Читать книгу extra 3. Deutschland - Der reale Irrsinn ist überall - Alicia Anker - Страница 11
ОглавлениеDie Aussichtsplattform in Kiel
Kiel, das sind die Förde, der Nord-Ostsee-Kanal, die Seeluft und vor allem Schiffe, Schiffe, Schiffe. Bewohner und Touristen schätzen es, das maritime Flair unmittelbar zu erleben. Die Verwaltung tut alles, damit Bürger und Gäste etwas geboten bekommen. Der neue Geniestreich: der Wiker Balkon im Schleusenpark im Norden der Stadt, gefördert von der EU und vom Land Schleswig-Holstein.
Die architektonische Krönung des Kieler Schleusenparks: der Wiker Balkon für 370.000 Euro.
Direkt darunter liegt die Schleuse Holtenau. Stadtsprecher Tim Holborn schlendert über die Rampe auf das Podest aus Beton und Stahl und erklärt, was es mit dem Bauwerk auf sich hat: »Es ist eine Aussichtsplattform. In der Stadt an der Förde, mit dem Hafen im Herzen der Stadt, erwartet man Plätze, wo man aufs Wasser, auf die Schiffe und den Kanal gucken kann, und das ist einer dieser Plätze.« Das ist allerdings Ansichtssache.
Die Plattform wurde behindertengerecht gestaltet und eine extra breite Holzauflage auf die Geländer geschraubt. Damit sich Besucher bequem aufstützen können, wenn sie den Blick schweifen lassen über … die hohen Bäume, die direkt vor der Plattform stehen und die Sicht versperren.
Jürgen Engel und Stephan Redlin können der Aussichtsplattform nicht so viel abgewinnen. Und das nur, weil sie keine Aussicht bietet.
Das ist der kleine Schönheitsfehler am Wiker Balkon: Man hat von der Aussichtsplattform keine Aussicht. »Wie wir sehen, sehen wir hinter uns nichts – außer Grün«, sagt Jürgen Engel vom Ortsbeirat Kiel-Wik und zeigt über das Geländer in die Botanik. »Der Blick zum Kanal ist völlig verstellt«, hat auch sein Beiratskollege Stephan Redlin beobachtet.
Man könnte es aber auch so halten wie der Pressesprecher der hoch verschuldeten Stadt Kiel: »Sie können die Förde von dem Balkon aus prima sehen«, sagt Holborn. Er wird nicht müde, auf die wenigen Lücken im Blattwerk hinzuweisen, sogenannte Sichtachsen würden den Blick freigeben. »Dort hinten sehen Sie die Schiffe bei der Einfahrt in die Schleuse, hier auf der mittleren Achse sehen Sie die Schiffe in der Schleuse und die dritte Sichtachse zeigt die Ausfahrt auf die Kieler Förde.«
Und tatsächlich: Zwischen im Wind flatternden Ästen sind Teile eines Schiffes in der Schleuse auszumachen und dort, hinter dichten Blättern, glitzert das Wasser der Förde in der Sonne. Dafür haben sich die 370.000 Euro, die der Wiker Balkon gekostet hat, doch gelohnt. Nur notorische Nörgler wie Ortsbeirat Redlin wollen das nicht einsehen: »Dieses Bauwerk ist völlig überflüssig, denn es erfüllt ja in keiner Weise den Zweck, für den es bestimmt ist.« Redlin meint, das Geld hätte besser für andere Belange im Stadtteil eingesetzt werden sollen, etwa für die Sanierung von Laufbahn und Schwimmhalle der dortigen Schule.
Aber mit Laufbahnen und Schwimmhallen lockt man nun mal keine Touristen an. Da braucht man etwas Besonderes. »Für Touristen wird der Wiker Balkon sicher ein interessanter Punkt sein in der Landeshauptstadt«, ist Holborn überzeugt. Und dann gerät der sonst so nüchtern wirkende Stadtsprecher ins Schwärmen: »Ich kann mir vorstellen, dass dieser Punkt hier so ein Geheimtipp werden wird. Ich bin mir sicher, der Wiker Balkon wird auf der Landkarte der Schiff-Spotter einen festen Platz bekommen.«
Tim Holborn ist Aussichtsprofi: Er erklärt, dass es auf die Sichtachsen ankomme. In dieser hier zum Beispiel erblickt man die Einfahrt der Schiffe in die Schleuse (das Weiße ist das Schiff!).
Redlin fürchtet allerdings, dass hier kaum ein Tourist zum Schiffe spotten herkommen wird, allenfalls, um über die Plattform zu spotten. »Vielleicht wird dieser Balkon Erwähnung finden im negativen Sinne, dass man berichten wird, wie bescheuert die Deutschen inzwischen sind, so etwas in die Welt zu setzen«, sagt der Wiker. Wer etwas von Schiffen sehen wolle, der müsse sich einen anderen Standort suchen. Ein ziemlich guter Ausblick sei gar nicht so weit entfernt möglich.
Redlin geht von der Plattform herunter, verlässt den Schleusenpark und bleibt etwa hundert Meter entfernt auf dem Uferweg über dem Kanal stehen, dort, wo keine Bäume wachsen. »Wenn wir uns umdrehen, haben wir einen wunderbaren Blick auf den Kanal, auf die Schleuse, all das, was das Bauwerk dort hinten nicht bieten kann«, sagt Redlin.
Ein Tankschiff fährt unterdessen in die vordere Schleusenkammer und parkt gemächlich ein, von diesem Standort unverstellt zu beobachten. Redlin hat da so eine Idee: »Man hätte für kleine Münze ein bisschen Erdreich aufschütten und vielleicht ein paar Betonpflastersteine aus dem Baumarkt hier verlegen können, dann ein schönes Geländer drum herum bauen, und der Bürger hätte wunderbar den Blick genießen können.«
Von hier oben fällt der Blick direkt auf ein überdachtes Häuschen mit Glasscheiben an drei Seiten, links neben der vorderen Schleusenkammer: eine weitere Aussichtsplattform. »In unmittelbarster Nähe zum Kanal, das setzt dem Ganzen noch die Krone auf«, erbost sich Redlin mit Blick auf das Gebäude, das seit Jahrzehnten sogar bei schlechtem Wetter einen Rundumblick gewährleistet.
Aber auf die neue Aussichtsplattform oben verzichten, nur, weil es unten bereits seit Langem eine gibt? Dann hätte der mit EU-Mitteln geförderte Schleusenpark ja ohne sein unbestrittenes architektonisches Highlight auskommen müssen und nur aus einer großen Rasenfläche mit einem kleinen Teich darin bestanden. Wie popelig wäre das denn, gerade im Hinblick auf die erwarteten internationalen Besucherströme?
Holborn gesteht aber ein, dass noch nicht alles ganz optimal sei. »Die Kritik müssen wir uns ein Stück weit anziehen, weil die Situation mit den Bäumen etwas schwierig ist«, sagt er – möchte aber auch, dass die Bemühungen der Stadt entsprechend gewürdigt werden. »Wir versuchen, den bestmöglichen Blick zu bieten, da müssen wir uns mit den Bäumen ein Stück weit arrangieren.«
Er kündigt an, bei den Sichtachsen ein bisschen nachhelfen zu wollen. Dazu werde es einen Rückschnitt geben – es gelte aber auch: »Alte Bäume haben alte Rechte.« Bei allem Verständnis für die Bäume sollten die Sichtachsen breiter gestaltet werden. Ein Kahlschlag hingegen komme nicht infrage, daher stehe fest: »Es wird kein volles Panorama geben.«
Doch eine Sache spielt den gewieften Städtebau- und Tourismusstrategen der Stadt Kiel in die Hände: Vor dem Wiker Balkon gibt es keine Nadel-, sondern nur Laubbäume. »Im Herbst, wenn die Blätter fallen, werden die Menschen den Panoramablick in seiner fast vollen Pracht erleben können«, frohlockt Holborn. Seine Betonungen auf »Panoramablick« und »Pracht« lassen einen das »fast« fast überhören. Aber eben nur fast.
WAS IST DRAUS GEWORDEN?
Kurz nach den Dreharbeiten ist der fast vollprächtige Panoramablick tatsächlich geschaffen worden. Offensichtlich wollte man sich doch nicht allzu lange mit den Bäumen arrangieren. »Die Bäume am Schleusenpark, die zum Zeitpunkt Ihrer Aufnahmen die Sicht vom Wiker Balkon versperrt hatten, wurden kurz darauf abgeholzt«, schreibt die Presseabteilung der Stadt Kiel. »Die Bäume wurden entfernt, um die Blickachsen auf Nord-Ostsee-Kanal und Kieler Förde frei zu machen.« Und wirklich, der Blick ist nun – bis auf fünf Bäume – ziemlich frei: vor allem auf halb verfallene Lagerhallen, die unterhalb der Plattform stehen. Die kann man sehr deutlich erkennen, die Schleuse dahinter jedoch weiterhin nur eingeschränkt. Alle, die Schiffe gut sehen und von Nahem erleben wollen, können ja immer noch ein paar Meter weiter laufen oder die alte Plattform direkt am Kanal aufsuchen.
Die Stadt hat diese Bäume mittlerweile fällen lassen. Nun blickt man statt auf Blattwerk auf halb verfallene Häuser. Die Schleuse sieht man weiterhin kaum.
Anreise
Der Wiker Balkon findet sich in der Herthastraße 30, 24106 Kiel. Die direkt am Kanal liegende »Aussichtsplattform Schleuse« hat die Adresse Maklerstraße 1, 24159 Kiel. Während der Wiker Balkon rund um die Uhr zugänglich ist, öffnet die überdachte Plattform an der Schleuse täglich von 10 bis 18 Uhr.