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Kapitel 10: Das Hotel
ОглавлениеLucie bereute, dass sie mit offenen Haaren schnorcheln war. In ihren halblangen, krausen Haaren waren trotz intensiver Haarkur immer noch widerspenstige Knötchen. Elena half ihr beim Durchkämmen.
„Gleich haben wir‘s“, versuchte sie Lucie zu trösten, die jedem Haar, das im Kamm verblieb, nachweinte.
„Das nächste Mal mache ich mir zwei ganz feste Zöpfe!“, sagte Lucie, aber dachte schon daran, dass das vielleicht kindisch wirken könnte und fügte hinzu:
„… oder einen Zopf.“ Elena lächelte. Sie hatte die Gedanken ihrer besten Freundin erraten.
„Der Tauchlehrer hat sich aber nett um dich gekümmert…“
„Ja“, antwortete Lucie in einem möglichst gleichgültigem Ton.
„Glaubst du, er kommt heute Abend auch in die Partypyramide?“, hakte Elena nach.
„Weiß ich nicht.“ Jetzt musste Lucie bereits grinsen. „Er schaut schon gut aus“, gab sie zu.
Elena gab ihr recht. „… aber die vielen Tätowierungen würden mich stören. Dir gefällt das?“
„Ja, das ist sexy“, schwärmte Lucie.
Jean hatte es sich in seinem und Elenas Zimmer vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Er war darauf gefasst gewesen, dass es länger dauern würde, bis seine Freundin und seine Schwester ausgehbereit waren. Elena war mit ihrem Schminkset zu Lucie hinübergegangen. Sie bewohnte auf der gleichen Etage ein Einzelzimmer. Alle Zimmer befanden sich in den Etagen drei bis sechs, wobei jedes Stockwerk eine andere Kultur oder Epoche als Thema hatte. Im siebten Stock waren die Suiten und das Büro des ermordeten Direktors. Lucie, Elena und Jean hatten sich bei der Buchung für den Orient entschlossen.
In der dritten Etage waren die meisten Zimmer untergebracht, die alle das Morgenland in seiner Blütezeit als Thema hatten. Zwar wurde auch Wert auf Authentizität gelegt, aber im Vordergrund stand Spaß und Komfort. Da man natürlich die Erwartungen der Gäste erfüllen wollte, wurde auch manchmal ein Kompromiss zwischen Echtheit und romantischer Klischeevorstellung geschlossen. Bereits der Flur sollte die Gäste in die Märchenwelt von 1001 Nacht versetzen und war prunkvoll gestaltet. Der Flur war von Säulen gesäumt und vor den Aufzügen war ein kleiner Brunnen. Jede Zimmertür war hinter einer Arkade, durch die man eintrat.
Die Wände im Vorraum waren mit roter Seide verkleidet und vermittelten den Eindruck, als ob man ein Zelt betreten würde. Die Zimmer waren mit herrlichen Teppichen ausgelegt und die Wände mit wunderschönen Mosaiken verziert. Im Wohnbereich waren einige bunte Sitzkissen verteilt und auf den Tischen standen Keramik und Emailteller mit Süßigkeiten und Obst. Natürlich sollten die Gäste nicht auf moderne, technische Errungenschaften verzichten. So gab es einen Fernseher, der auf Knopfdruck in einer Schatztruhe verschwand und ein Radio, das aussah wie ein Kamel. Das Telefon war optisch einem Turban nachempfunden. Das edle Badezimmer gefiel Elena besonders gut. Es war fast ganz in Gold gehalten und die Seifen sahen aus wie kleine Juwelen. Am Wannenrand waren kostbare Badeöle und am Schminktisch herrlich duftende Parfums.
Endlich war es soweit und die drei jungen Leute machten sich auf den Weg in die Wüste. Die Panoramalifte fuhren gegenüber von dem tosenden Wasserfall hinunter. Jean meinte anerkennend: „Der Wasserfall und der See sind unglaublich beeindruckend. Das Wasser wird vom See aufgefangen und dann wieder die ganzen sieben Stockwerke hinaufgepumpt.“ Auch Elena und Lucie schauten dem Wasserfall fasziniert zu. Die Lobby bot einen wunderschönen Anblick. Sie stiegen aber nicht im Erdgeschoss aus, sondern fuhren bis ins dritte Untergeschoss zu den Monorailstationen. Da alles in der modern gestalteten Station deutlich und übersichtlich beschriftet war, fanden sie schnell die richtige Monorail, die sie in die Wüste bringen würde. Elena blickte auf den Fahrplan und erklärte, was sie zuvor gelesen hatte:
„Die erste Station ist die Pyramide, die eine Shoppingmall ist. Dann kommt die Station, bei der Oase, von wo aus man Kamelreiten kann. Die dritte Station ist dann unsere. Die nächste wäre die für die Jeepsafari und erst dann kommt der Vergnügungspark, der im gleichen Inselteil wie die Wüste untergebracht ist. Das Klima ist dort aber nicht so heiß. Der Vergnügungspark liegt am Meer, die Wüste nicht.“ Jean und Lucie interessierten sich weniger für die Strecke der Monorail, sondern wollten einfach ihr Ziel erreichen. In wenigen Minuten waren sie angekommen.
Die Ausstiegsstelle verriet schon durch einige Verzierungen und Wandmalereien, dass sie mit dem Aufzug in eine ganz andere Welt fahren würden. Elena, Lucie und Jean verließen den Lift durch einen kleinen Tempel vor der Pyramide, aus der schon laute Musik zu hören war. Vor dem Tempel standen zwei große Obelisken. Gemeinsam mit anderen Touristen schritten sie staunend zwischen den riesigen Obelisken hindurch und betraten die Pyramide. In den Pyramiden war das Ambiente der Zeit der Pharaonen im alten Ägypten nachempfunden. Auch hier kamen Komfort und Anspruch der Gäste vor historischer Grundlagenforschung – so war das eine oder andere Detail nicht ganz authentisch gestaltet, aber dafür schön, humorvoll oder einfach praktisch.
Nach Betreten der Partypyramide fanden sie sich zunächst in einem Labyrinth, dass im äußeren Rand der Pyramide die große Halle in der Mitte umschloss. Man musste zuerst einen Eingang in den Partyraum durch das nicht besonders schwierige Labyrinth finden. Es gab mehrere Eingänge zum Hauptraum, in dem getanzt und gefeiert wurde. In den Gängen des Labyrinths waren einige Fallen für Grabräuber risikofrei nachgebildet und hinter manchem Eck stand plötzlich ein geöffneter Sarkophag mit einer Mumie. Das erschreckte natürlich die eine oder andere Touristin; nicht aber Lucie, die nachdenklich meinte: „Ist das nicht pietätlos in einem nachgebildeten Grab ein Clubbing zu veranstalten?“
„Eigentlich schon“, stimmte ihr Elena zu. „Aber es bietet halt ein sehr schönes und spannendes Ambiente. In vielen Vergnügungsparks oder Hotels werden ernste Themen verharmlost und eine Dekoration daraus gemacht.“
Die Wände waren mit Hieroglyphen, schönen goldenen Reliefen und typischen Gesichtsmasken dekoriert. Jean betrachtete aufmerksam die aufwendig und offensichtlich mit viel Mühe gestalteten Verzierungen und Schriften und äußerte sich schließlich auch zu dem Thema: „An den Wänden sind immerhin auch geschichtliche Informationen zur ägyptischen Kultur und ihren Errungenschaften aufgeschrieben.“
Als sie den beeindruckenden Hauptraum der Pyramide betraten, waren ihre moralischen Bedenken gleich wieder vergessen. Die Tanzfläche war von ägyptischen Götterstatuen umgeben. Das Mischpult des Discjockeys war vor einer imposanten Sphinxstatue, die dem DJ über die Schulter zu blicken schien. Die atemberaubende Lasershow sollte zu späterer Stunde vom noch schöneren Sternenhimmel übertroffen werden, als sich die Spitze der Pyramide bewegte und den Blick auf die Sterne freigab. Die Sitzgelegenheiten am Rand der Tanzfläche sahen wie ein Pharaonenthron oder edle Tragesessel aus.
„Gehen wir an die Bar“, schlug Elena vor.
„Schau die Barhocker sehen aus wie große Bodenvasen!“ Als sich Lucie auf einen hinsetzen wollte und sie sich an die Theke lehnte, schreckte sie gleich wieder zurück und rief zu ihren Begleitern: „Da sind Krokodile unter der Bar!“
Ungläubig beugte sich Jean zu der verglasten Theke und sah tatsächlich am Boden der Glaswand Krokodile. Erst nach genauerem hinsehen sagte er: „Das sind doch auch Animatronics wie in der Eingangshalle. Das sind keine echten!“
„Ah ja“, meinte Elena beruhigt, die bis eben lieber Abstand gehalten hatte. Sie bestellten sich Getränke und bewunderten, den passend gekleideten Barkeeper und die schön gestylten Kellnerinnen. Das Personal in der Pyramide war entsprechend der allgemeinen Vorstellung wie Pharaonen gekleidet und geschminkt und trugen teilweise sogar ägyptischen Kopfschmuck. Nach ein paar Cocktails war Phillip zu ihnen an die Bar gekommen und später mit Lucie im Labyrinth verschwunden. Elena und Jean hatten zwei Touristen, die mit ihnen gleichzeitig angekommen waren, wiedererkannt und begrüßt. Trevor und Anja luden die beiden an ihren etwas ruhiger gelegenen Tisch ein.
„In welcher Etage wohnen Sie?“ fragte Elena.
Anja erzählte begeistert: „Im Renaissance Stockwerk. Das ist der vierte Stock. Das ist so schön hergerichtet. Eigentlich wollten wir im siebten Stock in einer Suite wohnen – die haben als Thema die Zukunft und sind futuristisch eingerichtet, aber das war uns dann doch zu teuer. Schließlich sind wir ja ohnehin die meiste Zeit unterwegs.“
„Stimmt. Wir sind im Orient. Die Zimmer sind wunderschön. Wie schauen den die Renaissance Zimmer aus?“
„Hauptsächlich sind Kunstwerke aus dem 14. Jahrhundert als Dekoration angebracht – beziehungsweise die Kopien der bekanntesten Werke. Mir gefällt eigentlich der Gang am besten. Der ist mit den herrlichen Deckenfresken von Michelangelo wie in der Sixtina gestaltet. Wunderschön. Und auch eine Nachbildung von David. Unser Zimmer ist hauptsächlich in scharlachrot gehalten und es sind einige Werke von Dürer und Tizian aufgehängt.“
Elena nickte, als ob sie sich genauso gut auskennen würde wie Anja, die anerkennend die Zimmereinrichtung beschrieb: „Das Bad ist aus Marmor und Bronze und herrlich komfortabel. Die technischen Geräte wie Radio, Fax und Telefon sind wie Erzfiguren oder Bildhauereien ausgearbeitet. Der Fernseher ist besonders originell eingearbeitet. Ein Flachbildschirm an der Wand hinter der Mona Lisa, die sich auf Knopfdruck zur Seite schiebt und den Blick auf den Fernseher freigibt.“ Elena erzählte ihrerseits von der Raumgestaltung im dritten Stock.
Jean und Trevor unterhielten sich angeregt über die Insel und ihre einzigartige Landschaft: „… und wenn man die Grenze überschreitet, ist man sofort in einer anderen Klimazone. Das geht aber nur am Strand. Sobald man in die Landschaft hineingeht, kommt man nicht über die Grenze. Auch wenn man quasi an der gedachten Linie von Strand ins Landesinnere geht, sieht man weit und breit nur die Landschaft von der Zone in der man gerade ist und nicht die danebenliegende.“
Trevor hatte ähnliche Erfahrungen gemacht und berichtete seinerseits: „Wir sind fast den ganzen gestrigen Tag in der Wildnis gewesen und nur kurz in die Natur hinübergegangen. In der Wildnis ist ja eine ganz andere Landschaft und es ist deutlich kälter. Wie du gesagt hast, am Strand konnte man hin und hergehen und kann beide Landschaften sehen. Aber sobald man landeinwärts geht, sieht man weit und breit nur eine Landschaft – entweder den Wald der Natur oder die Lavalandschaft der Wildnis. Das ist unglaublich! Der Wald ist extrem hoch und wenn man in der Wildnis vielleicht einen Meter von der Grenze weg steht, kann man in allen Richtungen trotzdem nur diese Mondlandschaft mit den kleinen Sträuchern sehen. Ich hab keine Ahnung wie das sein kann.“
„Ein bisschen unheimlich ist das schon. Und das Hotelpersonal will einem ja gar nichts erklären. Das ärgert mich. Was ist wenn das irgendein Phänomen ist, das auch gesundheitsschädlich ist!“
Trevor musste lachen: „Wie das?“
„Keine Ahnung. Ich wollte das nur als Argument verwenden, um etwas aus einem Angestellten herauszubekommen. Er hat nur gemeint, dass es keinen Grund für derartige Befürchtungen gibt. Ich hatte fast den Eindruck, dass er selber nicht viel wusste“, sagte Jean.
„Von der Wüste kann man demnach dann nicht in die Wildnis rübergehen, oder? Die liegt ja nicht am Meer.“
„Stimmt. Aber das funktioniert auch nicht vom Vergnügungspark, weil der eingezäunt ist. Genauso wie der Teil, wo das Personal wohnt“, berichtete Jean.
„Ja, das habe ich auch gelesen. Es ist schon sehr eigenartig… Gestern waren wir am Gletscher Schifahren und haben an der Küste Robben beobachtet und einen Tag davor waren wir in zirka 80 Kilometer Küstenlinie weiter zwischen tropischen Palmen Golfspielen und haben ein herrliches Korallenriff vom Glasbodenboot aus gesehen.“
Die beiden Paare diskutierten noch lange über die Insel Inaara, die so viele Rätsel aufgab.