Читать книгу Die Rosa-Hellblau-Falle - Almut Schnerring - Страница 19
Himmelblau und Babyrosa
ОглавлениеEltern, die sich nicht beruflich mit Sexualhormonen und Petrischalen befassen, die keine Gehirnscans lesen und Blutwerte nicht analysieren können, sehen sich einer unüberschaubaren Informationsflut gegenüber, die nur schwer zu deuten ist. Nicht jede Veröffentlichung ist so leicht zu durchschauen wie die folgende Spekulation eines amerikanischen Forscherteams. Es erklärte die weibliche Vorliebe für Rosa damit, dass Frauen ja schon zu Urzeiten fürs Beerensammeln zuständig gewesen seien. Reife, rote Beeren zu finden liegt also angeblich in der weiblichen Natur. Diese Rekonstruktion der Aufgabenverteilung unter den Jägern und Sammlerinnen ist inzwischen umstritten24; plausibler scheint, dass sich Männer und Frauen sowohl fürs Sammeln als auch fürs Jagen zusammengeschlossen haben. Doch da wir unser Augenmerk heute auf die Unterschiede legen, wird auch hierzu wie üblich eine Gegenseite konstruiert: die jagenden Männer. Für sie gelte nämlich Ähnliches in Bezug auf die Farbe Blau. Ein Gespür für gutes Wetter beziehungsweise eine gute Wasserquelle sei wichtig gewesen für die steinzeitlichen Jäger. Der Journalist Martin Wainwright fand diese Farbtheorie so einleuchtend, dass er damit in seinem Artikel für den Guardian die seiner Meinung nach natürliche Vorliebe von kleinen Mädchen für rosarote Kuchendekoration erklärte, »it’s all down to evolution«25.
Der Blick zurück verspricht Gewissheit, dass alles seinen Sinn haben muss, so wie es ist. Alles ist begründet in unseren Steinzeitgehirnen, schließlich seien wir im Grund immer noch Höhlenmenschen, bringt die amerikanische Neurologin Louann Brizendine ihre Position über Mann und Frau auf den Punkt: »face it, we’re all still cave people inside«26. Wenn wir allerdings nicht bis zu den Höhlenmenschen zurückschauen, um uns die Gegenwart zu erklären, dann stellen wir fest, dass Rosa im 19. Jahrhundert gar keine Mädchenfarbe war, dass die Zuweisung »Mädchen mögen Rosa«, »Jungen mögen Blau« umgekehrt galt: Königsmäntel waren purpurn, Rot war in allen seinen Abstufungen die Farbe der Herrschenden. Rot war also eine männliche Farbe, und Rosa, das ›kleine Rot‹, war für Jungen. Mit rot wurden Blut und Kampf assoziiert, Leidenschaft und Macht. Blau dagegen war in der christlichen Tradition die Farbe Marias. Als Himmelskönigin ist sie auf Gemälden von Lucas Cranach oder Albrecht Dürer im blauen Kleid oder mit blauem Schleier dargestellt. Und Hellblau, das ›kleine Blau‹, war somit den Mädchen vorbehalten. 1918 schrieb The Ladys Home Journal, ein amerikanisches Frauenmagazin: »Die allgemein akzeptierte Regel ist Pink für den Jungen und Blau für das Mädchen. Das liegt daran, dass Pink stärker ist, während Blau feiner und eleganter ist.«27 Erst als nach dem Ersten Weltkrieg die Marineuniform und der Blaumann die Farbe Blau zum Symbol der Männerwelt machten, bekamen Jungen blaue Matrosenanzüge, und für die Mädchen galt fortan Rosa als traditioneller Kontrast.
Rosa ist also kein Grundbedürfnis fünfjähriger Mädchen, das erfüllt werden müsste, weil sonst seelische Schäden zu befürchten sind. Rosa ist eine Mode, die Eltern unterstützen können wie Ohrringe bei Zweijährigen oder Tattoos bei Zwölfjährigen. Oder auch nicht. Sie können Nein sagen, wie bei Schokolade nach dem Zähneputzen oder beim Wunsch nach einem Bernhardiner-Welpen. Luca will noch ein Eis, obwohl das erste noch an ihrer Hand klebt. Sonntagmorgens möchte sie in die Bücherei, und als der Film nach 90 Minuten zu Ende ist, will sie noch einen sehen. Kinder haben jeden Tag viele, viele Wünsche, niemals können Eltern alle erfüllen. Warum sollten wir ihr gerade den nach einem pinkfarbenen Tüllkleid erfüllen? Das Argument »Aber alle anderen haben auch …« ist zwar weit verbreitet, und trotzdem ist es die Entscheidung der Eltern, auf welche Wünsche sie eingehen, worin sie ihre Kinder bestärken, worauf sie weniger reagieren. Säuglinge verlangen nicht nach rosa oder hellblauen Schnullern, Stramplern oder Kinderwägen. Sieht aber süß aus, ist doch nur eine Farbe? Es ist eine Entscheidung der Eltern, wie wichtig es ihnen ist, der Umwelt das Geschlecht ihres Kindes mitzuteilen, und wie wichtig es ihnen ist, dass ein Kind in Aussehen und Verhalten dem entspricht, was sich Erwachsene oder ältere Kinder unter einem Mädchen oder einem Jungen vorstellen.
Ein Mädchen ohne rosa Attribute läuft nicht Gefahr, ausgegrenzt zu werden, deshalb können Eltern die Botschaften der Kleidungs- und Spielzeughersteller*innen getrost ignorieren. Aber es wäre nur eine Umkehrung des Problems, würden Eltern nun alles Pinke bei Mädchen verbieten und bei Jungen feiern. Damit wäre nichts gewonnen. Leider ist in vielen Produktbereichen die Trennung in rosa und hellblaue Bereiche so weit fortgeschritten, dass es tatsächlich einfacher ist, auf der jeweiligen Welle mitzureiten; vor allem spart es jede Menge Zeit, die sonst bei der Suche nach Alternativen draufginge. Und grundsätzlich spricht ja auch nichts gegen die Farbe. Aus psychologischer Sicht steht Rosa für Schutz und Sanftheit. Bonbonfarbene Wände im Farbton ›Baker-Miller-Pink‹ oder ›Cool Down Pink‹28 sollen sogar gewalttätige Gefängnisinsassen beruhigen, und angeblich weinen Säuglinge in einem Zimmer mit rosa Wänden weniger. Wenn die Farbe also gefällt und womöglich sogar positive Effekte hat, warum steht sie dann nicht als Lieblingsfarbe für Mädchen und Jungen gleichermaßen zur Verfügung? Ein Mädchen ohne rosa Attribute hat ganz einfach andere Lieblingsfarben, eine Wertung bleibt hier aus. Doch ein Junge in rosa Regenjacke und rosa Gummistiefeln ist … ja, was? Komisch? Nicht normal? So offen wird die Irritation selten geäußert, sie kommt lachend und positiv verpackt daher. Ein Vater, der Lucas Kindergartengruppe auf einem Regenausflug begleitete, drückte es mit großer Belustigung so aus: »Der Jonas, schon lustig, was? Hatte keine Jacke dabei, musste er eben ’ne Mädchenjacke leihen. Und jetzt schau ihn dir an, haben wir doch glatt ’ne neue Prinzessin in der Runde.« Jonas stand weit genug weg, und das war gut so, denn auch mit gutem Willen ließ sich kein Kompliment zwischen den Zeilen erkennen. Jungen in Rosa provozieren Kommentare, die selten Anerkennung und Respekt vermitteln. Durch solche Erfahrungen verunsichert, haben manche Eltern eigene Threads in Internetforen eröffnet, um in der Anonymität die Frage zu klären, ob sie dem Wunsch eines Jungen nach rosa Gummistiefeln nachgeben dürfen. Alle, die »Nein, auf keinen Fall!« schreien, erklären das ausnahmslos mit der Intoleranz und dem Unverständnis der anderen: »Er ist ein Junge, und man sollte es auch sehen. Denk doch, wie gehässig Kinder sein können, wie sie ablästern würden. Ich denke, man tut seinem Jungen keinen Gefallen damit.« Wir wären also alle gern tolerant, aber die Nachbarn lassen es nicht zu?
Die deutsche Bezeichnung für die Farbe Rosa ist abgeleitet aus dem lateinischen Blumennamen ›rosa‹ und ist mit den Eigenschaften zart, hübsch und sanft verbunden. Deshalb wenden sich die Mitglieder des Vereins »Pinkstinks« gegen die geschlechtliche Zuordnung der Farbe und gegen die Warenindustrie, die Mädchen auf Rosa festlegt. Rosa enge Mädchen ein auf ein süßes, niedliches Dasein. In Großbritannien 2008 gegründet, gibt es seit 2012 auch einen deutschen Ableger der Initiative. Die Gründerin Stevie Schmiedel sagt: »Rosa kann nicht stinken, Rosa ist ja nur eine Farbe. Es geht uns um das, was die Spielwarenwelt in den letzten Jahren mit der Farbe Rosa gemacht hat. Heute steht rosa für niedlich und für 50er-Jahre-Ideale wie Backen, Kochen, sich um Puppen kümmern und vor allen Dingen, sehr schön aussehen.«29 Verteidiger der rosa Welle halten dagegen, Rosa stehe längst nicht mehr für harmlos und niedlich, das kräftigere Pink strahle Selbstbewusstsein und Stärke aus. Ines Imdahl, Psychologin und Inhaberin einer Marktforschungsagentur, behauptet sogar, »dass auch Jungen die Farbe attraktiv finden und selbstbewusst äußern: ›Es gibt keine Mädchenfarben.‹ Farben sind Farben – und als solche erst einmal nicht ›geschlechtlich‹. Das verstehen Kinder oft besser als Erwachsene.«30 Doch die erwachsenen Marketingstrateg*innen verstehen das sehr wohl, sind sie es doch, die die geschlechtliche Zuordnung fördern und verstärken und sie zugleich als wertfreie Farbspielerei verharmlosen. Auch für den Disney-Konzern ist Rosa eine Mädchenfarbe, er lässt in China und Bangladesch Merchandising-Artikel rund um Prinzessinnen, Feen und Aschenputtels herstellen, die sich bevorzugt in Rosa- und Violetttöne kleiden. In den Disney-Filmen, Büchern und Heftchen sowie auf den Internetseiten werden ihnen dann genau die Charaktereigenschaften zugewiesen, die die Pink-Unterstützer abstreiten: Schneewittchen sei unschuldig, naiv und liebenswürdig mit großem Herz, Dornröschen anmutig und bezaubernd, romantisch und verträumt. Und auch Aschenputtel sei zart, bescheiden und liebenswürdig, immerhin auch humorvoll und intelligent. Aber »trotz der vielen Arbeit und Demütigungen kann sie nicht aufhören zu träumen«. Auch wenn es hübsch sein mag, mit Rosa versuchen Hersteller*innen den Eindruck von Exklusivität zu vermitteln: der pinke Werkzeugkoffer, das rosa Feen-Pflaster, rosa Pullover, rosa Überraschungseier vermitteln Kindern, sie wären nur für Mädchen geeignet, für Jungen dagegen tabu. Deshalb schließt Rosa Jungen aus, und zugleich engt es Mädchen ein.