Читать книгу Die Rosa-Hellblau-Falle - Almut Schnerring - Страница 10

EINLEITUNG

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Wer im Kaufhaus in die Spielzeugabteilung hinauffährt, taucht in einer zweigeteilten Welt wieder auf. Ein ganzes Stockwerk ist unterteilt in zwei Zonen: Auf der einen Seite markieren Blassrosa und Pink, »was Mädchen mögen«. Auf der anderen Seite sind die Verpackungen vorwiegend schwarz und dunkelblau und kennzeichnen das Spielzeugreich der Jungen. Links sind die Regale gefüllt mit pastellfarbenen Pferden, glitzernden Feen, kuscheligen Kuscheltieren, Mini-Küchen und allem, worauf die Puppen nicht verzichten können. Rechts blicken wilde Monster, Ritter und bewaffnete Science-Fiction-Kämpfer durch die Plastikfenster der Spielzeugschachteln, und es stapeln sich die Bausätze für Fahrzeuge und Maschinen. Auf einem ganzen Stockwerk spiegeln sich die traditionellen Rollenzuschreibungen wider, von denen wir glaubten, sie in den vergangenen Jahrzehnten überwunden zu haben.

Hier werden keine Klischees reproduziert oder gar verstärkt, sagen die Marketingstrateg*innen1 der Spielzeugindustrie, hier werden einfach die natürlichen Grundbedürfnisse von Jungen und Mädchen befriedigt. Und sie behaupten, ganz genau zu wissen, was »typisch männlich« und »typisch weiblich« ist. Zwar besteht darüber in der Wissenschaft keinesfalls Einigkeit, und weder Evolutionsbiolog*innen noch Genderwissenschaftler*innen würden allgemeingültige Aussagen dieser Art unterschreiben, aber solange dort noch geforscht wird und Uneinigkeit herrscht, lassen sich Behauptungen wie »Ritter suchen den Wettbewerb, Prinzessinnen wollen dazugehören«2 so erfolgreich verkaufen, dass Eltern und Kinder das zweifelhafte Glück haben, täglich mit einem Überangebot an Waren konfrontiert zu werden, die jeweils ein Geschlecht ausschließen. Rosa Überraschungseier sind »nur für Mädchen«, Capri-Sonne wirbt für einen ›Elfentrank‹, der »speziell auf die Wünsche von Mädchen zugeschnitten« sei. Dagegen werden Turnbeutel mit Dinosauriern ganz selbstverständlich mit Fotos von coolen Jungs beworben, es gibt ganze Buchreihen »Nur für Jungs« und »for girls only«, und auch Lego-City richtet sich an Jungen, denn bei denen »geht’s eher darum, den Schwächling zu besiegen oder auszuschließen«3, wie Dirk Engehausen von Lego sein Wissen um die Grundbedürfnisse der Jungen in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau zusammenfasst.

Warum die Marketing- und Konsumgüterindustrie so auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern pocht, ist leicht nachzuvollziehen. Es lassen sich eben mehr Waren verkaufen, wenn Spielsachen, Zimmereinrichtungen, Bücher und andere Medien, wenn Kleidung, Schulbedarf und auch Freizeitinteressen unserer Töchter nicht gut, zumindest nicht gut genug sind für unsere Söhne und umgekehrt. Im Idealfall bringt das den doppelten Umsatz. Da verwundert es kaum, dass auch die Lebensmittelindustrie ein Stück vom Kuchen abhaben will und inzwischen verstärkt auf Gendermarketing setzt. Dies kommt alles mit dem in der Werbung verbreiteten Augenzwinkern daher und suggeriert, dass wir doch alle Bescheid wissen, dass wir die eigentlichen Klischees längst überwunden haben und ganz befreit damit spielen können. Gerne glauben wir Erwachsenen, dass wir mit den Werbebotschaften gut umgehen können, dass wir den Überblick behalten, uns nicht manipulieren lassen, doch nicht »von denen«. Aber gilt das auch für unsere Kinder? Und bleiben wir selbst wirklich so unbeeinflusst von all den Rollenklischees, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden? Sorgt nicht allein die schiere Menge an Klischeefiguren in Werbung, Film und Literatur dafür, dass sich unser Blick auf die Welt verändert, dass uns inzwischen normal erscheint, was wir bei genauerem Hinweisen gar nicht haben wollen für uns und unsere Kinder?

Viele Eltern sind von den allgegenwärtigen Geschlechterklischees genervt und nicht länger bereit, die Trennung der Kinderwelt in Rosa und Hellblau hinzunehmen. Nur lassen sie sich nicht so einfach ausblenden. Wer die Spielzeugabteilung erfolgreich umschifft hat, wird zwischen Schuhregalen wieder darauf aufmerksam gemacht. Wer beim Schulranzenkauf die Schmetterlinge und Roboter hinter sich gelassen hat, sieht sich im Sportverein beim »Prinzessinnen-Cup« wieder damit konfrontiert. Wenn Kinder aber ständig von Klischees umgeben sind, können wir dann wirklich noch behaupten, sie hätten eine freie Wahl?

Das Verhältnis der Geschlechter bietet seit Jahrzehnten konfliktreichen Gesprächsstoff unter Wissenschaftler*innen, in Politik und Medien, im Freund*innenkreis, auf dem Elternabend.* Es gibt radikale Ansichten darüber, was sich verändern sollte, und ebenso traditionsbewusste Meinungen, was es unbedingt zu bewahren gilt. Doch egal welche der angebotenen Positionen Eltern selbst einnehmen, in einem Punkt sind wir uns scheinbar alle einig: Unsere Kinder sollen unabhängig von ihrem Geschlecht die gleichen Chancen haben, sich zu entwickeln. Unser Grundgesetz garantiert in Artikel 2 allen das Recht auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Und in Artikel 3 steht: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Die Europäische Union hat ihre Strategie, die Chancengleichheit für Frauen und Männer in Institutionen, Organisationen und Politik zu verwirklichen, unter dem sperrigen Begriff ›Gender Mainstreaming‹ zusammengefasst und 1997 im Amsterdamer Vertrag verankert. ›Gender Mainstreaming‹ gilt seitdem für alle Mitgliedsstaaten als verbindliches Prinzip. Ziel ist es, »bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt«4, wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf seinen Internetseiten erklärt.

Es herrscht also ein allgemeiner Grundkonsens darüber, Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht gleichberechtigt zu behandeln und zu erziehen, wir leben schließlich im 21. Jahrhundert, und das Thema Gleichstellung ist nicht neu. Es ist im Gegenteil so alltäglich geworden, dass sich eine gleichberechtigte Behandlung unserer Kinder auf den ersten Blick gar nicht als Problem darstellt. Schon unsere Eltern waren darauf bedacht, Jungen auch mal eine Puppe und Mädchen einen Technikbaukasten zu schenken. Und wir Eltern von heute sind ja die Kinder dieser 1970er- und 80er-Jahre, in denen die Gleichbehandlung der Geschlechter hoch im Kurs stand, ebenso der Glaube daran, die gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse nachhaltig verändern zu können. Doch je tiefer dieser allgemeine Konsens Eingang gefunden hat in die deutsche und europäische Gesetzgebung, desto stärker wuchsen Unbehagen und Widerstand gerade auch bei Menschen, die eigentlich eine gleichberechtigte Erziehung befürworten. Und je vielfältiger sich die Rollenangebote und Familienmodelle entwickelten, je fließender die Grenzen, je größer also die tatsächliche Wahlfreiheit wurde für Frauen wie für Männer, desto stärker wurde zugleich das Bedürfnis nach klarer Abgrenzung, nach deutlichen Regeln und damit verbundener Sicherheit für das eigene Handeln. Deshalb wird das Konzept des ›Gender Mainstreaming‹ in der aktuellen Diskussion von vielen nicht länger als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Welt betrachtet. Das Anliegen, Frauen und Männern, Jungen und Mädchen dieselben Chancen zu ermöglichen, wird gern als Gleichmacherei abqualifiziert; von Umerziehung ist die Rede, wenn die geschlechtliche Zuordnung von Eigenschaften und Interessengebieten infrage gestellt wird. So ist es schwierig geworden, das Wort ›Gender‹ überhaupt zu verwenden, ohne sich gleich dem Vorwurf auszusetzen, evolutionsbiologische Forschungsergebnisse zu ignorieren. Auf der anderen Seite wird allerdings kaum jemand bestreiten, dass unser Verhalten und unsere Interessen durch die Gesellschaft beeinflusst werden, in die wir hineinwachsen.

Es ist ein ewiges Hin und Her: Biologie oder Sozialwissenschaften, Hormone oder Umwelteinflüsse, Frauen gegen Männer, Gene oder erzieherische Verantwortung, Jungen gegen Mädchen. Es ist ein Gegeneinander, das nicht weiterführt, sondern uns im Gegenteil anfällig macht für die Einflüsterungen der Konsumgüterindustrie. Es macht uns manipulierbar bis in unser eigenes Selbstverständnis hinein, und es schränkt die Möglichkeiten unserer Kinder empfindlich ein, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Deshalb schreiben wir dieses Buch, gemeinsam als Mutter und Vater von drei Schulkindern, zwei Töchtern und einem Sohn, weil wir der Überzeugung sind, dass wir den Weg zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft nur gemeinsam gehen können, als Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und sozialer Schicht, gemeinsam und für eine Gesellschaft, in die wir unsere Kinder gerne hineinwachsen sehen und in der wir selbst gerne alt werden möchten. Wir sind überzeugt, dass uns der aktuelle Fokus in Forschung und Marketing, nämlich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu betonen, immer weiter auseinanderführt.

Wir wollen stattdessen nach den Gemeinsamkeiten suchen, nach den Überschneidungen, nach dem, was uns verbindet. Wir wollen unseren Kindern nicht zwei Alternativen anbieten, sondern tausend. Wir wollen nicht länger in die Vergangenheit schauen und nach Verantwortlichkeiten suchen, wer wann was verschuldet oder zu welchem Zeitpunkt versäumt hat. Wir wollen uns nicht länger mit einer – oft hypothetischen – grauen Vorzeit beschäftigen, um unsere heutige zu verstehen. Wir wollen nach vorne schauen und uns Gedanken machen, was wir heute bewirken können, um dem Ideal einer geschlechtergerechten Erziehung ein Stück näher zu kommen. Die Frage ist also nicht, wie es dazu kam, dass wir so verschieden sind, die Frage lautet: Wollen wir an diesem Zustand etwas verändern? Wer in der jetzigen Situation, in der Gleichstellung der Geschlechter Verbesserungspotenzial sieht, hat allen Anlass, sich über gesellschaftliche Einflüsse Gedanken zu machen. Und da sich die Menschen in Deutschland darauf verständigt haben, Hundekacke in Plastiktüten aufzusammeln und zum nächsten Mülleimer zu tragen, sich eine ganze Infrastruktur um Hundekacktüten entwickeln konnte in den letzten Jahren, da sollte es doch möglich sein, unser Zusammenleben auch an entscheidenderer Stelle zu verändern!

Die Rosa-Hellblau-Falle

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