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Freundliche Füchse und geheimnisvolle Gesetze
Оглавление1959 beschloss der russische Forscher Dmitri Beljajew zu testen, wie die selektive Zucht, fokussiert auf bestimmte Verhaltensweisen, Tiere im Laufe der Zeit verändern kann. Er war der Meinung, es gebe grundlegende Merkmale, die von zentraler Bedeutung für die Domestikation des Hundes seien, dass bei Wolfswelpen eine positive Auslese nach natürlicher Zahmheit stattgefunden habe, während aggressive Tendenzen schonungslos ausgerottet worden seien. Er startete ein inzwischen berühmtes Domestikationsexperiment mit einer anderen Tierart, die recht nah mit dem Wolf verwandt ist: dem Silberfuchs (Vulpes vulpes). Indem sie in jeder Generation die zahmsten Füchse auswählten und mit ihnen weiterzüchteten, erkannten er und sein Team, dass die Zahmheit sich rasch in der gesamten Population verbreitete. Nach sechs Generationen hochselektiver Zucht waren 2 Prozent der Population äußerst zahm. Nach zehn Generationen betrug ihr Anteil schon bis zu 18 Prozent. Nach dreißig Generationen war die Hälfte der Füchse sehr zahm. Im Jahr 2006 verhielten sich fast alle Füchse aus dem laufenden Experiment Menschen gegenüber sehr freundlich – genau wie domestizierte Hunde.
Aber nicht nur das Verhalten der Füchse hatte sich verändert. Einige von ihnen hatten zwar immer noch ihr silbernes Fell, andere waren dagegen rot geworden. Da das eine normale Farbvariante von Vulpes vulpes darstellt, war das nicht allzu überraschend. Einige jedoch hatten nun ein weißes Fell mit schwarzen Abzeichen, die sogenannte „Georgian White“-Varietät – das war etwas vollkommen Neues und war in freier Wildbahn noch nie vorgekommen. Tatsächlich hat der domestizierte Georgian-White-Silberfuchs eine frappierende Ähnlichkeit mit einem winzigen Schäferhund in Fuchsgestalt. Einige Füchse entwickelten ein braunmeliertes Fell auf silberweißem Hintergrund. Manche hatten Hängeohren. Auch ihre Skelettstruktur veränderte sich: Beine und Schnauzen wurden kürzer, der Schädel breiter. Veränderungen gab es auch in der Fortpflanzungsphysiologie: Wildfüchse paaren sich nur einmal im Jahr, aber die zahmen Füchsinnen wurden zweimal pro Jahr läufig. Die zahmen Füchse erreichten die sexuelle Reife auch schneller als ihre wilden Verwandten.
Außer den spezifischen Merkmalen der Freundlichkeit gegenüber Menschen und fehlender Aggression, nach denen sie im Experiment zur Zucht ausgewählt worden waren, zeigten die zahmen Füchse noch weitere vertraute Verhaltensweisen: Sie hielten den Schwanz erhoben und wedelten damit. Sie jaulten und winselten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie beschnüffelten und beleckten ihre Halter. Sie achteten auf menschliche Gesten und Blickrichtungen. Indem sie nach Zahmheit selektierten, bekamen die russischen Wissenschaftler eine ganze Reihe anderer Merkmale, die offenbar einfach dazugehörten, aber unbestreitbar hundeähnlich waren.
Dieses Fuchszucht-Experiment zeigt, wie schnell die freundlichsten und am wenigsten aggressiven Wölfe vor Jahrtausenden mit jeder Generation immer zahmer geworden sein könnten. Die Jäger und Sammler müssen sie nicht selektiv gezüchtet haben wie die russischen Wissenschaftler, die nach einem strengen Protokoll nur die freundlichsten 10 Prozent der Füchse aus jeder Generation zur Weiterzucht verwendeten. Die wölfischen Vorfahren der Hunde könnten in gewissem Umfang eine Art Selbstselektion vorgenommen haben, weil nur die freundlichsten in unmittelbarer Nähe der Menschen geduldet wurden. Wolfsrudel sind Familien, deren Mitglieder eng untereinander verwandt sind. Wenn ein Tier Menschen gegenüber eher tolerant und sogar freundlich war, trugen andere im Rudel mit großer Wahrscheinlichkeit dieselben Gene und Verhaltenstendenzen in sich. Es ist also möglich, dass ein ganzes Rudel oder wenigstens ein Großteil eines Rudels ein Bündnis mit den Menschen einging. Zahme Wölfe wären in der Lage gewesen, eine Bindung zum Menschen aufzubauen und dessen sozialen Stimuli wie Gesten und Blicken zu folgen. Hunde stellen einen Blickkontakt zum Menschen her, wie ein Wolf es niemals tun würde. Und Hunde verstehen dank ihrer Evolution menschliche Signale mit teils verblüffender Genauigkeit. Als Besitzerin eines schlecht abgerichteten Border Terriers, der selten das tat, was ich von ihm wollte, erstaunte mich kürzlich ein Springer Spaniel mit seiner Fähigkeit, meine Signale zu verstehen. Ich ging mit dieser Hündin namens Linny am Ufer von Loch Long in Schottland spazieren. Als ich einen Ball für sie in die Landschaft warf, prallte er gegen ein paar tangbedeckte Felsen und verschwand zwischen ihnen. Linny hatte nicht genau aufgepasst und sah mich an, damit ich ihr half. „Da drüben, Linny!“, rief ich und zeigte auf die Stelle. Ich dachte zunächst, dass ich letztendlich über die Felsen klettern und den Ball holen müsste, aber sie lief genau in die Richtung, in die ich zeigte, und fand den feuchten Ball in einer Felsspalte. Ich freute mich darüber genauso sehr wie sie, als sie über den Strand zurückgesprungen kam, um ihn mir erneut vor die Füße zu legen. Linny hatte nicht nur erkannt, dass mein ausgestreckter Finger einen Hinweis gab, sondern sie wusste auch, was er bedeutete und wie sie ihm folgen musste, um den feuchten, stinkigen Preis zu ergattern. Sie entstammte eindeutig einer langen Zuchtlinie von Hunden, die nicht einfach nur gelernt hatten, auf menschliche Signale zu achten, sondern sie in erstaunlichem Ausmaß auch zu befolgen. Springer Spaniels sind Jagdhunde, die gezüchtet wurden, um Wild aufzustöbern und die Beute zum Jäger zu bringen. Ein nasser Ball war da ebenso geeignet wie eine tote Ente – Linny brachte ihn mir mit derselben Begeisterung. Unsere modernen Hunderassen sind relativ neue Entwicklungen; die meisten sind das Ergebnis einer hochselektiven Zucht über wenige Jahrhunderte. Doch obwohl diese frappierende Fähigkeit, menschliche Gesten zu verstehen, bei Spaniels zur Perfektion gebracht wurde, entstand die Grundlage für dieses Verhalten wahrscheinlich vor sehr langer Zeit. Die ersten domestizierten Hunde verstanden wahrscheinlich menschliche Signale, genau wie Beljajews Füchse heute.
Anscheinend haben Haushunde und auch jene „Hausfüchse“ einen ganzen Satz an Verhaltensweisen sowie anatomische und physiologische Merkmale entwickelt, die sich von denen ihrer wilden Vorfahren deutlich zu unterscheiden scheinen. Doch einige dieser Merkmale sind nicht vollkommen neu. Ich war erstaunt, als Will Walker mir erzählte, dass auch Wölfe gelegentlich mit dem Schwanz wedeln, und dass er sie sogar schon hat bellen hören.
„Aber nur als Ausdruck des Erschreckens“, sagte er zu mir. „Es gibt einen Elektrozaun um das Gehege, und als wir sie zum ersten Mal hineinließen, waren sie neugierig und untersuchten ihn, berührten ihn also, und bellten. Es klang, als wäre da ein großer Hund drin. Das war das erste Mal, dass ich einen Wolf hatte bellen hören – aber es war eindeutig ein Bellen. Das und das Schwanzwedeln, wenn sie sich freuen, genau wie alle anderen Merkmale, die wir von Hunden kennen, das ist alles vorhanden.“
Das erschien mir sehr logisch – schließlich sind Hunde ja nur domestizierte Wölfe. Viele Merkmale, die wir mit Hunden in Verbindung bringen, sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern waren Bestandteile von Verhaltensweisen, die ihre wölfischen Vorfahren auch schon zeigten. Diese Merkmale waren im Verhaltensrepertoire der Wölfe sicherlich nicht so vorherrschend wie bei Hunden, aber sie waren da. Im Laufe der Domestizierung der Wölfe selektierte man nach bestimmten Elementen des bestehenden Verhaltens oder förderte sie, sodass sie häufiger auftraten, während andere durch negative Auslese verdrängt wurden.
Im Laufe der Zeit veränderte sich die Beziehung zwischen dem zahmen Wolf und dem Menschen. Nun lebten nicht mehr zwei Arten einfach nebeneinander und tolerierten sich gegenseitig; es war eine Symbiose entstanden, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die Menschen waren nicht länger nur eine Quelle für Gratisfutter, wenn die Wölfe nahe genug ans Lager gelangen konnten. Die Wölfe wurden nicht mehr nur geduldet, sondern ermuntert: Sie hatten eindeutig etwas zu bieten im Austausch gegen Nahrung. Zu diesem Nutzen könnte auch ihre Gesellschaft an sich gehört haben, sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder. Das kommt in Domestikationstheorien selten zur Sprache, vielleicht weil es zu belanglos oder oberflächlich klingt, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Aspekt keine Rolle spielte. Und sicher wurden auch irgendwann einige Wolfswelpen von den Menschen aufgenommen. Wenn ich überlege, wie sehr meine eigenen Kinder nach einem Hündchen betteln, ist es nicht undenkbar, dass auch irgendein eiszeitlicher Elternteil diesem Druck einmal nachgegeben haben könnte.
Aber Gesellschaft und das Vergnügen der Kinder waren sicherlich nicht der einzige Nutzen, den zahme Wölfe in unmittelbarer Umgebung hatten. Lautes Bellen, das unter Wölfen sehr sporadisch als Schrecklaut vorkam, könnte ebenfalls eine Bedeutung in der Entwicklung einer symbiotischen Beziehung zwischen Menschen und Wölfen gehabt haben. Vielleicht machten diese allerersten Hunde sich nützlich, indem sie mit den Jägern mitliefen und beim Aufspüren, Jagen und sogar Apportieren der Beute halfen. Sobald der Mensch begann, Landwirtschaft zu treiben, konnten Hunde eine wichtige Rolle übernehmen, indem sie das Vieh vor Raubtieren wie Bären und Hyänen beschützten – und auch vor Wölfen. Aber auch schon lange davor, in der Eiszeit, waren zahme Wölfe, die das Lager beschützen und durch ihr Bellen vor Gefahren warnen konnten, mit Sicherheit sehr nützlich.
Bellen und Schwanzwedeln sind also keine echten Neuerungen. Wir brauchen keine neuen genetischen Mutationen zu beschwören, um diese Merkmale bei Hunden zu erklären, weil es sie schon bei den Wölfen gab. Aber selbst wenn wir einige Unterschiede zwischen Hunden und Wölfen auf diese Weise wegdiskutieren können, scheint es zwischen einigen der Merkmale von Hunden und Wölfen oder zwischen den Merkmalen wilder Silberfüchse und der im Experiment domestizierten immer noch einen zu tiefen Graben zu geben, als dass er biologisch erklärbar wäre. Tatsächlich stehen wir auch vor demselben Rätsel, wenn wir uns die Gegenwart ansehen, nämlich die Menge der Unterschiede zwischen heute lebenden Hunderassen. Ihre Vielfalt ist ganz einfach verblüffend: Vom Chihuahua bis zum Chow-Chow, vom Dalmatiner bis zum Dingo ist die Palette deutlich breiter als bei jeder wilden Tierart.
Darwin faszinierte die erstaunliche Verschiedenartigkeit domestizierter Hunde. Er meinte, dass die Vielfalt sich auf mehrere verschiedene wilde Hundearten zurückführen ließe, aber wir wissen heute, dass Hunde von einer einzigen wilden Art abstammen: dem Wolf, Canis lupus. Auf gewisse Weise macht das die Frage, woher die Verschiedenartigkeit heutiger Hunde stammt, noch rätselhafter. In seinen Spekulationen über die Entstehung von Vielfalt ging Darwin davon aus, dass ein großer Teil sich durch eine Vielzahl von Umweltfaktoren erklären ließe, die auf irgendeine Weise die Befruchtung oder die Entwicklung des Embryos beeinflussen. Darwin wusste, dass einige Merkmale vererbt werden, aber er wusste nicht, wie das vonstatten ging. Und er war der Vorstellung gegenüber, dass diese Umweltfaktoren (der nurture- Aspekt, wenn man so will) eine wichtige Rolle spielen, sehr zugänglich.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Arbeiten des Mönchs und Wissenschaftlers Gregor Mendel aus dem 19. Jahrhundert wiederentdeckt, dem wir viele Einsichten in der Frage verdanken, wie Merkmale vererbt werden. Sie bildeten die Grundlage für die neu entstehende Disziplin der Genetik. In Kombination mit den Beobachtungen von Naturforschern und Darwins Mechanismus der natürlichen Auslese half die Genetik zu erklären, wie die Evolution funktionierte. Der Zusammenschluss dieser getrennten Zweige der Biologie wurde 1942 von Julian Huxley, dem Enkel von Darwins eifrigem Unterstützer Thomas Henry Huxley, in seinem Buch Evolution: The Modern Synthesis beschrieben. Aber die Synthese war eine schwierige Geburt gewesen.
Huxley beschrieb, wie sich der Darwinismus am Ende des 19. Jahrhunderts auf den immer gleichen ausgetretenen Wegen bewegte und übermäßig theoretisch und adaptationistisch geworden war. Jedes einzelne Merkmal eines Lebewesens musste als Anpassung beschrieben werden, die durch die natürliche Auslese entstanden war. Der Darwinismus war zu einer Art Naturtheologie geworden – nur dass die natürliche Auslese und keine Gottheit die Rolle des Schöpfers übernahm. Gleichzeitig waren neue Disziplinen in der Biologie entstanden, darunter die Genetik, die Vererbungslehre. Experimentelle Genetik und Embryologie schienen mit dem klassischen Darwinismus in Konflikt zu stehen.
„Zoologen, die an Darwins Ansichten festhielten“, schrieb Huxley, „wurden von den Anhängern der neueren Disziplinen, ob Zytologie oder Genetik [Entwicklungsmechanik] oder vergleichende Physiologie, geringschätzig als altmodische Theoretiker abgetan.“ Aber zwischen den 1920er- und 1940er-Jahren begannen die Konzepte allmählich zu verschmelzen und leuchteten als Teil eines Ganzen viel mehr ein:
Die gegensätzlichen Parteien wurden zusammengeführt, als den jüngeren Zweigen der Biologie eine Synthese miteinander und mit den klassischen Disziplinen gelang, und sie liefen in einem darwinistischen Zentrum zusammen. (…) In den letzten zwanzig Jahren ist die Biologie nach einer Periode, in der neue Disziplinen nacheinander in relativer Isolation entstanden und ausgearbeitet wurden, zu einer einheitlicheren Wissenschaft geworden. (…) Eins der Hauptergebnisse ist die Wiedergeburt des Darwinismus.
Die Konzepte der Synthetischen Evolutionstheorie unterfüttern heute noch die moderne Evolutionstheorie. Wir wissen, dass die allmählichen Veränderungen, die innerhalb der Arten auftreten, im Wesentlichen auf zufällige genetische Mutationen zurückzuführen sind. Die Auslese, ob natürlich oder künstlich, wirkt dann auf nicht zufällige Weise auf diese Mutationen ein, indem sie nützliche begünstigt und nicht nützliche aussortiert. Dennoch scheint die Variabilität domestizierter Arten, vor allem der Hunde, einfach zu extrem zu sein, um ausschließlich durch die Ansammlung genetischer Veränderungen im Laufe der Zeit erklärt werden zu können, also durch die einfache Interaktion zwischen zufälligen neuen Mutationen in den Genen und selektiver Zuchtwahl. Die Auslese kann schnell zur Verbreitung vorteilhafter Gene (und Merkmale) in einer Population führen, aber sie kann die zugrundeliegende Mutationsrate nicht beschleunigen.
Beljajew dachte sicherlich, dass etwas anderes – nicht nur Mutationen in der DNA – für all die Veränderungen verantwortlich gewesen sein musste, die er bei seinen zunehmend zahmen Füchsen feststellte. Nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderungen musste erklärt werden, sondern auch die auffällige Ähnlichkeit zwischen domestizierten Silberfüchsen und Hunden. Man konnte unmöglich annehmen, dass all diese Merkmale bei den Füchsen – vom Schwanzwedeln bis zu den Hängeohren – durch neue Mutationen entstanden und dass die Ähnlichkeit mit Hunden rein zufällig war. Es schien unwahrscheinlich, dass jedes individuelle Merkmal in völliger Isolation aufgetreten war. Wahrscheinlicher war stattdessen, dass ein oder zwei grundsätzliche genetische Veränderungen weitreichende Auswirkungen hatten, dass Gene also hierarchisch funktionierten und einige von ihnen andere steuerten.
Ein bestimmtes Gen zu besitzen, ist dabei nur der Anfang der Geschichte, denn Gene können ein- und ausgeschaltet werden. Beljajew stellte die Hypothese auf, dass die Gene, die die Variationen im Verhalten steuerten, auch eine wichtige regulatorische Rolle in der Entwicklung spielten und eine Kaskade weiterer Gene beeinflussten, indem sie sie ein- oder ausschalteten. Die russischen Wissenschaftler, die Beljajews Experiment fortführten, nahmen an, dass die fraglichen Gene mit dem Hormon Cortisol zu tun haben könnten, das die Stressantwort des Körpers vermittelt, sowie mit dem Neurotransmitter Serotonin. Die domestizierten Füchse hatten einen sehr geringen Cortisolspiegel im Blut und einen erhöhten Serotoninspiegel im Gehirn. Niedrige Cortisolspiegel wurden auch bei anderen Haustieren nachgewiesen und hohe Serotoninwerte stehen im Zusammenhang mit einer Hemmung der Aggression. Doch das Wichtigste dabei ist die mögliche Wirkung dieser beiden biologischen Signale auf einen Fuchsfötus im Entwicklungsstadium.
Die russischen Wissenschaftler führten an, dass das mütterliche Cortisol und Serotonin beeinflussen könnten, wie viele andere Gene während der Entwicklung des Embryos und sogar nach der Geburt exprimiert werden, solange die Welpen noch gesäugt werden. Bei der Auswahl besonders zahmer Füchse könnten die russischen Wissenschaftler Individuen gewählt haben, die bestimmte Varianten einiger zentraler Gene aufwiesen, die im Zusammenhang mit Stresstoleranz und verringerter Aggression stehen. Das bedeutet, dass die nächste Fuchsgeneration im Mutterleib ungewöhnlichen Mustern von Stresshormonen ausgesetzt gewesen sein könnte, was wiederum möglicherweise einen Einfluss darauf hatte, auf welche Weise Gene im sich entwickelnden Fuchsfötus ein- und ausgeschaltet wurden – nämlich auf eine Weise, die in freier Wildbahn normalerweise nicht so stattfindet. Das Programm der embryonalen Entwicklung, das unter der natürlichen Auslese einen recht stabilen Zustand erreicht hatte, schien jedenfalls auf irgendeine Art durcheinandergeraten zu sein und führte zu einem überraschenden Maß an Verschiedenartigkeit unter den zunehmend domestizierten Silberfüchsen. Die Forscher nahmen an, dass schon wenige genetische Varianten weitreichende Auswirkungen haben könnten und damit eine neue Palette an Fellfarben sowie Kuriositäten wie Hängeohren und sogar Ringelschwänze hervorbrächten. Andere Forscher stellten die These auf, dass Veränderungen an Schilddrüsenhormonen und den entsprechenden Genen ähnlich weitreichende Auswirkungen auf Stressantwort, Zahmheit, Körpergröße und Fellfarbe haben könnten. Die selektive Zuchtwahl, die sich auf ein bestimmtes Merkmal konzentriert, das wahrscheinlich mit Genen verknüpft ist, die im Zusammenhang mit Stresstoleranz und Zahmheit stehen, könnte sich also rasch auf ein ganzes Bündel anderer Merkmale auswirken.
Wir stehen erst am Anfang bei der Identifizierung einiger Gene, die daran beteiligt sein könnten, eine solch breite Palette an Wirkungen zu erzeugen, und beginnen gerade erst zu verstehen, wie das auf molekularer Ebene vor sich geht. Genetiker machen sich nun daran, Hundegenome nach bestimmten Regionen, bestimmten DNA-Abschnitten zu durchkämmen, die aussehen, als seien sie das Ergebnis einer Auslese. Einfach ist diese Aufgabe nicht. Die komplexe Populationsgeschichte domestizierter Hunde mit ihren Wanderungen, dem Aussterben einiger Populationen, Kreuzungen an einigen Orten und genetischer Isolation an anderen macht daraus ein schwieriges Unterfangen. Dennoch stechen einige Bereiche im Genom hervor und acht der zwanzig wichtigsten identifizierten Bereiche enthalten Gene mit wichtigen neurologischen Funktionen. Von einem Gen wissen wir bereits, dass es sich sowohl auf das soziale Verhalten als auch auf die Pigmentierung auswirkt. Es heißt ASIP-Gen, das Gen, auf dem das Agouti signalling protein sitzt. Das Protein, das es kodiert, schaltet die pigmentproduzierenden Zellen, die Melanozyten, in den Haarfollikeln so um, dass sie eine blassere Version von Melanin produzieren – im Wesentlichen steuert es also, wie dunkleres und helleres Fell sich in bestimmten Bereichen entwickeln. Obendrein beeinflusst ASIP auch den Fettstoffwechsel und wirkt sich bei Mäusen zudem nachweislich auf die Aggressivität aus. Dieses eine Gen zeigt sehr schön, wie die selektive Zuchtwahl von Tieren, die eine bestimmte Art von sozialem Verhalten zeigen, zu zufälligen Veränderungen in Fellfarbe und Stoffwechsel führen könnte. Einige Merkmale, die zusammen vererbt werden, können allerdings auch von unterschiedlichen Genen beeinflusst werden, die dann aber in unmittelbarer Nähe zueinander auf einem Chromosom liegen. Eine starke positive Auslese nach einem bestimmten Merkmal und einem bestimmten Gen führt häufig dazu, dass benachbarte Gene mitvererbt werden.
Die Vorstellung, dass unterschiedliche Merkmale auf irgendeine Weise miteinander verknüpft und zusammen vererbt werden können, gibt es schon lange, sogar länger als die Genetik selbst. Die Bezeichnung für dieses Konzept, Pleiotropie (griechisch für „viele Wendungen“), wurde im frühen 19. Jahrhundert geprägt. In Die Entstehung der Arten schrieb Darwin: „Wenn man daher durch Auswahl geeigneter Individuen von Pflanzen und Thieren für die Nachzucht irgend eine Eigenthümlichkeit derselben steigert, so wird man fast sicher, ohne es zu wollen, diesen geheimnisvollen Gesetzen der Correlation gemäsz noch andere Theile der Structur mit abändern.“ Diese Gesetze sind inzwischen viel weniger geheimnisvoll – wir wissen, dass unterschiedliche Merkmale durch Genetik und Entwicklung miteinander verknüpft sind. Wir verstehen die genaue Grundlage der Korrelationen zumindest in einigen Fällen, zum Beispiel die des Agouti signalling protein und seiner weitreichenden Auswirkungen im Körper. Zusammen mit dem Konzept der destabilisierenden Auslese, nach dem die künstliche Zucht unweigerlich regelmäßig bestimmte Gensätze zusammenbringt, kann die Pleiotropie viel zu der Erklärung beitragen, warum Hunde so deutlich vielgestaltiger sind als Wölfe, obwohl sie ihnen auf den ersten Blick genetisch sehr ähnlich sind. Neue Genmutationen können weitreichende – pleiotropische – Auswirkungen haben und eine ganze Reihe von Eigenschaften beeinflussen. Und in einigen Fällen braucht man wahrscheinlich nicht einmal eine ganz neue Mutation, um die Dinge ins Rollen zu bringen, sondern nur eine Kombination bestimmter Gensätze, die in freier Wildbahn normalerweise nicht ganz so durchgehend zusammen auftreten. Auf diese Weise wird das Entwicklungsprogramm destabilisiert und bringt dabei neue, interessante Varietäten zutage. Es scheint sehr gut möglich, dass selbst unter den frühen Hunden und lange bevor es eine der heutigen Rassen gab, eine große Vielfalt herrschte – genau wie bei den Silberfüchsen aus dem Domestikationsexperiment.
Die ursprüngliche Domestizierung von Wölfen zu Hunden könnte relativ zügig vonstatten gegangen sein, wenn auch vielleicht nicht ganz so schnell wie die Transformation wilder in domestizierte Silberfüchse in etwas mehr als fünfzig Jahren. Die neuen Theorien über den zugrunde liegenden molekularen Mechanismus der Veränderung machen auf Schritt und Tritt die Pleiotropie deutlich. Die kaskadierenden und destabilisierenden Auswirkungen spezifischer Genvarianten, die ursprünglich für ihren Einfluss auf Fügsamkeit und Toleranz ausgewählt wurden, haben das Potenzial, weitreichende und möglicherweise sehr schnelle Veränderungen an Anatomie, Physiologie und anderen Verhaltensaspekten zu erzeugen. Was wie ein schwieriger und unwahrscheinlicher Übergang von wild zu domestiziert wirkt, scheint plötzlich eine deutlich einfachere und sogar wahrscheinliche Entwicklung zu sein. Vielleicht wurden Wölfe viele, viele Male zu Hunden oder zu Fast-Hunden, selbst wenn wir nur genetische Spuren für ein oder zwei dieser Experimente finden, die sich zu den heute noch existierenden Abstammungslinien weiterentwickelten.
Die große Kälte des letzten glazialen Maximums, die vor 21.000 bis 17.000 Jahren ihren Höhepunkt erreichte, setzte die Tiere in ganz Eurasien unter Druck. Eisschilde breiteten sich über Europa aus und in Sibirien wurde es unglaublich kalt und trocken. Viele Linien starben aus; manchmal gingen ganze Arten unter. Es wäre nicht überraschend, wenn mehr als nur einige Domestikationsversuche mit Hunden durch diese Umweltbedingungen beschnitten worden wären. Im Vorfeld des glazialen Maximums könnte frei verfügbare Nahrung an den Rändern der Lager von Jägern und Sammlern für einige Wolfsrudel einen entscheidenden Unterschied gemacht haben.
Alle spürten die Kälte, auch die Menschen. Auch wenn einige Linien alter Hunde ausstarben, argumentieren Experten, dass es auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit ein wesentlicher Überlebensvorteil für Jäger und Sammler gewesen sein könnte, Hunde zu haben. Könnte das vielleicht sogar erklären, warum der moderne Mensch, auch wenn er große Einbußen hinnehmen musste, das letzte glaziale Maximum überhaupt überleben konnte, während die Neandertaler es nicht schafften? Eine hübsche und verlockende Erklärung, aber gerade das macht mich immer nervös. Ich vermute, sie ist viel zu einfach. Die Geschichte ist komplex und wir können zwar Hypothesen aufstellen, müssen aber Vorsicht walten lassen, wenn wir keine Möglichkeit haben, sie auch nur ansatzweise zu überprüfen. Dennoch scheint es keinen Grund für einen Zweifel daran zu geben, dass Hunde gut für das Überleben und den Erfolg einiger Stämme von Jägern und Sammlern gewesen wären.
Nach der großen Kälte tauchen fossile Belege für Haushunde überall in Eurasien auf. Vor 8000 Jahren waren sie dann überall von Westeuropa bis nach Ostasien zu finden. Wie wir gesehen haben, deuten die neuesten genetischen Daten früher und heutiger Hunde auf einen einzigen Ursprung hin; es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass all diese Hunde im Holozän unabhängig voneinander aus lokalen Wolfspopulationen domestiziert wurden. Stattdessen müssen die Hunde mit umherziehenden Menschen gekommen oder von ansässigen Menschenpopulationen woandersher erworben worden sein.
Urzeitliche Hunde sahen immer noch recht wolfartig aus, zumindest sagen uns das ihre Skelette. Aber wahrscheinlich gab es bereits einige Vielfalt im Hinblick auf Fellfarben, Einrollung der Schwänze oder Schlappheit der Ohren, wenn man nach den russischen Füchsen gehen kann. An der 8000 Jahre alten Ausgrabungsstätte Sværdborg in Dänemark haben Archäologen Belege für drei Typen von Hunden unterschiedlicher Größe gefunden. Es sieht also so aus, als hätte schon früh eine gewisse Divergenz stattgefunden, aus der quasi Protorassen entstanden. Vielleicht versuchten unsere urzeitlichen Vorfahren bereits, Hunde mit bestimmten Fähigkeiten zu züchten: Hunde zum Bewachen und Hüten, Hunde, die gut Gerüchen folgen oder sogar Schlitten ziehen konnten.