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Die Macht der Rollenklischees

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Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die den Einfluss stereotyper Ansichten auf das Selbstbild und auf die Leistungen von Erwachsenen nachweisen. Claude M. Steele von der Stanford University, Kalifornien, nutzte den Begriff ›Stereotype Threat‹ zum ersten Mal, als er 1995 in mehreren Experimenten nachweisen konnte, dass Schwarze College-Studierende in Tests schlechter abschnitten, wenn sie zuvor auf ihre Hautfarbe hingewiesen wurden4. Fiel dieser Hinweis weg, schnitten sie gleich gut und besser ab als die übrigen Teilnehmenden. Später teilte er Testpersonen in zwei Gruppen auf, die in ihren mathematischen Leistungen vergleichbar waren. Der einen Gruppe wurde gesagt, dass Männer und Frauen bei diesem Mathetest bisher immer sehr unterschiedlich abgeschnitten hätten, bei der anderen Gruppe gab es keinen Hinweis zum Geschlecht. In der ersten Gruppe fiel das Ergebnis der Frauen deutlich schlechter aus als in der Kontrollgruppe. Und eine Folgestudie5 zeigte, dass dieser Effekt noch zunimmt, je größer die mathematischen Kenntnisse der Teilnehmenden sind und je wichtiger sie ihre Fähigkeiten und damit auch die Testergebnisse nehmen. Die Aufgaben dieses Mathetests stammten aus dem Graduate Record Examination Test, den US-amerikanische Student*innen absolvieren müssen, wenn sie an einer Universität Naturwissenschaften studieren wollen. Die Stereotypbedrohung wirkte in diesem Experiment gleich in zweierlei Hinsicht. Das negative Vorurteil beeinflusst die Teilnehmerinnen in ihren Leistungen, denn ein Teil ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit ist permanent damit beschäftigt, die negativen und störenden Gedanken zu unterdrücken. Hinzu kam in diesem Fall die Angst, durch das eigene Scheitern die negativen Vorurteile zu bestätigen oder gar zu verstärken. Weil die getesteten Frauen sich in ihrem Selbstverständnis als lebenden Gegenbeweis für dieses Stereotyp fühlten, waren ihre Versagensängste entsprechend größer. Beide Faktoren sind nicht gerade geeignet, gute Leistungen bei einem Mathetest zu erzielen. Trotzdem schnitten die beteiligten Frauen unter Stereotypbedrohung nicht schlechter ab als die übrigen Teilnehmenden. Das überraschende Ergebnis war, dass die Frauen in der Gruppe ohne die Bedrohung durch Stereotype signifikant besser waren als alle anderen Teilnehmenden. Das führte die Forscher*innen zu der Schlussfolgerung, dass der Graduate Record Examination Test, wie auch viele andere Prüfungen, üblicherweise in einem Szenario stattfinden, das die eigentlichen Fähigkeiten der Studentinnen unterdrückt. In diesem Zusammenhang betrachtet, bekommt der subjektive Eindruck vieler Frauen, in vergleichbaren Situationen mehr leisten zu müssen als ein Mann, um die gleiche Anerkennung zu bekommen, eine ganz neue Bedeutung.

Trotz einer Fülle von Studien zur Wirkung von negativen Vorurteilen und Stereotypien und obwohl deren Ergebnisse seit Mitte der 1990er-Jahre regelmäßig veröffentlicht werden, haben sie wenig Einfluss auf unser Urteilen im Alltag, auf unsere Einschätzung von weiblichen und männlichen Misserfolgen im mathematischen beziehungsweise sprachlichen Bereich und darüber hinaus. In Online-Diskussionen melden sich Skeptiker*innen in der Regel mit persönlichen Anekdoten zu Wort, um damit die Ergebnisse von Studien zu widerlegen. Und selbst im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wischt Bettina Weiguny die Forschung von mehreren Jahrzehnten mit einem Satz vom Tisch: »Ich hab da so meine Zweifel. Mein Mann rechnet nämlich auch lieber als ich.« Und fügt hinzu, ihre älteste Tochter komme ganz nach ihr: »Wahrscheinlichkeitsrechnung ist bei uns ein Bauchgefühl.«6 Ein Bauchgefühl, das weitervererbt wird? Solche Alltagstheorien, die wir aus unseren persönlichen Erfahrungen heraus entwickeln, reichen oft schon aus, uns davon zu überzeugen, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen relativ sind, fehlerhaft, ja geradezu manipulierend. Und da wir in der Regel selbst keine Statistiken erstellen, glauben wir dann gar keiner mehr, sondern vertrauen ganz auf unseren persönlichen Erfahrungsschatz.

Diese Alltagstheorien werden gestützt durch den sogenannten ›confirmation bias‹. Dieser ›Bestätigungsfehler‹ bezeichnet in der Psychologie die menschliche Tendenz, Informationen bevorzugt dann wahrzunehmen und zu erinnern, wenn sie unsere eigene Meinung bestätigen. Informationen, die ihr widersprechen, vergessen wir schneller wieder oder nehmen sie gar nicht erst als relevant wahr. »Es hört doch jeder nur, was er versteht«, befand Johann Wolfgang von Goethe, und bis heute leuchten uns besonders die Beispiele ein, die unser eigenes Weltbild untermauern. So fallen uns immer wieder Beispiele ein, in denen Männer bei handwerklich-technischen Arbeiten irgendwie doch geschickter sind oder bei einer mathematischen Herausforderung schneller zum Ergebnis kommen. Die Beispiele scheinen unsere Ansicht zu bestätigen und liefern immer wieder netten Gesprächsstoff unter Freund*innen. Ob sie sich nun statistisch belegen oder mit Studien widerlegen lassen, spielt dann keine Rolle mehr. Der ›Bestätigungsfehler‹ wirkt umso stärker, je unangenehmer es uns ist, das eigene Selbstverständnis, die eigenen Erfahrungen und die eigenen Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Es ist eben beunruhigend, wenn das eigene Weltbild ins Wanken gerät. Und ein bisschen Traditionsbewusstsein kann doch nicht schaden, zumal es das Leben entschieden einfacher macht. Für wen eigentlich? Für Frauen, die sich für Maschinenbau interessieren? Für Männer, die in Grundschulen arbeiten? Für Jungen, die sich ein Puppenhaus wünschen, und Mädchen, die gerne mit lautem Motorengeräusch durch den Kindergarten brausen?

Botschaften zwischen den Zeilen, unterschwellige Bilder, die Frauen auf ihre geschlechtliche Zugehörigkeit hinweisen und klischeehaftes Verhalten damit verknüpfen, können schon ausreichen, um als psychische Bremse zu wirken auf Frauen, die sich in einem Feld behaupten wollen, das typischerweise Männern zugeschrieben wird. Das kann zum Beispiel eines der zahlreichen Plakate sein, die einem auf dem Weg zur Arbeit einen Bikini oder eine Versicherung verkaufen wollen, oder ein Spot auf dem Infoscreen am Bahnhof, in dem eine total gut gelaunte Langhaarige vor Freude über das tolle neue Deo auf ihrem Bett auf und ab hüpft. Wer auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch oder Vertragsverhandlungen ist, wird dadurch in seiner Selbsteinschätzung beeinflusst. Und je stärker Rollenklischees auf Plakaten oder in Werbespots bedient werden, desto schlechter schneiden Frauen ab, wenn sie im Anschluss ihre mathematischen Fähigkeiten in einem Test beweisen sollen7.

Eine Forschungsarbeit der Harvard Universität8 belegte die unterschiedlichen Wirkungsweisen des ›Stereotype Threat‹ anhand von zwei auch in den USA verbreiteten Vorurteilen, dass nämlich erstens Frauen schlechter sind in Mathematik als Männer und zweitens Menschen asiatischer Herkunft über besonders gute mathematische Fähigkeiten verfügen. In diesem Test schnitten Studentinnen asiatischer Herkunft besser ab als die Kontrollgruppe, wenn sie im Vorfeld auf ihre ethnische Herkunft hingewiesen wurden. Das in diesem Fall positive Vorurteil wirkte also beflügelnd. Wurden die Studentinnen allerdings auf ihr Geschlecht aufmerksam gemacht, waren ihre Ergebnisse deutlich schlechter. In den USA fordern Wissenschaftler*innen deshalb, das Kreuzchen für männlich und weiblich oder auch Angaben zum ethnischen Hintergrund erst im Anschluss an einen Test abzufragen, um einer Stereotypbedrohung vorzubeugen.

Mit dem Geschlecht verknüpfte Vorurteile führen also dazu, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Studien oft größer ausfallen, als sie eigentlich sind, weil eine Gruppe möglicherweise durch das in ihrem Fall positive Vorurteil motiviert wird, während die andere Gruppe gegen die negativen Vorurteile ankämpfen muss und damit weniger kognitive Kapazitäten für die eigentlichen Aufgaben frei hat. Ein Problem, das jeden Menschen betrifft. Schließlich lernen wir von Anfang an, in Kategorien zu denken, und nutzen sie als Abkürzungen und Entscheidungshilfen. Aussagen, die wir häufig hören, können wir zuverlässiger wieder abrufen. Und die Assoziationen, die wir mit bestimmten sozialen Gruppen verknüpfen – Alte, Reiche, Blauäugige, Blondinen –, beinhalten ein spezifisches Wissen über die Machtverhältnisse in unserer Kultur und Gesellschaft. Über die Richtigkeit dieser Assoziationen ist damit allerdings noch nichts gesagt, betont der Sozialpsychologe Jens Förster in seinem Buch »Kleine Einführung in das Schubladendenken«: »Wenn mir bei ›alt‹ das Wort ›vergesslich‹ und nicht ›schlau‹ einfällt, dann hängt das vor allem damit zusammen, was mich unsere Gesellschaft über die Gruppe der älteren Menschen lehrt.«9 In China dagegen haben die Menschen großen Respekt vor dem Alter, sie assoziieren damit die Begriffe ›aktiv‹, ›weise‹ und ›wichtig‹. Und wie bei den oben genannten Beispielen zur Stereotypbedrohung hat auch hier die Erwartungshaltung der Umwelt Einfluss auf die Leistung des Einzelnen: »Alte Amerikaner schneiden in Gedächtnistests weitaus schlechter ab als junge Amerikaner. Alte Chinesen hingegen nicht. Die Gedächtnisleistungen von jungen und alten Chinesen unterscheiden sich in diesen Studien tatsächlich kaum!«10

Wenn eine Gesellschaft verinnerlicht hat, bei Jungen und Männern eher an mathematische Fähigkeiten zu denken als an Sprachbegabung, dann ist dem also nur schwer zu entkommen. Das beobachteten auch die Psycholog*innen Beate Seibt und Jens Förster11, als sie innerhalb einer Untersuchung vorgaben, die Sprachfähigkeit der Teilnehmenden zu testen. Der identische Test wurde für die eine Gruppe auf dem Deckblatt als Aufgabe beschrieben, »die sprachlichen Fähigkeiten von Männern und Frauen« zu testen, in der anderen Gruppe fehlte diese Zusatzangabe. Die männlichen Teilnehmenden der ersten Gruppe brauchten für den Test deutlich länger, die Frauen waren entsprechend schneller. Die stereotypbedrohten Männer wollten die Aufgabe nicht nur gut und schnell lösen, sie wollten vor allem keine Fehler machen und brauchten deshalb entsprechend mehr Zeit. Dieser Fehlervermeidungsmodus ist eine weitere Auswirkung der Stereotypbedrohung mit weitreichenden Folgen, besonders wenn es darum geht, kreative Lösungen zu finden. Mit dem »Ziegelsteinexperiment« konnten die beiden Forscher*innen zeigen, dass Menschen unter Stereotypbedrohung kaum in der Lage sind, kreative Ideen zu entwickeln. Die Teilnehmenden sollten alle denkbaren Ideen sammeln, wie sie einen Ziegelstein verwenden würden. In stereotypbedrohten Gruppen kamen dann Antworten wie: »Dinge bauen, werfen«, während in der nicht bedrohten Gruppe Überlegungen entstanden wie: »um zu zeigen, dass ich auch nur einer von vielen Ziegelsteinen in der Mauer bin«12.

Wer sich gegen negative Vorurteile behaupten muss, hat es im entsprechenden Bereich schwerer. Handwerkliche, mathematische und technische Interessen sind für Mädchen immer noch mit dem Stempel ›Ausnahme‹ verbunden. Sich in einem solchen Bereich dennoch durchzusetzen, bedeutet für ein Mädchen oder eine Frau, sich selbst und den anderen jeden Tag aufs Neue beweisen müssen, dass sie es dennoch kann, dass die Klischees nicht zutreffen, die Schublade klemmt. Die gute Nachricht ist, dass wir der Wirkung von Stereotypbedrohungen nicht vollkommen ausgeliefert sind: Sie verschwindet, wenn die Betroffenen überzeugt sind, dass die Vorurteile gar nicht zutreffen. Und genau darin liegt die Chance, diesen Kreislauf zu durchbrechen, den wir bislang mit traditionellen Rollenbildern in Gang halten, eine Chance für uns Eltern, für die Kinder, für unsere Gesellschaft. Denn schließlich bedeutet die negative Verknüpfung von Frauen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Interessen nicht nur eine Einschränkung für jede einzelne Betroffene, sondern schadet unserer gesamten Wirtschaft. Politik und Medien haben dieses Problem längst erkannt, doch statt das enge Korsett der Rollenstereotype aufzulösen, werden sie in vielen Kampagnen immer wieder neu hergestellt. Der poppige Spot zum Beispiel, mit dem die EU–Kommission im Jahr 2012 Mädchen für naturwissenschaftliche Berufe begeistern wollte, tritt genau in diese Falle: »Science: It’s a Girl Thing«13, behaupten die Macher*innen, um dann drei topgestylte, schlanke Mädchen im Mini und auf High Heels zwischen Reagenzgläsern und Bunsenbrennern posen zu lassen. Im Chemielabor der EU wird mit Puder und Nagellack experimentiert, begleitet von Mädchenkichern und dem prüfenden Blick eines Mannes im Weißkittel. Hier werden Klischees aufgefahren, die im Ergebnis das Gegenteil dessen bewirken, was eigentlich Sinn und Zweck der Kampagne war, nämlich junge Frauen für die Naturwissenschaften zu begeistern.

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