Читать книгу Die Rosa-Hellblau-Falle - Almut Schnerring - Страница 7
#ROSAHELLBLAUFALLE 2021
ОглавлениеAls wir 2012 mit der Recherche für die erste Auflage dieses Buch begannen, hatten wir in unserem Umfeld kaum Gleichgesinnte, mit denen wir uns über das Phänomen der Rosa-Hellblau-Falle® hätten austauschen können. Tatsächlich gab es noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür, und wir überlegten hin und her, welchen Titel wir überhaupt wählen könnten, der unkompliziert auf den Punkt bringt, was uns mit drei Kindern jeden Tag, mal bewusster, mal unbewusst begegnete und im Weg stand: Die Zuweisung von Interessen, Eigenschaften, Farben, Fähigkeiten und Berufswünschen nach Geschlecht. Eine Gleichmacherei in Medien und Werbung, die alle Mädchen über den pinken Kamm schert und alle Jungs als wilde Raufbolde abstempelt. Die Hierarchie zwischen »Aber Hallo, an der ist wohl ein Junge verloren gegangen?!« und »Heul nicht, sonst denken die Anderen noch, du wärst ein Mädchen!«, die letztlich bis ins eigene Berufsleben hineinreicht, wo ein und dasselbe Verhalten einmal als durchsetzungsstark beziehungsweise als zickig bewertet wird, je nachdem, ob es um einen Mann oder eine Frau geht.
Die Rosa-Hellblau-Falle® war noch nicht besetzt, und so sollte es denn sein. Wir benannten unseren Blog danach, gründeten eine Facebook-Gruppe und waren schnell erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit unseren Zweifeln und unserem Staunen darüber, was so schlimm daran sein soll, wenn unser Sohn die geblümte Jacke seiner Schwester trägt, warum Tanzen und Weinen als unmännlich gilt, und wie es dazu kommt, dass Mädchen in vielen Familien so viel selbstverständlicher in die alltägliche Familienarbeit einbezogen werden als Jungen. Die Überraschungseier mit rosa Blümchen waren gerade auf den Markt gekommen, es gab neuerdings violette Legosteine, und wir dachten, jetzt wäre aber langsam mal gut mit dieser »extra für Mädchen«-Werbeoffensive, die immer so ein bisschen nach Frauenförderung klingt, aber natürlich das genaue Gegenteil meint und bewirkt. Wie naiv wir waren!
Eigentlich wollten wir uns ja am liebsten direkt wieder abschaffen, hätten uns gewünscht, die Inhalte dieses Buchs würden sich wenige Jahre später bereits wieder als irrelevant erwiesen haben. Einige Jahre sind nun vergangen seit der Erstauflage 2014, und als Autor*innen freuen wir uns zwar über das anhaltende Interesse, gleichzeitig macht es uns doch fassungslos, dass sich keins der Kapitel erledigt hat, auch heute nicht. In manchen Bereichen ist die Situation nicht nur unverändert geblieben, sondern noch extremer geworden. Gender-Reveal-Partys zum Beispiel, ein Trend aus den USA, erfreuen sich auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit: nicht nur, dass weit über 80 Prozent der werdenden Eltern gerne wissen wollen, welche Geschlechtsorgane ihr Ungeborenes hat (vgl. Kapitel 2), sie wollen sie auch klischeevoll feiern. Dafür färben sie das Innere von Kuchen, die dann beim Aufschneiden Rosa oder Hellblau enthüllen, lassen Luftballons in der entsprechenden Farbe aufsteigen oder entzünden mit Farbpulver gefüllte Raketen – in Kalifornien hat im Herbst 2020 eine solche Aktion einen tagelangen Waldbrand ausgelöst. »Was wird es denn?« – die Frage, mit der alles Leben beginnt, scheint noch wichtiger geworden zu sein.
War Rot vor einigen Jahren noch eine Farbe, die auch Jungen tragen durften (vgl. Kapitel 3), werden Eltern heute auf Spielplätzen angesprochen, gar gemaßregelt, warum sie ihrem Sohn denn eine rote Jacke gekauft hätten. Selbst Schuld, wenn das Kind dann als Mädchen angesprochen wird. Ist das so? Markieren wir neuerdings farblich das Geschlecht unserer Kinder, und suchen, damit Fremde es erkennen, die von Firmen entsprechend gelabelte Kleidung und Spielzeuge aus? Oder sollte es nicht erst einmal darum gehen, was uns und unseren Kindern gefällt, weil die individuelle Wahl doch wichtiger ist als ein Etikett? Allerdings gibt es inzwischen kaum mehr einen Produktbereich, in dem Waren nicht getrennt nach Rosa und Blau beziehungsweise Pink und Mattschwarz angeboten werden. Oft ist die pinke Version dann sogar etwas teurer. Dieses Preisgefälle in Rosa-Blau, das vor allem auf Drogerieprodukte angewandt wird, zum Beispiel bei Rasierern, bei Shampoo oder Parfum, gibt es auch in anderen Bereichen, wie eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Gender Pricing1 2017 aufgezeigt hat, die diese Strategie eindeutig als diskiminierend einstuft. Von Hersteller*innen wird sie trotzdem verteidigt, indem die Verantwortung den Konsumentinnen angelastet wird: Selbst schuld die Frauen, wenn sie für die pinke Variante mehr bezahlen. Wirklich? Und vor allem: dürfen und wollen wir das dann auch Kindern anlasten?
Beim Kleiderkauf erkennt man heute noch deutlicher als vor ein paar Jahren die für Jungen gedachte Abteilung an der grün-braun-schwarz-matsch Farbpalette, an Botschaften rund um Coolness-Motoren-wilde Tiere. Farbenfroh, Glitzer-Lila-Rosa, aber auch Ponys, Regenbögen, Einhörner, Herzen und niedliche Tiere sind dagegen Mädchen vorbehalten2. Ausnahme: Es soll tatsächlich einmal ein paar Wochen lang Wendepailetten-Shirts mit Dinosauriern gegeben haben! Gendermarketing, die Werbestrategie, Produkte nach Geschlecht zu sortieren, hat den Regenbogen für Jungs eingeführt – für Kinderstoffe in sogenannten Jungenfarben wird das Violett ersetzt durch Grau. Und sie hat dazu beigetragen, dass sich Eltern im Kleiderkreisel vergewissern, ob das Shirt mit Dinosaurier-Aufdruck nicht vielleicht doch ungeeignet sei für den Sohn, weil der Dinosaurier einen Hauch von rosa Wangen hat. Sie hat unterstützt, dass beim Schuhkauf die Frage nach dem Geschlecht noch vor der Frage nach der Größe der Füße kommt. Eltern müssen sich fragen lassen, ob der Säugling im Kinderwagen wirklich und wahrhaftig ein Junge sei, mit so langen Wimpern? Sie hat mit dafür gesorgt, dass die meisten Interessen, Spielzeuge und Materialien nach Geschlecht sortiert werden, obwohl Bausteine, Puppenhäuser und Strickliesel in den 1970ern für alle da waren und sich auch seit den 1990ern die meisten Schulen einig wurden, dass aus pädagogischer Sicht nichts dafür spricht, Mädchen vom Werken und Jungen vom Nähen auszuschließen. Heute untergraben Marketingteams diesen Konsens und so manche*r beginnt in Folge zu zweifeln und jongliert in biologistischer Argumentation mit Hormonen, Genen und Steinzeitbrocken.
Rollenstereotype sind Jahrhunderte alt, aber nicht so alt, wie viele vielleicht meinen (vgl. »Die Rollenverteilung des Biedermeier« im Kapitel 5). Und allein in den Jahren seit Erscheinen der Rosa-Hellblau-Falle® haben Entdeckungen und Entwicklungen gezeigt, dass das binäre Weltbild nicht annähernd so unverrückbar und naturgegeben ist, wie jene behaupten, die »Ideologie« rufen, sobald sie das Wort »Gender« hören. So haben Archäolog*innen 2016 herausgefunden, dass der berühmte Wikingerkrieger von Birka in Schweden eine Frau war – Schwerter und Pfeilspitzen wurden jahrzehntelang als typische Grabbeigaben eines Mannes interpretiert. Ein Irrtum. Oder die ‚Liebenden von Modena‘, als Symbol ewiger Liebe zwischen Mann und Frau gedeutet – 2019 stellte sich heraus, es handelte sich um zwei Männer. Weitere Meilensteine auf dem Weg #RausAusDerFalle war 2017 der Beschluss des Deutschen Bundestags zur »Ehe für alle« und im selben Jahr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für einen dritten positiven Geschlechtseintrag. In Frankreich wurde 2018 ein Gesetz gegen Sexismus und damit auch gegen sexistische Werbung verabschiedet, und in Großbritannien warnt die ASA, die britische Entsprechung des deutschen Werberates, vor den Folgen stereotyper Werbebotschaften und hat 2019 eine Selbstverpflichtung dazu veröffentlicht. Allein die Sichtbarkeit und Relevanz junger Frauen wie Greta Thunberg und Malala Yousafzai oder die zunehmende Zahl an Ländern, die von Frauen regiert werden, zeigen, dass sich viel getan hat in den vergangenen, wenigen Jahren.
Trotzdem bleibt mit dem Gender Care Gap die Hauptursache für die geschlechtliche Lohn-, Renten- und Vermögenslücke nahezu unberührt. Er verhindert darüber hinaus die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und das politisches Engagement von Frauen und verringert damit ihren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse. Das hat nicht nur negativen Einfluss auf ihr individuelles Vorankommen, sondern steht auch wirtschaftlichen wie ökologischen Zielen im Weg. Der »Global Gender Gap Report 2020«3 zeigt, dass es noch ein Jahrhundert dauern wird, bis die Gleichberechtigung weltweit abgeschlossen sein wird, wenn wir keine zusätzlichen Maßnahmen ergreifen, um die Entwicklung zu beschleunigen. Wollen wir wirklich so lange warten?