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Geschlechtsneutral oder geschlechtergerecht?

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Aber was gehört zu einer geschlechtergerechten Erziehung, was bedeutet das im Detail? Wie können wir den allgemeinen Wunsch, unsere Kinder gleichberechtigt zu erziehen, konkret umsetzen? Denn rosa und hellblaue Fallen tun sich überall auf im Alltag mit Kindern. Die Zweiteilung ist uns so geläufig, dass wir die allgegenwärtige Zuordnung und die Betonung des Geschlechts gar nicht mehr wahrnehmen. Opa sagt zu Simon: »Toll, mit kurzen Haaren siehst du wieder aus wie ein richtiger Junge.« Natürlich möchte Simon »richtig« sein, er weiß jetzt: Lange Haare sind nichts für Jungen. In der Krabbelgruppe sagt eine Mutter mit Blick auf den halbjährigen Finn: »Ooch, guck, der flirtet schon mit mir, wie süß!«, und die vierjährige Svea soll nicht ohne Bikini-Oberteil ins Wasser. – Was bewegt uns dazu, Begriffe, Kleidung und Symbole von Erotik und Sexualität in die ersten Lebensjahre unserer Kinder vorzuverlegen, während Eltern in Deutschlands Südwesten gegen die angebliche »Frühsexualisierung« in Kitas demonstrieren und damit die Aufklärung über genau dieses Problem verhindern? (correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2017/05/25/fruehsexualisierung-die-angeblichebedrohung-der-kindheit/)? Es ist naheliegend, dass wir Rollenvorstellungen, mit denen wir selbst aufgewachsen sind, zunächst einmal an unsere Kinder weitergeben: Beim Familienausflug mit der Klasse spazieren 25 Kinder durch den Wald: »Annika, du machst deine Jacke schmutzig, wenn du so den Hang runterrutschst«; aber: »Los, Max, geh doch auch auf die Baumstämme hoch, du bist doch ein guter Kletterer!« Nacherzählt klingen solche Bemerkungen wie längst überholte Klischees, doch wer einmal darauf achtet, wird überrascht sein, wie viele davon unsere Kinder jeden Tag zu hören bekommen, beiläufig, unachtsam und ohne bösen Willen. Und wer einmal damit angefangen hat, die Zuschreibungen zu hinterfragen, merkt, dass ein »gleich behandeln« gar nicht möglich ist, obwohl viele Eltern ihr eigenes Erziehen genau so beschreiben. Da es aber keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, kann es auch keine geschlechtsneutrale Erziehung geben. Eine geschlechtergerechte5 oder geschlechtersensible dagegen schon. Dazu gehört, dass Erwachsene Unterschiede wahrnehmen und mehr noch, dass sie sich bewusst sind, selbst Unterschiede zu machen.*

Geschlechterrollen sind historisch gewachsen und daher veränderbar. Wer sich ein gerechtes Miteinander unabhängig vom Geschlecht wünscht, ist gefordert, sein eigenes Mitwirken an den Regeln unserer Welt aufzuspüren, eine Welt, die auf Zweigeschlechtlichkeit in allen Bereichen Wert legt und in der Heterosexualität als Norm gilt. Das bedeutet, einen Blick dafür zu entwickeln, ob im eigenen Alltag bestehende Verhältnisse stabilisiert werden oder ob eine kritische Auseinandersetzung und damit Veränderung möglich ist. Eine Erziehung, die Kindern unabhängig vom Geschlecht gleiche Chancen vermitteln möchte, ist untrennbar verknüpft mit unseren Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer in Zukunft zusammenleben sollen und was wir unseren Kindern dafür mit auf den Weg geben. Sie ist verknüpft mit Fragen zur Rollenverteilung in den Familien und der aktuellen Debatte über die Frauenquote und über die Benachteiligung von Jungen durch unser Bildungssystem. Mit der Diskussion über Pädophilie im Zuge der sexuellen Befreiung in den 70er-Jahren und dem heute selbstverständlichen Warenangebot von Push-up-BHs und Stringtangas in Größe 116. Mit der zunehmenden Unzufriedenheit kleiner Mädchen mit ihrem eigenen Körper und nicht zuletzt der #aufschrei-Debatte.

Die Rollenklischees der Kinderwelt infrage zu stellen, ist kein Nischenthema für überambitionierte Eltern, sondern die Voraussetzung für ein gleichwertiges Miteinander aller. Sie geht uns alle an, weil unsere Entscheidungen die Zukunft unserer Kinder mitbestimmen und weil die Entscheidungen, die wir im Alltag mit Kindern treffen, deren Weltbild mit prägen. Dabei ist es egal, ob es unsere eigenen Kinder sind oder die Kinder von Freund*innen, Nachbar*innen, die Kinder von Fremden, ob wir Kinder als unsere Kund*innen betrachten, als Zielgruppe oder als Publikum. Wir alle haben Einfluss darauf, weil wir als Erwachsene die Lebensumwelt der Kinder gestalten durch Werbung, Geschichten und Filme, durch Spielzeug- und Freizeitangebote, durch Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, durch unser alltägliches Zusammen- und Vorleben.

Den Einstieg ins Thema beginnen wir deshalb mit zwei Beispielen, »Mädchen und Mathematik« – »Jungen und Einfühlungsvermögen«, da hier offensichtlich wird, wie klassische Vorstellungen die Wahlmöglichkeiten unserer Kinder einschränken und zugleich Einfluss haben auf unser Zusammenleben als Erwachsene. Dann blicken wir in verschiedene Themenbereiche, die im Aufwachsen eines Kindes eine Rolle spielen. In jedem dieser Bereiche begegnen Kinder Zuordnungen zum einen oder anderen Geschlecht, die sie in ihrer Wahlfreiheit einschränken. Das beginnt schon vor der Geburt: Als zukünftige Eltern beeinflussen wir die Welt unserer Söhne und Töchter durch unsere Haltung und unsere Vorstellungen vom ungeborenen Kind. Wird sie rosa oder hellblau? Warum nicht auch gelb oder regenbogenfarbig? Wir haben die Kita Sonnenblume in der Nähe von Köln besucht und uns mit Susanne Wunderer getroffen, die Fortbildungen zu gendersensibler Pädagogik in Kindertagesstätten durchführt.

Von Werbung und Marketing werden Mädchen und Jungen immer stärker in Klischees gepresst. Ein Besuch in der Spielzeugwelt von Kuschel-Einhorn, G-Force-Heroes und Prinzessinnen-Laptop soll Antworten daraufliefern, welchen Einfluss die hier vermittelten Bilder haben. Welche Rolle spielen Barbie, High Heels, Prinzessinnenkostüme? Und haben die Rollenklischees der Werbung Einfluss auf das Körperbild unserer Kinder? Mit Stevie Schmiedel vom Verein Pinkstinks haben wir über pinkfarbenes Spielzeug und sexualisierte Werbung gesprochen.

Männersenf und Frauenbier, Elfentrank und rosa Überraschungseier: Verändert Gendermarketing unsere Essgewohnheiten? Haben unterschiedliche Freizeit- und Bewegungsangebote für Mädchen und Jungen Einfluss auf den eigenen Körper? Und wie sieht es mit Filmen, Büchern und Computerspielen aus, die sich an Jungen und Mädchen richten? Frauen gehen zur Vorsorge, Männer zur Reparatur; Mädchen wollen Topmodel werden, Jungen träumen von sich als Spitzensportler. Welchen Einfluss hat die Schule auf die spätere Berufswahl unserer Kinder, was bringen der Girls’ und Boys’ Day, und welche Botschaft kommt bei Mädchen und Jungen durch monoedukativen Unterricht an? Welches Bild der Welt vermitteln wir Kindern über die Sprache? Wir haben uns mit Lann Hornscheidt, Professx für Gender Studies und Sprachanalyse, unterhalten, um mehr zu erfahren über Sprache und Macht. Nils Pickert, Journalist, Teilzeitrockträger und Vollzeitfeminist, hat uns erzählt, warum seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft Individualität großgeschrieben wird und trotzdem nicht alle sein können, was und wie sie gerne möchten..

Es ist aber umständlich, jedes Mal die weibliche Form mit zu berücksichtigen, und ein rosa Kinderzimmer ist doch hübsch! Lasst doch die Kinder in Ruhe, die komplizierten Regeln des Erwachsenenlebens kommen früh genug – Einwände, das Thema in den ersten Jahren noch ruhen zu lassen, gibt es genug. Doch wer geschlechterstereotypen Vorstellungen nichts entgegenzusetzen hat, bringt sie zwangsläufig immer wieder neu hervor. Diesen Kreislauf gilt es im Interesse unserer Kinder zu durchbrechen. Denn am Ende des Tages lässt sich alles auf einzelne Ereignisse zurückführen, in denen wir und andere Menschen Entscheidungen treffen, Aussagen machen und handeln. Manchmal genügt es, den Blickwinkel ein klein wenig zu verschieben. Noch mal genauer zuzuhören beim nächsten Kindergeburtstag, etwas genauer nachzufragen, wenn wir unsere Kinder abholen in der Kindertagesstätte, und etwas länger zu zögern beim nächsten Einkauf in Rosa oder Hellblau. Und plötzlich wird klar, dass wir Einfluss haben; wir können uns und unser Umfeld verändern. In den kleinen Augenblicken des Alltags haben wir die Entscheidungsfreiheit, da ergeben sich Handlungsspielräume, in denen wir selbstbewusst agieren können.

* In all diesen Formulierungen zeigt sich ein Grundproblem, das sich auch durch dieses Buch zieht: es werden Frauen und Männer adressiert in Gesetzestexten, vor allem aber in Werbung und Marketing, in Büchern und Berichten in den Medien, im alltäglichen Sprechen. Das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Oktober 2017, gesetzlich umgesetzt zum 1. Januar 2019 hat deutlich gemacht, dass diese binäre Teilung den medizinischen und psychologischen, den gesellschaftlichen und individuellen Verhältnissen nicht gerecht wird. Wir alle sind gefordert, die reale Diversität sichtbar zu machen und zu normalisieren.

* Weil der Gender Care Gap als Ursache für den Gender Pay Gap zum Zeitpunkt unserer Recherchen für die Erstauflage der Rosa-Hellblau-Falle nur wenig bekannt war, wenig diskutiert und bis dahin auch nicht berechnet worden war, haben wir 2016 den »Equal Care Day« ins Leben gerufen. Einen bundesweiten Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Care-Arbeit. Weil Care-Arbeit als »unsichtbare Arbeit« zu wenig Berücksichtigung erfährt im aktuellen Wirtschaftsstystem, haben wir den Equal Care Day auf den unsichtbaren Tag im Jahr gelegt, den 29. Februar, der nur alle vier Jahre begangen wird. Mehr dazu unter equalcareday.de

Die Rosa-Hellblau-Falle

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