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Die schönsten Aussichts­plattformen in NRW

Nordrhein-Westfalen ist das Land für Ästheten, das Land für Weitblicker. Um ästhetisch weit blicken und die Schönheiten des Landes in ganzer Pracht erfassen zu können, gibt es hier eine ungewöhnliche Häufung an Aussichtsplattformen. Allesamt von beeindruckender Architektur bieten sie wahrlich atemberaubende Aussichten – zumindest für den, der sich auf diese besonderen Ausgucke auch einlassen und ihre Sinnhaftigkeit erkennen kann. Denn eigentlich wird man den Konstruktionen mit dem schnöden, technokratischen Wort »Aussichtsplattform« nicht gerecht. »Kunst im öffentlichen Raum« trifft es weitaus genauer. Bestes Beispiel dafür: die Aussichtsplattform von Pulheim bei Köln. Natürlich bringt sie alles mit, was eine Aussichtsplattform so braucht. Ein Geländer, eine Plattform und einen herrlichen Ausblick! Und doch unterscheidet sie sich von gewöhnlichen Konstruktionen dieser Art. Sie ist nämlich lediglich 77 Zentimeter hoch.


Dank dieser Plattform erschließt sich den Pulheimern eine ganz andere Perspektive auf ihre Umgebung.

Die Menschen sind begeistert. Endlich können sie ihre Umgebung so ganz anders wahrnehmen und erleben. So 77 Zentimeter höher. »Man steht etwas höher«, stellt ein Passant treffend fest. Ob man mehr sehe als ohne Plattform, könne er nicht sagen. »Da müsste man es relativ hoch noch machen.« Noch höher? Immer höher, schneller, weiter? Was sagt das eigentlich über unsere Gesellschaft aus? Genau diese Fragen wirft die Plattform auf! Denn wenn es allein um den Panoramablick ginge, den es an dieser Stelle zu genießen gilt, dann würden ja auch die beiden Parkbänke genügen, die ohnehin schon zu diesem Zweck dort stehen. Nein, die 8.500 Euro für die 77 Zentimeter hohe Plattform, die waren eine Investition in eine Form von Bewusstmachung, die Pulheim dringend gebraucht hat. Das wissen auch die Aussichtsspezialisten von der Stadt Pulheim, die für die Aussichtsplattform verantwortlich sind. »In dem Moment, wo ich jetzt hier auf die Kanzel steige, erlebe ich diese Aussicht ganz bewusst«, sagt Martin Höschen, während er ganz bewusst die wenigen Stufen zur Plattform hinaufsteigt. »Viel bewusster wahrscheinlich, als wenn ich jetzt einfach nur am Wegesrand stehen würde. In Verbindung mit den Infotafeln, die hier noch angebracht werden, erlebe ich diese Aussicht jetzt ganz intensiv.« Das intensive Erleben der Aussicht, dieses einzigartige Blickerlebnis in Pulheim, dafür sind die 77 Zentimeter da. Ohne die – unmöglich!


»In dem Moment, in dem ich jetzt hier auf die Kanzel steige, erlebe ich diese Aussicht ganz bewusst.« Martin Höschen von der Stadt Pulheim weiß, wofür die 77 Zentimeter gut sind.

Ein anderes Konzept verfolgt die Aussichtsplattform in Herten bei Recklinghausen. Mit ihren sechs Metern Höhe ist sie um einiges größer als die Aussichtsplattform von Pulheim. Das Besondere hier ist eher ihre Lage. Ihr Clou ist nämlich: Sie befindet sich auf dem Gipfel einer stillgelegten Kohlehalde.


Das ist ja wohl der Gipfel! Genau, und deswegen wurde auf die Halde Hoheward noch eine Aussichtsplattform gebaut, für die Beziehung oben/unten, wie Ulrich Carow erklärt.

Das ist natürlich sehr clever. So wird quasi der natürlichen Aussichtsplattform des Gipfels eine künstliche hinzugefügt, die im Prinzip denselben Blick auf die Umgebung vermittelt – in diesem Fall auf die ehemalige Zeche Ewald, die sich dort befindet. Wenn das keine geniale Idee mit Hintergedanken ist! »Wir haben speziell für diesen Standort hier eine besondere Aussichtsplattform errichtet, die die Blickrichtung mit dem ehemaligen Ewald-Standort in der Beziehung von oben nach unten und von unten nach oben besonders organisieren soll«, erklärt Ulrich Carow vom Regionalverband Ruhr. Und seinen Worten ist im Prinzip nichts hinzuzufügen. Versteht sich ja von selbst. Oben unten, unten oben. Und das auch noch besonders organisiert. Chapeau! Das kann der Gipfel der Halde ohne Plattform natürlich nicht leisten.

»Den Besucher erwartet jetzt hier eine ganz andere Atmosphäre«, erklärt Carow weiter, während er auf der Aussichtsplattform steht, »weil er jetzt zwar hier nicht in einem geschlossenen Raum ist, aber er ist jetzt hier noch auf einem speziellen Plateau. Und dieses spezielle Plateau gibt emotional, jedenfalls merke ich das auch so, noch mehr, als wenn er nur auf der großen weiten Ebene geblieben wäre.« Welche Aussichtsplattform kann das schon von sich behaupten? Rein von der Emotionalität ist der Blick von der Plattform nicht mit der herkömmlichen Aussicht zu vergleichen.


Oben der Blick von der Plattform, unten der Blick von unterhalb der Plattform. Doch dort wird die Aussicht nicht so emotional organisiert.

Der Bund der Steuerzahler hat dafür leider so gar kein Auge. »Man muss nicht alles haben, was annehmlich ist. Oder was wünschenswert ist. Man muss auch ganz klar Prioritäten setzen, und Aussichtsplattformen auf dem Gipfel, das hat keine Priorität«, findet Bärbel Hildebrand. Da erkennt wohl jemand offenkundig nicht den Nutzen der Installation. Ulrich Carow vom Regionalverband Ruhr erklärt es gerne noch mal: »Wenn man darauf steht, hat man natürlich nur ein paar Meter mehr Überblick, als wenn man da vorne steht, aber das ist ein Gestaltmerkmal, was eben auch seinen Nutzen hat.« Eben! Stichwort: Beziehung von unten und oben. Und umgekehrt. So viel Nutzen für nur 165.000 Euro. Und das Beste: Nur zehn Kilometer weiter steht noch eine Plattform auf dem Gipfel einer Halde. Auf der Halde Pluto in Herne. Die Aussichtsplattform dort ist ganze fünf Meter hoch. »Da sieht man auf jeden Fall mehr als von unten«, ist Ulrich Carow überzeugt. Auch hier haben sich die 120.000 Euro mehr als gelohnt. In der Ferne sieht man ein Stadiondach, ein Kraftwerk und eine Müllhalde. Das ist doch eine bemerkenswerte Aussicht.

Apropos bemerkenswerte Aussicht. Da darf die Aussichtsplattform am Stadtrand von Köln nicht unterschlagen werden, idyllisch gelegen direkt an der Autobahn 1. Hier wird der aussichtsplattformaffine Betrachter besonders herausgefordert. Denn die 2013 neu gebaute Aussichtsplattform hat streng genommen keine Aussicht. Zumindest keine, die klassischerweise eine Aussichtsplattform rechtfertigen würde.


Nur rund sechzig Meter von der sechsspurigen A 1 entfernt steht dieses Meisterwerk der Aussichtsplattform-Architektur. Schlappe 90.000 Euro hat es gekostet.

Aber genau darin liegt ihr Charme. Denn sie wirft erst einmal Fragen auf. »Warum hier ein acht Meter hoher Stahlturm hin muss, das ist unbegreiflich, wie man so was in so eine Landschaft hineinbauen kann«, bricht es aus einem Passanten heraus. Und das ist das Schöne: Die Aussichtsplattform bringt ihre Besucher dazu, sich mit sich selbst und ihrer Umwelt zu beschäftigen. Wann macht man das heutzutage noch? Gut, die Leute von der Stadt meinen, man hätte hier auch einen großartigen Blick, und haben die Plattform deshalb »Domblick« genannt. Joachim Bauer von der Stadt Köln zum Beispiel findet: »Von dort werden Sie ein Stadtpanorama sehen, das geprägt ist natürlich durch die besonderen Silhouetten wie Dom, Fernsehturm und so weiter. Das ist eine Situation, die gibt’s im Stadtgebiet nicht noch mal.« Das stimmt natürlich auch. Zumal das Stadtgebiet relativ weit entfernt ist, nämlich genau neun Kilometer. Von hier hat man tatsächlich einen fantastischen, weil so ungewohnten Blick auf die pulsierende Großstadt Köln mit all ihren ikonografischen Wahrzeichen, wenn man sie auf die Entfernung denn erkennen kann.

»Wer stellt sich denn hier hin und guckt auf den Dom?«, fragt ein anderer Mann. Schade, dass sich wahre Kunst nicht jedem erschließt. Dabei sind die 90.000 Euro, die die Plattform gekostet hat, doch extrem gut angelegt. »Wahrscheinlich soll man den Stau auf der Autobahn gut beobachten können. Ansonsten, finde ich, ist es Geldverschwendung«, beschwert sich eine Frau, die ungläubig zur Aussichtsplattform schaut. Aber wann kann man schon mal in Ruhe einen Stau beobachten? Gut, wenn man sich in einem befindet. Aber warum nicht einfach mal mit der Familie aus der Stadt rausfahren, auf die Aussichtsplattform steigen und dann wechselseitig erst die Stadtsilhouette, dann den Stau auf der Autobahn betrachten?

Weil sich vielleicht doch nicht alle für Stau interessieren, hat die Stadt ein Stück weiter noch eine Aussichtsplattform aufgestellt. Sie wiederum bietet einen atemberaubenden Blick auf Felder.


»Domblick« heißt die Aussichtsplattform. Und den Dom sieht man ja auch von hier. Dort, ganz hinten, da ist er, nur neun Kilometer entfernt.

»In Nordrhein-Westfalen fallen pro Jahr 6,4 Prozent der Unterrichtsstunden aus. Immer mehr Unterrichtsstunden werden fachfremd unterrichtet. Geschichte vom Sportlehrer, Englisch vom Biolehrer, Mathe vom Kunstlehrer. Ja, es gibt in NRW inzwischen Schulen, wenn die eine Kurvendiskussion machen, dann fangen die an mit Aktzeichnen.«


Und weil man sich an diesen Feldern kaum sattsehen kann, baut die Stadt etwas weiter gleich noch eine Aussichtsplattform! Um auf noch mehr Felder schauen zu können.

»Von da kann der Besucher jetzt diese Landschaft beobachten, die Tiere dieser Landschaft beobachten, aber auch die Jahreszeiten beobachten und letztendlich auch Ackerbau«, schwärmt Joachim Bauer von der Stadt Köln. »Wenn der Landwirt seinen Acker pflügt, wenn er erntet. All diese Dinge, die der Großstädter so nicht mehr wahrnehmen kann.« Herr Bauer muss das wissen. Endlich kann der geneigte Großstädter die Rüben beim Wachsen beobachten, den Regen beim Fallen, den Wind beim Wehen, und das zu jeder Tages- und Jahreszeit. Wenn das nichts ist! Und deshalb hat die Stadt eine weitere Aussichtsplattform gebaut! Auch mit bestem Blick auf Felder, sie heißt daher treffenderweise »Belvedere Felderblick«. Ganze achtzig Zentimeter ist sie hoch. Auch hier gilt: Die Felder sehen aus achtzig Zentimetern Höhe komplett anders aus! Für diese vier Aussichtsplattformen sind 218.000 Euro Steuergeld ausgegeben worden. Achtzig Prozent davon kamen von der Europäischen Union, vom Bund und vom Land Nordrhein-Westfalen, zwanzig Prozent von der Stadt Köln. Man baut halt gerne Aussichtsplattformen im Raum Köln. Da ist es nun wirklich nebensächlich, dass es gar nicht so viele schöne Aussichten wie Plattformen gibt.


Nicht nur die Autobahn kann dank der vier Plattformen betrachtet werden, auch Felder stehen im Fokus. Und Ackerbau, der darauf stattfindet.

Anreise

Um zur 77-Zentimeter-Plattform zu kommen, biegt man im Pulheimer Ortsteil Stommeln von der Bruchstraße in die Hagelkreuzstraße ab. Ein Wirtschaftsweg führt sodann rechts durch die Felder. Auf ihm erreicht man nach rund dreihundert Metern die einzigartige Aussichtsstelle in der Bruchstraße, 50259 Pulheim-Stommeln.

Die Ewald-Empore liegt oberhalb der gleichnamigen früheren Zeche auf der begrünten Halde Hoheward. In einem der industriellen Backsteinbauten am Fuße der Halde ist ein Besucherzentrum eingerichtet, das täglich (außer Montag) von 10 bis 18 Uhr geöffnet hat und über die Bergbaugeschichte in der Region informiert (www.landschaftspark-hoheward.de). Es liegt in der Werner-Heisenberg-Straße 14, 45699 Herten. Unweit davon befinden sich ein Café und ein Biergarten.

Die vier Aussichtsplattformen im Westen Kölns befinden sich alle im »Landschaftspark Belvedere«, am besten zu erreichen über den Carl-von-Linné-Weg oder den Vogelsanger Weg in 50829 Köln. Von hier führen Feldwege zu den Gestängen. Wer nur einen flüchtigen Blick aus dem Autofenster auf die Plattform »Domblick« werfen möchte, der sollte auf der A 1 zwischen den Anschlussstellen Köln-Lövenich und Köln-Bocklemünd rechts aus dem Fenster schauen.


extra 3. Deutschland - Der reale Irrsinn ist überall

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