäre es besser (wenn auch zugegebenermaßen etwas schwerfälliger), im Zusammenhang mit unserem Einfluss auf domestizierte Arten von „menschenvermittelter natürlicher Auslese“ zu sprechen.

Die natürliche Auslese sortiert bestimmte Varianten aus, während andere überleben, sich vermehren und damit ihre Gene an die nächste Generation weitergeben. Die künstliche bzw. „menschenvermittelte natürliche“ Auslese funktioniert oft nach denselben Prinzipien, wenn Bauern und Züchter bestimmte Pflanzen oder Tiere von der Zucht ausschließen, die nicht so gefügig, produktiv, kräftig, groß oder niedlich wie die anderen sind. Darwin beschrieb diese negative Auslese in der Entstehung der Arten so:

Wenn eine Pflanzenrasse einmal wohl ausgebildet worden ist, so sucht sich der Samenzüchter nicht die besten Pflanzen aus, sondern entfernt nur diejenigen aus den Samenbeten, welche am weitesten von ihrer eigenthümlichen Form abweichen. Bei Thieren findet diese Art von Auswahl ebenfalls statt, denn kaum dürfte Jemand so sorglos sein, seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zu verwenden.

Indem sie die Abweichler jäten und die Tiere aussortieren, mit denen sie nicht weiterzüchten wollen, oder auch nur, indem sie bestimmte Tiere besser versorgen als andere, sind Menschen inzwischen zu mächtigen Mittlern der natürlichen Auslese geworden. Wir haben eine große Vielzahl von Pflanzen und Tieren als Verbündete im Spiel des Lebens rekrutiert.

Und doch scheint eine solche Zähmung manchmal fast zufällig zu erfolgen, wie wir noch sehen werden. Und gelegentlich sieht es so aus, als würden die Pflanzen und Tiere sich eigentlich selbst domestizieren. Vielleicht sind wir gar nicht so allmächtig, wie wir früher dachten. Selbst wenn wir bewusst planen, eine Art zu domestizieren, sie für uns nützlicher zu machen, setzen wir in Wirklichkeit nur ein natürliches, schlummerndes Potenzial frei, das es dieser Art ermöglicht, zahm zu sein.

Die lange Geschichte von Pflanzen und Tieren, die uns heute sehr vertraut sind, bringt uns an seltsame, exotische Orte. Die Gelegenheit ist gerade günstig, diesen Geschichten nachzuspüren. Es wurde heiß darüber diskutiert, wie die einzelnen domestizierten Arten entstanden – aus einem einzigen Ursprung, einem einzigen, eigenständigen Zentrum der Domestizierung oder aus einem größeren geografischen Gebiet, in dem verschiedene wilde Arten oder Unterarten gezähmt und dann miteinander zu Hybriden verkreuzt wurden. Im 19. Jahrhundert dachte Darwin, dass unterschiedliche wilde Arten die gewaltige Vielfalt erklären könnten, die wir in unseren domestizierten Arten heute sehen. Im Gegensatz dazu war der große Pflanzensammler und Biologe Nikolai Wawilow im 20. Jahrhundert der Meinung, dass er einzelne Ursprungszentren bestimmen könne. Archäologie, Geschichte und Botanik liefern uns reichlich Hinweise, aber auch eine Menge ungelöster Fragen. Dank des Aufkommens der Genetik, einer neuen historischen Quelle, können wir inzwischen darauf hoffen, konkurrierende Hypothesen überprüfen und diese scheinbar unlösbaren Rätsel knacken zu können, um die wahre Geschichte der Pflanzen und Tiere zu enthüllen, die unsere Verbündeten geworden sind.

Der genetische Code, den alle Lebewesen in sich tragen, enthält nicht nur Informationen über das heutige Lebewesen, sondern auch Spuren seiner Vorfahren. Indem wir die DNA lebender Arten betrachten, können wir in ihre ferne Vergangenheit reisen – Tausende, sogar Millionen von Jahren vor unserer Zeit – und Hinweise zusammentragen. Weitere Erkenntnisse gewinnen wir, wenn wir genetische Spuren aus der DNA uralter Fossilien hinzufügen können. Die ersten Beiträge aus der Genetik konzentrierten sich auf kleine Fragmente genetischer Codes; aber allein in den letzten paar Jahren hat sich der Anwendungsbereich der Genetik erweitert, sodass wir inzwischen ganze Genome betrachten, was zu einem großen Spektrum an überraschenden Entdeckungen über die Ursprünge und Geschichten einiger der Arten geführt hat, die uns am nächsten stehen.

Einige dieser genetischen Enthüllungen stellen infrage, wie wir die biologische Welt einteilen. Es ist nützlich und sinnvoll, Arten zu identifizieren. Dieses Konzept umfasst eine Gruppe von Lebewesen, die einander feststellbar ähnlich sind und sich ebenso feststellbar von anderen unterscheiden. Aber der Umstand, dass Populationen im Laufe der Zeit evolutionäre Veränderungen durchmachen, kann das Ziehen von Grenzen um Arten ziemlich erschweren. Wir stecken Dinge gern in Schubladen, aber die Biologie scheint besonders gern solche Grenzen zu durchbrechen, wie wir in diesem Buch immer und immer wieder feststellen werden. Wie weit müssen sich Linien voneinander entfernen, bevor sie tatsächlich zu getrennten Arten werden? Diese Frage stellt die Taxonomen immer noch vor Herausforderungen. Unter den domestizierten Tieren und Pflanzen gelten manche als Unterarten ihrer wilden Gegenstücke und tragen denselben Artnamen wie ihre ungezähmten Vorfahren und ihre noch lebenden wilden Verwandten – wenn es überhaupt noch welche gibt. Einige Biologen haben sich dafür ausgesprochen, für domestizierte Arten ganz andere Artnamen zu verwenden, selbst wenn sie ihren wilden Verwandten stark ähneln, um die Bezugnahme zu erleichtern. Allein die Namensdiskussion macht schon deutlich, wie verwischt die Grenzen sind.

In jedem Fall war der Evolutionsverlauf der domestizierten Art – von Rindern und Hühnern bis hin zu Kartoffeln und Reis – stark von der Verquickung mit dem eines afrikanischen Menschenaffen beeinflusst, der sich bereits über die ganze Welt verbreitet hatte. Diese Geschichten sind außergewöhnlich und vielfältig, aber ich habe mich in diesem Buch auf nur zehn Arten beschränkt. Eine dieser Arten sind wir selbst: Homo sapiens. Die erstaunliche Verwandlung, die wir durchgemacht haben, vom wilden Menschenaffen zum zivilisierten Menschen, deutet darauf hin, dass wir uns irgendwie selbst gezähmt haben. Und erst als das geschehen war, konnten wir uns daran machen, andere zu zähmen. Die Geschichte der Menschen hebe ich mir bis zum letzten Kapitel auf. Es finden sich viele Überraschungen und brandneue Entdeckungen frisch aus der Wissenschaftspresse darin, aber bis dahin brauchen Sie noch etwas Geduld. Zuerst erfahren Sie etwas über neun andere Arten. Jede hatte einen großen Einfluss auf uns und unsere Geschichte und ist noch heute wichtig für uns. Ihre Domestizierungsprozesse liegen weit in Raum und Zeit verstreut, sodass wir verstehen werden, wie menschliche Kulturen auf der ganzen Welt im Laufe der Geschichte auf verschiedene Arten mit Pflanzen und Tieren interagierten. Ihre Verbreitung über den Globus begleitete unsere eigenen Wanderungen, manchmal trieb sie sie sogar voran. Hunde liefen mit den Jägern mit, Weizen, Rinder und Reis breiteten sich mit den ersten Bauern aus, Pferde trugen ihre Reiter aus den Steppen in die Annalen der Geschichte, Äpfel reisten in ihren Satteltaschen mit, Hühner verbreiteten sich im Schatten von Imperien, Kartoffeln und Mais überquerten mit den Passatwinden den Atlantik.

Die Jungsteinzeit, die vor 11.000 Jahren in Ostasien und dem Nahen Osten begann, bildete die Grundlage für die moderne Welt. Sie war die wichtigste Entwicklung in der gesamten Geschichte der Menschheit. Unser Schicksal verflocht sich mit dem Schicksal anderer Arten in symbiotischen Beziehungen, die unsere evolutionären Pfade zusammenführten. Der Ackerbau sorgte dafür, dass die menschliche Weltbevölkerung auf gewaltige Ausmaße anwachsen konnte. Die Bevölkerung wächst immer noch, aber langsam stoßen wir an die Grenze der Menge, die unser Planet ernähren kann. Wir müssen schnell nachhaltige Möglichkeiten entwickeln, mindestens ein oder zwei Milliarden mehr Menschen ernähren, als bereits auf der Erde leben.

Einige Lösungen sind mit geringem technischem Aufwand verbunden; so hat sich die ökologische Landwirtschaft als deutlich vielversprechender erwiesen, als ihre Kritiker noch vor fünfzehn Jahren voraussagten. Aber auch Spitzentechnologien können ihren Teil zur Lösung beitragen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir die neueste Generation genetischer Modifikationen begrüßen oder ablehnen, also Werkzeuge, die präzise genetische Anpassungen nach unseren Bedürfnissen ermöglichen und dabei die selektive Zuchtwahl umgehen, auf die unsere Vorfahren angewiesen waren, oder ob wir sogar neuen Möglichkeiten Raum geben wollen, denen allein unsere Vorstellungskraft Grenzen setzt.

Es gibt noch andere Herausforderungen: Mit einer immer weiter anwachsenden menschlichen Bevölkerung und bei vier Zehnteln bereits bewirtschafteter Landfläche brauchen wir eine solide Beweislage für die beste Lösung, möglichst viele wilde Arten zu erhalten. Wir sind findig – das war schon immer ein Merkmal der Menschen. Aber wir müssen findiger sein denn je, wenn wir den gewaltigen Appetit einer wachsenden menschlichen Bevölkerung und der Horden zahmer Arten, die wir zum Überleben brauchen, mit der Artenvielfalt und echter Wildnis unter einen Hut bringen wollen. Manchmal fühlt es sich so an, als seien wir Menschen eine Seuche für den Planeten, und es wäre die absolute Katastrophe, wenn das wahre Erbe der neolithischen Revolution in Massenaussterben und ökologischer Verheerung bestünde. Wir müssen hoffen, dass es eine grünere Zukunft für uns gibt – und für unsere Verbündeten. Wissenschaftliche Forschungen beleuchten nicht nur die Geschichte unserer Interaktion mit anderen Arten, sondern geben uns mächtige Werkzeuge und Möglichkeiten an die Hand, die wir in Zukunft nutzen können. Mehr über die Geschichte unserer domestizierten Arten zu wissen, wird uns dabei helfen, die Zukunft besser zu planen.

Aber fangen wir erst einmal mit der Vergangenheit an – mal sehen, wohin uns das führt. Wir beginnen unsere Reise weit in der Vorgeschichte, in einer Welt, die wir heute nicht mehr wiedererkennen würden. Eine Welt ohne Städte, ohne Siedlungen, ohne Gehöfte. Eine Welt im kalten Griff der Eiszeit. Dort treffen wir auf den ersten unserer Verbündeten.

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