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Ein Hummer macht eine archäologische Entdeckung
Оглавление1999 machte ein Hummer, der auf dem Meeresboden in der Nähe von Bouldnor lebte, direkt östlich von Yarmouth an der Nordküste der Isle of Wight, eine erstaunliche Entdeckung. Er hatte seine Behausung am Fuß einer Meeresklippe gegraben und dabei Sand und Steine aus der Sandbank gewühlt.
Zwei Taucher entdeckten den Hummer und den ausgeschachteten Graben, der zu seiner Höhle führte. Der Graben verlief neben einer alten, umgestürzten Eiche. Und in ihm fanden die Taucher Steine, die der Hummer aus seiner Höhle geschoben hatte. Die Taucher waren Meeresarchäologen, die sich für den gut erhaltenen Unterwasserwald am Bouldnor Cliff interessierten. Sie hoben die Steine auf, die der Hummer ausgegraben hatte, und sahen, dass sie von Menschenhand stammten: bearbeitete Feuersteine. Es waren nicht die ersten Steinwerkzeuge, die die Archäologen in diesem Gebiet entdeckt hatten, aber die anderen waren aus den Sedimenten erodiert und von Strömungen fortgetragen worden. Die Feuersteine, die der Hummer ausgegraben hatte, sahen aus, als seien sie nur über eine kurze Entfernung bewegt worden – und die Taucher vermuteten, dass diese Artefakte ursprünglich aus der Klippe stammen konnten, genau von der Stelle, die der Hummer als Behausung auserkoren hatte.
Die Meeresarchäologen machten sich an die Arbeit. In einstündigen Tauchgängen vermaßen sie das Gebiet am Fuß des Bouldnor Cliff und sie begannen mit den Ausgrabungen. Trotz schlechter Sicht und starker Strömungen fanden sie eine erstaunliche Vielfalt an archäologischem Material und begannen, ein Bild der Umgebung in der Zeit zu entwerfen, als sie noch trockenes Land war. Sie fanden Überreste eines uralten Waldes: Kiefern, Eichen, Ulmen und Haselnusssträucher. Auch Erlen gab es dort, die sozusagen gern mit den Füßen im Wasser stehen und vielleicht am Ufer eines alten Flusses gewachsen waren. Und in den sandigen Sedimenten, die einmal die Ufer dieses Flusses gebildet haben könnten, fanden die Archäologen Belege für menschliche Aktivitäten: reichlich Feuersteine, einige davon verbrannt, zusammen mit Kohle und verkohlten Haselnussschalen und dem ältesten Stück Schnur Großbritanniens. Die Radiokarbonmethode zeigte, dass die Ausgrabungsstätte etwa um 6000 v. Chr. besiedelt worden war. In der Nähe fanden die Taucher Spuren einer Grube mit verbrannten Schichten und einen Haufen Holz, der möglicherweise einmal eine erhöhte Plattform gewesen war, auf dem ein mittelsteinzeitliches Haus gestanden hatte. Es gab auch reichlich bearbeitetes Holz, an dem die Spuren alter Werkzeuge noch deutlich zu sehen waren. Dazu gehörten ein großes Stück gespaltener Eiche – vielleicht Teil eines Einbaums – und ein hölzerner Pfahl, der noch aufrecht in den uralten Sedimenten steckte. Alles war verblüffend gut erhalten. Schnell wurde klar, dass sich auf der Stätte, nachdem sie damals verlassen worden war, rasch Torf abgelagert haben musste, der die archäologischen Fundstücke in situ einschloss. Und da lag das alles nun und wartete nur darauf, dass 8000 Jahre später ein Hummer vorbeikam und es entdeckte.
Die Unterwasserausgrabungen am Bouldnor Cliff fanden von 2000 bis 2012 statt. Die Analyse des gesamten Materials wird noch viele weitere Jahre in Anspruch nehmen. Es gibt aus archäologischer Sicht und Paläo-Umweltperspektive einfach unendlich viel, in das sich ein breitgefächertes Forscherteam verbeißen kann. Neben dem offenkundig archäologischen Material, das die Taucher vom Meeresboden holten – die bearbeiteten Feuersteine, die Kohlefragmente und die verkohlten Haselnussschalen –, brachten sie auch Schlamm herauf. Jede Menge Schlamm. Diese Sedimentproben mussten zweifellos weitere winzige Hinweise auf die urzeitliche Umgebung am Bouldnor Cliff enthalten, vielleicht winzige Nagerknochen, kleine Pflanzenstücke oder sogar Pollen, die sich durch Sieben gewinnen und mikroskopisch betrachten ließen. 2013 nahm ein anderes Forscherteam Kontakt zu den Archäologen von der Isle of Wight auf. Sie wollten den Schlamm untersuchen, aber was sie zu finden hofften, wäre nicht einmal unter dem leistungsstärksten Mikroskop sichtbar gewesen: Sie suchten nach Molekülen – langen, strangförmigen Molekülen voller Informationen. Sie waren auf der Suche nach DNA.
Die Genetiker nahmen sich den Schlamm des Solent ganz unvoreingenommen vor. Sie hatten sich nicht erst überlegt, was sie dort finden könnten, und dann versucht, es zu finden (oder auch nicht). Sie untersuchten Proben aus der Schicht mit den Haselnussschalen und wandten eine Technik an, die als „Schrotschuss-Sequenzierung“ bezeichnet wird und so undifferenziert ist, wie der Name schon andeutet. Ihr Vorgehen klingt wie die Antithese der hypothesengesteuerten Forschung, des Goldstandards, nach dem alle guten Wissenschaftler streben sollten, der wissenschaftlichen Methode. Aber es gibt nicht nur eine wissenschaftliche Methode. Um etwas zu verstehen, fängt man manchmal am besten mit einer einfachen Frage an: Was gibt es hier zu entdecken? Und dann sammelt man Daten und versucht, sie zu interpretieren. Unter Umständen enthalten selbst so breitgefächerte Ansätze noch eine Hypothese, die bestimmt, welche Daten überhaupt gesammelt werden. Dabei handelt es sich nicht um ein Experiment im eigentlichen Sinne, sondern nur um genaues Hinsehen. Die Genomik funktioniert größtenteils auf diese Weise: Es werden große Datenmengen zusammengetragen und nach Mustern durchsucht. In diesem Fall war die Hypothese sehr weit gefasst: „In der Probe wird alte DNA zeitgenössischer Lebewesen zu finden sein.“ Und auch wenn es ketzerisch klingt: Gerade wenn man seine Hypothesen so weit wie möglich fasst, wenn man sich von vorgefassten Meinungen und Erwartungen löst, hat man die besten Chancen, etwas wirklich Neuartiges und Aufregendes zu entdecken.
Die Genetiker, die sich mit dem Schlamm vom Bouldnor Cliff beschäftigten, entnahmen ihm alle möglichen DNA-Sequenzen von Organismen, die hier vor 8000 Jahren (6000 v. Chr.) gelebt hatten. Sie fanden genetische Spuren von Eichen, Pappeln, Apfelbäumen und Buchen sowie von Gräsern und Kräutern. Auch Canis war dort gewesen – entweder Hunde oder Wölfe –, ebenso wie Bos-DNA, die vom Auerochsen stammen musste, dem Vorfahren der Rinder. Die molekularen Geister von Hirschen, Moorhühnern und Nagern versteckten sich ebenfalls im Sediment. Stück für Stück setzten die Genetiker die Einzelheiten des urzeitlichen Ökosystems des Solent-Waldes zusammen, wo die mittelsteinzeitlichen Jäger und Sammler ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Zwischen den DNA-Fragmenten vom Meeresboden verbarg sich auch etwas vollkommen Überraschendes: die unverkennbare Spur von Triticum, Weizen. Sie hätte nicht dort sein dürfen. Das hier waren die britischen Inseln vor dem Beginn der Landwirtschaft. Die Sedimentproben waren bereits auf Pollen untersucht worden, normalerweise ein guter Indikator für die Pflanzen, die zu jener Zeit wuchsen. Aber die Proben enthielten keinen Weizenpollen. Handelte es sich um einen Irrtum? Es war ein so ungewöhnlicher Fund, dass die Genetiker absolut sicher sein mussten, dass es sich nicht um etwas anderes handelte. Die Triticum-Sequenz schien jedoch echt zu sein. Das Team überprüfte sorgfältig, ob das Signal nicht von einem anderen weizenähnlichen Gras stammen konnte, das auf den britischen Inseln heimisch war, wie etwa Strandroggen oder Quecke. Aber die alte DNA unterschied sich von ihnen. Am ähnlichsten war sie stattdessen einer bestimmten Weizenart: Triticum monococcum, dem Einkorn. Jedes kleine Ährchen in der Ähre dieses Weizens enthält ein einzelnes Samenkorn in einer festen Hülle. Einkorn wurde als eine der ersten Getreidearten domestiziert und angebaut, jedoch ging man davon aus, dass es erst vor 6000 Jahren (4000 v. Chr.) auf die britischen Inseln kam, also ganze 2000 Jahre später als seine unverkennbaren genetischen Spuren am Bouldnor Cliff.
Das Einkorn in den Sedimenten am Grund des Solent war also weit und schnell gereist, um vor so langer Zeit dort hinzugelangen. Der Ursprungsort des Kultur-Einkorns lag 4000 Kilometer entfernt am östlichen Ende des Mittelmeers. Und der erste Mensch, der sich mit der ursprünglichen Heimat des Einkorns und anderer Weizenarten beschäftigte, war ein 1887 in Moskau geborener Botaniker und Genetiker.