Читать книгу Die Angst ist dein Feind - Ana Dee - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеDer Bagger wühlte sich durch die feuchte Erde und lud seine klumpige Fracht auf den bereitstehenden LKW. Bernd fuchtelte mit seinen Armen herum und schrie dem Fahrer zu: „Go!“
Holpernd fuhr der LKW vom Hof, während sich der Bagger weiter durch das Erdreich fraß. Bernd stand etwas abseits und fror erbärmlich. Es roch nach Schnee und insgeheim wünschte er sich, dass der Boden endlich gefror. Dann war nämlich Sense mit den Außenarbeiten. So sehr er seinen Job im Freien auch liebte, spätestens während der kalten Jahreszeit verfluchte er ihn.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Gebäude. Welcher Depp hatte sich dieses vom Verfall gezeichnete Gehöft ans Bein gebunden? War das nicht die Kleine, deren Vater den Baustoffhandel besaß? Konnten sich diese Leute keinen Gutachter leisten? Selbst ein Blinder mit dem Krückstock musste doch erkennen, dass man dieses Gemäuer besser abreißen ließ. Aber egal, das war ja nicht sein Bier.
Er beobachtete gerade seinen Kollegen im Führerhaus, als ihm etwas vor die Füße kullerte. Der Gegenstand ähnelte einer löchrigen Tonschale und er bückte sich neugierig. Sekunden später brüllte er lauthals los: „Stopp, Uwe! Halte sofort an!“
„He, was soll das denn, verdammt? Wir haben gleich Feierabend!“
„Mensch, guck doch mal.“ Bernd zerrte den protestierenden Uwe aus dem Bagger. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das für einen Kinderschädel halten.“
„Ach, du spinnst!“
„Nein, ehrlich! Schau doch mal, der Unterkiefer fehlt, Zähnchen sind auch keine da, aber es wirkt irgendwie menschlich.“
„Keine Ahnung, damit kenne ich mich nicht aus. Lass uns weitermachen, Zeit ist Geld.“
„Ne du, ich rufe besser die Polizei. Lieber einen Anschiss vom Chef als einen von den Bullen.“
„Gut, wenn das dein letztes Wort ist … dann schließe ich die Kabine ab und mache mich vom Acker. Ich warte doch nicht, bis die da sind. Das kann Stunden dauern.“ Uwe tippte sich an die Stirn und stapfte zu seinem PKW.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Wie soll ich denn nach Hause kommen?“
Schwungvoll riss Uwe die Autotür auf und streckte Bernd seinen Mittelfinger entgegen. Dann startete er den Motor und brauste davon. Bernd glotzte ihm mit offenem Mund hinterher. „Der hat doch echt einen Knall“, murmelte er entrüstet und betrachtete das verdreckte halbrunde Etwas in seiner Hand.
Er würde seinen Hintern verwetten, wenn das kein Kinderschädel ist. Er zückte sein Smartphone und wählte den Notruf.
Als Pia von der Arbeit kam, traf sie der Schlag. Zwei Polizeiautos parkten im Hof und ein weiterer Transporter fuhr vor. Die Männer und Frauen streiften sich Schutzanzüge, Stiefel, Handschuhe und Häubchen über, bevor sie sich einen Spaten schnappten und in Richtung Sickergrube marschierten. Das Absperrband flatterte verloren im Wind und überall war Folie ausgebreitet. Die Beamten sortierten sorgsam kleine braune Stöckchen, zumindest sah es danach aus.
Um den Grund für dieses Chaos zu erfahren, steuerte Pia den hinteren Bereich des Hofes an.
„Halt, wer sind Sie denn?“ Jemand fixierte den Ärmel ihrer Jacke und hinderte sie am Weiterlaufen.
„Ich bin die Eigentümerin. Dürfte ich vielleicht erfahren, womit ich diesen Auflauf hier verdient habe?“
„Dürfen Sie. Beim Ausbaggern der alten Sickergrube sind die Arbeiter auf menschliche Überreste gestoßen.“
„Wie bitte? Was? Leichen?“ Pia war bestürzt.
„Knochenfunde, um genauer zu sein.“
Ihr wurde speiübel und sie verkrampfte sich. Das war auch wieder so ein typisches Pia-Ding. Wenn es schon hart auf hart kam, dann aber richtig. Sie brauchte dringend eine neue Kläranlage, und zwar lieber gestern als heute, aber von Problemen dieser Art war nie die Rede gewesen.
Pia wurde zum leitenden Beamten geschleppt, den sie mit ins Haus nahm. Nachdem sie ihm trotz der späten Stunde einen Kaffee gekocht hatte, stellte er seine Fragen. Auf die meisten wusste sie keine Antwort, sie wohnte schließlich erst seit kurzem hier. Sie erwähnte nur am Rande, dass während des zweiten Weltkrieges auf dem Hof angeblich ein Mord geschehen war. Doch der Beamte teilte ihr mit, dass bis jetzt nur Kinderskelette geborgen wurden und die Knochen schon seit längerer Zeit in der Grube verrotteten.
Fassungslos rang Pia nach Luft. Hatten diese immer wiederkehrenden Träume, die sie seit dem Einzug plagten, etwas damit zu tun?
„Leider werden wir die ganze Nacht die Überreste bergen, die Kollegen bauen gerade die Flutlichter auf. Das Licht wird Sie mit Sicherheit stören, aber wir müssen uns ranhalten, bevor der Boden noch stärker aufweicht.“
Pia kniff die Lippen fest zusammen, um nicht laut zu lachen. Die Beamten könnten hier die komplette Flutlichtanlage eines Fußballstadions installieren und sie hätte einen Freudentanz aufgeführt. Licht und Menschen, die ganze Nacht über! Heute würde sie mit Sicherheit besonders tief und fest schlafen. Sie musste nur diese verdammten Kinderleichen ausblenden.
„Selbstverständlich, alles kein Problem. Walten Sie Ihres Amtes.“
Der Mann nickte ihr zu und verließ die Küche.
Wieder allein, wankte Pia ins Wohnzimmer und ließ sich kraftlos auf die Couch sinken. Sie fühlte sich überhaupt nicht dazu in der Lage, diese grauenvolle Information zu verarbeiten. Wenn ihr Vater und die Schwiegereltern davon erfuhren, war die Hölle los! Niemand würde dieses Anwesen mehr kaufen wollen, das sprach sich mit Sicherheit wie ein Lauffeuer herum.
Mit einem Schlag war der Hof wertlos geworden und diese Gewissheit zog ihr den Boden unter den Füßen fort. So wie die Motten das Licht würde das Gehöft die Schaulustigen anziehen. Am liebsten wollte sie nur noch schreien. Wann verdammt noch einmal erwachte sie endlich aus diesem Albtraum?
Afra war von ihr gegangen, die unheimlichen Geräusche zehrten an ihren Nerven und jetzt auch noch tote Kinder. Und niemand war greifbar, dem sie sich anvertrauen konnte. Eltern und Schwiegereltern kamen nicht in Frage, die würden sie nur mit Vorwürfen bombardieren, Felix schrieb morgen eine wichtige Klausur und Carina hatte ein Date.
Das Gefühl, an ihren eigenen Problemen zu ersticken, wurde übermächtig und sie rang verzweifelt nach Luft.
Finley trottete in die Küche und setzte sich neben sie. Sein wacher Blick streifte durch den Raum und während sie ihn liebevoll hinter den Ohren kraulte, beruhigte sich ihr Herzschlag.
„Ich mache dir jetzt deine Mahlzeit, damit du wieder zu Kräften kommst.“
Der Rüde stürzte sich auf das Futter und leerte die Schüssel bis zum letzten Krümel. Pia genehmigte nur einen Schokoriegel, um das Hungergefühl zu unterdrücken, denn der Appetit war ihr restlos vergangen.
Von der gesamten Situation total überfordert, kroch sie erschöpft ins Bett. Innerhalb kürzester Zeit war sie eingeschlafen und ihr Unterbewusstsein übernahm das Ruder …
Pia wand sich unter grässlichen Schmerzen und brachte diesen zarten Winzling zur Welt. Voller Stolz hielt sie den Säugling im Arm und betrachtete ihn liebevoll. Er hatte die kleinen Händchen zu Fäusten geballt und sah hinreißend aus. Pia legte das Bündel in die Wiege und verließ den Raum.
Rastlos irrte sie eine Zeitlang durch das Haus, bis sie sich plötzlich an das Kind in der Wiege erinnerte. Ein beängstigendes Gefühl machte sich breit und sie jagte die Stufen zur Kammer hinauf. Panisch riss sie den Säugling aus der Wiege und ließ ihn hysterisch kreischend fallen. Sie hatte ein steifes, kaltes Körperchen in ihren Armen gehalten mit einem bläulich verfärbten, engelsgleichen Puppengesicht, dessen ausdruckslose Augen an die Zimmerdecke starrten.
Pia schrie noch immer, als sie schweißgebadet erwachte. Zitternd saß sie im Bett und die Realität fiel gnadenlos über sie her.
Ein lautes Klopfen an der Haustür durchbrach die unheilvolle Stille. Leise stöhnend schwang sie die Beine aus dem Bett, zog sich den Bademantel über und lief in den Flur.
„Was gibt’s?“
„Wir haben einen Schrei gehört und wollten der Sache nachgehen. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Der leitende Beamte musterte sie mit sorgenvollem Blick.
„Nein, irgendwie ist nichts in Ordnung. Ich habe schlecht geträumt und bin wohl deshalb lauter geworden.“
„Haben Sie denn niemanden, der bei Ihnen übernachten könnte? Sie sollten in solch einer Situation nicht allein bleiben. Warum packen Sie nicht ihre Sachen und ziehen vorübergehend in ein Hotel.“
„Mit zwei alten Hunden im Gepäck fällt das Hotel definitiv aus.“
„Oh, verstehe. Aber es sollte zumindest jemand bei Ihnen sein. Ich wundere mich nur, warum sich eine junge Frau wie Sie auf diesen Hof zurückzieht? Meine Frau geht nicht einmal im Dunkeln in den Keller.“ Ihr Gegenüber räusperte sich und schien auf eine Antwort zu warten.
„Ich werde eine Freundin darum bitten, dass sie mir für ein paar Nächte Gesellschaft leistet.“
„Damit kann ich leben. Bis spätestens morgen Nachmittag sollten die Ausgrabungen beendet sein, dann werden die Mannschaften wieder abgezogen.“
„Wie viele Kinder haben Sie denn gefunden?“
„Möchten Sie das denn tatsächlich wissen?“
„Eigentlich schon.“
„Es wäre mir sehr wichtig, dass Sie der Presse und anderen Personen gegenüber Stillschweigen bewahren.“
„Mit wem sollte ich denn schon darüber reden? Wenn mein Vater davon erfährt, reißt er mir den Kopf ab. Er hält den Kauf dieses Gehöftes sowieso für die größte meiner Jungendsünden.“
Über das Gesicht des Beamten huschte ein Lächeln. „Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich teile die Meinung Ihres Vaters. Neben einer gehörigen Standpauke, hätte auch ich mit allen Mitteln versucht, diesen Kauf zu verhindern. Ich denke, Eltern können einfach nicht anders.“
„Wie viele Kinder sind es denn nun?“ In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Ungeduld.
„Bis jetzt haben wir drei kleine Schädel gefunden. Einige der Knochen sind mit Sicherheit verrottet, aber ich gehe davon aus, dass wir den Großteil bereits ans Tageslicht gefördert haben. Jetzt müssen wir zusehen, dass dieser Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wird.“
„Was meinen Sie, wie lange liegen diese Kinderknochen schon dort unten?“
„Der Rechtsmediziner hat vorläufig eine größere Zeitspanne angegeben. Er meint, dass die Gebeine in den Jahren von 1930 bis 1950 dorthin gekommen sein könnten. Mit größter Wahrscheinlichkeit wollte jemand die Säuglinge in der Jauchegrube entsorgen. Grausame Verbrechen gab es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte, leider.“
„Oh Gott, wie schrecklich! Und alles Babys?“
„Ja. Neugeborene, erst ein paar Tage oder Wochen alt. So etwas habe ich während meiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt. Für dieses Verbrechen lassen sich kaum noch Zeitzeugen finden. Das wird die Aufklärung enorm erschweren.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Pia kämpfte mit den Tränen.
„Versuchen Sie Ihrer Gesundheit zuliebe noch etwas zu schlafen und lassen Sie diesen Fund nicht zu nahe an sich heran. Er hat nichts mit Ihnen zu tun.“
Nachdem er sich verabschiedet hatte, stapfte er über den aufgeweichten Hof. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und die Pfützen auf dem Hof wieder anschwellen lassen. Mehrmals blieben die Stiefel des Beamten im Morast stecken, während er versuchte, um die Pfützen zu balancieren.
Pia schloss fröstelnd die Tür und huschte zurück unter die Bettdecke. Es war kurz nach drei, vielleicht hatte sie Glück und schlief wieder ein. Sie befolgte seinen Rat und vermied es, an diese grausigen Informationen zu denken. Kurze Zeit später senkten sich ihre Lider und bevor sie noch einen weiteren Gedanken an das Übel dort draußen verschwenden konnte, übermannte sie der Schlaf. Ihr Körper holte sich die Erholung, die er so dringend benötigte.
Am nächsten Morgen wunderte sie sich darüber, dass sie nach diesen entsetzlichen Nachrichten tatsächlich noch einmal eingeschlafen war. Ihre Hände zitterten noch immer leicht und auch die Übelkeit hatte sich festgesetzt.
Wer war zu so einer unmenschlichen Grausamkeit fähig, drei Neugeborene in eine Sickergrube zu schmeißen? Nur der Teufel persönlich konnte für solch eine Tat infrage kommen. Welches Drama hatte sich auf diesem Gehöft abgespielt? Und warum hatte sie es nicht schon viel früher gespürt?
Niedergeschlagen schlurfte sie in die Küche und nahm ein paar Tropfen eines magenberuhigenden Mittels zu sich. Im Badezimmer putzte sie sich sofort die Zähne, um den bitteren Geschmack zu vertreiben. Obwohl sie minutenlang unter der warmen Dusche gestanden hatte, fror sie erbärmlich und schlüpfte schnell in ihre Jeans und einen dicken Wollpullover.
Der Spaziergang nach dem Frühstück fiel ziemlich kurz aus, denn es regnete noch immer. Die Beamten wühlten weiterhin im Schlamm und hatten über Nacht ein größeres Areal für sich beansprucht. Pflichtbewusst meldete sich Pia beim leitenden Beamten ab und fuhr in die Firma. Sie hätte alles dafür gegeben, heute einfach im Bett liegen bleiben zu dürfen.
Kaum hatte sie das Büro betreten, stürmte ihr Vater aufgebracht herein. „Sag mal Pia, was ist denn bei dir auf dem Hof los? Dort soll es von lauter Polizisten nur so wimmeln. Mädchen, was ist passiert? Gab es einen Unfall?“
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Was sollte sie ihm bloß antworten? Die Wahrheit würde er sowieso erfahren, früher oder später. Gut, dann eben früher.
„In der alten Sickergrube wurden menschliche Knochen geborgen.“
„Wie bitte? Was hattest du eben gesagt? Ich kann dir nicht ganz folgen.“
„Bei den Aushubarbeiten haben die Leute von der Baufirma drei skelettierte Babyleichen gefunden.“
Ihr Vater wurde kreidebleich und schloss demütig die Augen. „Was für ein Desaster. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich verhört habe.“
„Nein, hast du nicht.“
„Mensch Mädel, warum in Gottes Namen, hast du von diesem verdammten Hof nicht die Finger gelassen? Wieder und wieder habe ich dir gepredigt, dass du für so eine Anschaffung noch viel zu jung bist! Aber nein, du konntest ja nicht hören und musstest deinen Dickschädel durchsetzen. Himmelherrgott noch einmal!“ Krachend landete seine Faust auf dem Tisch. „Wer kauft denn jetzt noch dieses Anwesen? Den alten Kasten kannst du abreißen lassen, der ist keinen Cent mehr wert. Und die Bank bekommt einen Haufen Geld in den Rachen geworfen für nichts und wieder nichts. Ich bin fassungslos! Wer will denn dort noch wohnen?“
„Ich, Papa.“
„Sag das bitte noch einmal? Du willst dorthin zurück? Die Überreste von drei toten Kindern wurden gefunden, lass dir das einmal durch den Kopf gehen! Meine Güte, was haben deine Mutter und ich nicht alles probiert, bis sie schwanger wurde. Wir dachten schon, es klappt nie. Und auf deinem Hof hat jemand die Kinder einfach so in der Jauchegrube entsorgt? Na vielen Dank auch!“
„Paps …“
„Hast du auch nur ein einziges Mal an die Firma gedacht? Wenn du dort wohnen bleibst, was werden die Leute wohl von uns denken? Was werden sie überhaupt denken? Pia, wir sind doch keine Verbrecher! Ich werde mich sofort um einen Makler kümmern. Auch wenn wir mit Verlust verkaufen, Hauptsache wir haben diesen verfluchten Hof vom Hals.“
„Hörst du mir überhaupt zu? Ich möchte nicht verkaufen! Momentan jedenfalls noch nicht.“
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt, Pia?“
„Papa, lass mich bitte meine Arbeit machen.“
Mit einem lauten Knall flog die Tür ins Schloss. Pia stand völlig aufgelöst neben dem Schreibtisch. Wie sollte sie diesen Tag nur überstehen? Sie musste sich doch selbst erst einmal mit dieser vertrackten Situation auseinandersetzen. Mit einer übereilten Entscheidung war niemandem geholfen, obwohl sie tief in ihrem Inneren bereits wusste, dass sie den Hof wohl doch verkaufen würde. Diese wirren Träume, diese unheimlichen Schritte und jetzt noch die Babyleichen - das war zu viel des Guten.
In nächster Zeit sollte sie sich auf die Suche nach einer bezahlbaren Mietwohnung begeben und auf einen gnädigen Vermieter hoffen, der ihre beiden Hunde akzeptierte. Der Traum vom Gnadenhof war ausgeträumt.
Salzige Tränen rannen über ihre Wangen. Warum? Warum ausgerechnet sie? Zum Glück war Felix morgen Abend wieder bei ihr. Mit ihm konnte sie in Ruhe beratschlagen, wie es weitergehen sollte. Sie musste sich ihm anvertrauen, ihm von ihren Ängsten und Träumen erzählen.
Nervös griff sie nach dem Telefon, denn sie wollte auf keinen Fall eine weitere Nacht allein in diesem Haus verbringen. Mit klopfendem Herzen wählte sie Carinas Nummer und hoffte, dass die Freundin ihr Smartphone eingeschaltet hatte.
„Hallo Carina. Ich brauche dringend deine Hilfe.“
„He, was ist denn los? Du hörst dich gar nicht gut an.“
„Es ist etwas Schreckliches passiert und ich möchte auf keinen Fall allein im Haus bleiben. Beim Ausbaggern der Sickergrube wurden drei skelettierte Babyleichen gefunden.“
„Pia, ich finde das nicht besonders witzig, mir so eine Geschichte aufzutischen, nur weil wir Schritte gehört haben.“
„Carina, so etwas würde ich nie tun. Die Polizei hat die ganze Nacht im Schlamm gewühlt und mein Vater hat mir eine Standpauke vom Feinsten gehalten, dass ich den Hof sofort verkaufen soll.“
„Oh nein …“
„Bitte Cari, lass mich nicht hängen. Ich bin so was von fix und fertig, ich schaffe das jetzt nicht allein.“
„Lass dich aus der Ferne umarmen und sobald ich Feierabend habe, schlage ich bei dir auf. Natürlich bleibe ich so lange, bis Felix wiederkommt.“
„Danke, du bist meine letzte Rettung.“
Den restlichen Tag arbeitete Pia mechanisch ihre Aufgaben ab und versuchte am Telefon den nervigen Kunden gegenüber höflich zu bleiben. Seit diesem schrecklichen Fund fühlte sie sich heimatlos, fast ein bisschen wie auf der Flucht, und sie wollte keine Sekunde länger als nötig in der Firma bleiben. Aber nach Hause zog es sie auch nicht. Zuhause …, wo sollte das denn Bitteschön sein?
Doch das Schlimmste an der Sache - ihr größter Traum war wie eine Seifenblase geplatzt. Ein läppisches „Plopp“ und alles war vorbei. Selbst der Verlust des Geldes besaß einen weniger hohen Stellenwert.
Ein leichter Kopfschmerz kündigte sich an und sie massierte mit ihren Fingerspitzen die Schläfen. Nicht nur der Schlafmangel der letzten Tage machte ihr zu schaffen, nein, es war auch ihre seelische Verfassung.
Eine Stimme im Hinterkopf flüsterte ihr etwas Tröstliches zu. Ohne diese verzwickte Kaufentscheidung würden die Gebeine der Säuglinge noch immer in der Sickergrube verrotten. Es war eher unwahrscheinlich, dass sich für diese Tat noch jemand verantworten musste, aber wenigstens erfuhr die Welt endlich von dieser Tragödie. Und wer immer davon hörte und ein Herz besaß, würde um diese verlorenen Kinder trauern.
Und das tat Pia dann auch, trauern und weinen. Um diese Kinder, um ihren Traum und um ihre geliebte Afra.
Es dauerte ein Weilchen, bis sie sich beruhigt hatte und das Tippen der Rechnung wieder in Angriff nehmen konnte. Dabei schaute sie ständig auf die Uhr. Um ihrem Vater nicht nochmals zu begegnen, machte sie ein paar Minuten früher Feierabend. Im Laufe der letzten Stunden hatte sie genug Prügel bezogen und sehnte sich nach etwas Ruhe.
Lautlos schloss sie die Bürotür ab und schlich mit ihren Hunden durch den Flur. Die Stimme ihres Vaters drang aus einem der Nebenräume und sie beeilte sich, bevor er sie bemerkte. Als sie den Motor startete, atmete sie befreit auf. Dann trat sie aufs Gas und jagte vom Firmengelände.
Der leitende Beamte hatte Wort gehalten. Das Gehöft lag verlassen vor ihr, nur das Absperrband flatterte noch immer verloren im Wind. Doch die abgezogenen Mannschaften hatten ihre Spuren hinterlassen. Der Hof war aufgewühlt von den Rädern der Fahrzeuge und ohne Gummistiefel konnte man das Grundstück nicht mehr durchqueren. Pia stöhnte innerlich auf, als sie an die Hundepfoten dachte, die all den Dreck mit ins Haus schleppten.
Biene mochte dieses Novemberwetter überhaupt nicht leiden und wehe ein Pfötchen berührte auch nur ansatzweise eine Pfütze. Vorsichtig tippelnd umrundete sie jede feuchte Gefahrenquelle. Finley durchpflügte hingegen alles, was ihm in die Quere kam. Da schlug der robuste Kern in ihm durch.
Pia raffte sich zu einem kurzen Spaziergang auf, denn Carina würde gleich hier sein. Während Biene ihrem Frauchen missmutig hinterhertapste, eilte Finley fröhlich voraus. Nach nur wenigen Metern nahm der Regen an Stärke zu und zwang sie zur Umkehr.
Im Hausflur schüttelten sich die Vierbeiner die Tropfen aus dem Fell und Pia zog sich trockene Kleidung über. Nachdem sie die Hunde verköstigt hatte, holte sie die Auflaufform aus dem Küchenschrank, schälte Gemüse, würzte es, rührte Crème fraîche unter und schüttete geriebenen Käse über das Ganze. Dann schob sie den Auflauf in den Ofen, deckte den Tisch und spülte das Geschirr vom Vortag.
Pünktlich auf die Minute fuhr der Kleinwagen auf den Hof. Carina hatte ein phänomenales Gespür dafür, wann das Essen auf dem Tisch stand. Pia öffnete die Haustür und umarmte die Freundin. „Was bin ich froh, dass du da bist!“
„Ich lasse dich doch nicht im Stich“, erklärte Carina und drängte sich an ihr vorbei in den Hausflur. „Hm, das duftet appetitlich. Hast du extra für mich gekocht?“
„Das bin ich dir schuldig, schließlich möchte ich dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen. Häng deine Jacke in den Flur und dann lass uns essen.“
Pia füllte die Teller und nahm neben Carina Platz.
„Sehr lecker“, murmelte die mit vollem Mund. „Ich hoffe, Felix weiß zu schätzen, was er an dir hat.“
„Das hoffe ich auch. Einen Auflauf bekomme ich geradeso noch hin, aber dann hört es auch schon wieder auf mit meinen Kochkünsten.“
„So und jetzt erzähl: Was ist passiert?“
Nachdem Pia einen ausführlichen Bericht erstattet hatte, schüttelte Carina ungläubig ihren Kopf.
„Das ist der pure Wahnsinn. Du erwirbst ahnungslos ein Grundstück und dann werden sterbliche Überreste gefunden. Ob die Babys noch gelebt haben, als man sie in die Grube geworfen hat? Oder waren es vielleicht Totgeburten? Und warum wurden die Kinder nicht auf dem Friedhof bestattet?“
„Carina, ich will mir das alles gar nicht vorstellen. Diese schreckliche Tat liegt schon so lange zurück und wer weiß, ob sie überhaupt aufgeklärt werden kann.“
„Trotzdem, wer so etwas tut, der sollte bestraft werden, ohne Wenn und Aber. Wehe, wenn ich diese Person zwischen meine Finger bekomme!“ In Carinas Augen blitzte der Zorn.
„Lass uns erst einmal abwarten, welchen Spuren die Polizei nachgeht. Ich darf das alles nicht zu nah an mich heranlassen.“
„Kann ich gut verstehen.“ Bedauernd legte Carina ihre Hand auf Pias Arm. „Bleibst du hier wohnen oder wirst du doch verkaufen?“
„Nach was sieht es denn aus? Mein Vater hat ja recht, ich werde den Hof wohl aufgeben müssen, sofern sich je ein Käufer findet. Der Traum ist ausgeträumt. Jetzt kann ich mir wieder eine Mietwohnung zulegen und bin nicht mehr mein eigener Herr.“
„Ach Pia, ich möchte wirklich nicht in deiner Haut stecken.“
„Danke. Sehr tröstlich.“
Nach dem Essen verzogen sich die Freundinnen ins Wohnzimmer und hockten sich vor den Fernseher. Während Carina von der Handlung des Films mitgerissen wurde, schweiften Pias Gedanken in die Ferne. Noch immer konnte sie nicht begreifen, welch schrecklicher Kummer über sie hereingebrochen war. Die gesamte Situation erschien ihr so surreal wie ein Fehler in der Matrix. Die Ereignisse passten einfach nicht zusammen, egal wie sehr sie ihr Köpfchen auch anstrengte.
Nachdem der Filmheld seiner Liebsten das Leben gerettet hatte, wurde es Zeit, das Bett aufzusuchen.
„Was bin ich müde“, seufzte Carina laut gähnend. „Übrigens, mein Date war sensationell.“
„Das freut mich für dich“, erwiderte Pia und rollte sich wie ein Embryo zusammen.
„Interessiert dich das kein bisschen?“
„Doch. Also, warum war dein Date so sensationell?“
„Er ist ein wahnsinnig einfühlsamer Liebhaber und gut gebaut. Oben wie unten, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Carina, auch wenn es gerade nicht so rüberkommt, ich freue mich wirklich für dich. Hat dein Tête-à-Tête denn Zukunftspotenzial?“
„Ich wage nicht zu träumen, ich wage nicht zu hoffen. Es wäre einfach wunderbar, wenn es diesmal klappt“, murmelte Carina bereits im Halbschlaf.
„Dann hast du meinen Segen und ich wünsche dir von Herzen viel Glück.“
Wenige Minuten später verkündeten die ruhigen Atemzüge, dass die Freundinnen tief und fest schliefen.
Kurz nach Mitternacht wälzte sich Pia schweißgebadet und leise stöhnend in den Kissen. Die toten Kinder ließen ihr keine Ruhe und das Unterbewusstsein arbeitete auf Hochtouren, um das Grauen zu verarbeiten.
Sie sah sich in zerlumpten Kleidern die Treppe emporlaufen und zu einer Wiege in der Kammer eilen. Vom Bettzeug halb verdeckt lag dort ein kleines Wesen. Das leise Wimmern war abrupt verstummt und behutsam zog Pia die Decke zurück. Augenblicklich begann sie zu schreien …
„Bitte, so wach doch auf!“ Carina rüttelte an Pias Schulter, bis diese sich zitternd und orientierungslos aufrichtete. „Himmel, hattest du einen Albtraum? Du hast im Schlaf wie eine Wahnsinnige gekreischt.“
„Oben in der Kammer hat ein Kind geweint und als ich nachschauen wollte, war das Kleine bereits tot.“ Pia schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
Carina nahm die Freundin tröstend in den Arm und streichelte ihr übers Haar.
„Beruhige dich bitte, alles wird wieder gut. Ich hole dir rasch ein Glas Wasser und dein Bienchen passt solange auf dich auf, bis ich wieder zurück bin.“
Wenig später kehrte sie zurück und setzte sich schweigend auf das Bett. Erst als Pia das Glas geleert hatte, fiel ihr auf, wie ruhig Carina ihr gegenübersaß.
„Alles in Ordnung mit dir?“
„Es nimmt mich mehr mit, als ich anfangs angenommen hatte. Allein der Gedanke auf diesem einsamen Hof leben zu müssen, würde mich wahnsinnig machen.“
Pia bemerkte die Gänsehaut auf Carinas Armen. „Frierst du?“
„Ja. Im Flur ist es eisig kalt, deine Heizung ist wahrscheinlich defekt.“
„Das kann gar nicht sein, ich habe extra wegen dir die Heizkörper auf die höchste Stufe gestellt.“
„Wenn du das sagst ...“
„Bitte Carina, was ist los? Du bist ja völlig verändert.“
„Es klingt wahrscheinlich total unglaubwürdig, aber als ich eben in der Küche war, hat oben in der Kammer ein Kind geweint. Und sag jetzt bitte nicht, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Die Atmosphäre dieses Haus ist so … ach.“ Carina winkte frustriert ab.
„Dann sollten wir jetzt nachsehen. Ich möchte mir unbedingt Klarheit verschaffen, was dort oben vor sich geht.“
„Ich bin dabei. Aber zieh dir bitte einen Pullover über, es ist wirklich kalt.“
Von der eigenen Neugier angestachelt huschten die Freundinnen in den Flur.
„Schlimmer als in der Arktis“, stellte Pia fest. Dann hielt sie ihre Hand an den Heizkörper und zuckte zurück. „Ich verstehe das nicht, die Heizung ist warm“, wunderte sie sich.
Carina zupfte sie am Ärmel. „Lass uns schnell die Kammer checken, morgen ist auch noch ein Tag.“
Die Dielen ächzten unter ihrer Last, als sie nach oben liefen. Vorsichtig drückte Pia die Klinke herunter und hielt vor lauter Aufregung den Atem an. Die Tür sprang leise knarrend auf und trieb ihnen eisige Luft entgegen.
„Hier drinnen ist es ja noch kälter“, murmelte Carina und rieb sich fröstelnd die Oberarme.
Pia langte um die Ecke und obwohl sie hektisch auf dem Lichtschalter herumdrückte, tat sich nichts. Die undurchdringbare Schwärze ließ sich nicht vertreiben. „Im Dunkeln gehe ich da nicht hinein“, wisperte sie.
„Pia, wir müssen doch nur nachschauen was los ist. Wahrscheinlich habe ich mir das sowieso nur eingebildet.“
„Eben hatte das aber noch ganz anders geklungen. Warte bitte hier, ich laufe schnell nach unten und hole die Taschenlampe. Danach gehe ich rein, versprochen.“
Pia eilte die Stufen hinunter. Carina hörte sie im Wohnzimmer kramen, Schranktüren flogen auf und zu. Endlich folgte der erlösende Ruf: „Ich habe die Lampe gefunden und sie funktioniert sogar!“ Mit Hündin Biene im Schlepptau kehrte Pia zur Kammer zurück.
„Beeil dich bitte, mir ist schrecklich kalt“, beschwerte sich Carina.
„Immer mit der Ruhe ...“, hielt Pia sanft dagegen.
Biene setzte sich in eine Ecke und beäugte das nächtliche Treiben ihres Frauchens. Pia leuchtete jeden Winkel aus, ohne etwas zu entdecken. Wahrscheinlich sollte sie froh darüber sein, das alles in bester Ordnung war.
„In der Kammer zieht es wie Hechtsuppe.“ Carina zitterte inzwischen vor Kälte.
Pia befeuchtete einen Finger und hielt ihn ans Fenster. „Hier ist alles dicht, nicht der leiseste Windhauch.“
„Dann ist die Kammer eben schlecht gedämmt. Kannst du diesen eisigen Luftzug denn gar nicht spüren?“
„Um ehrlich zu sein, ich friere auch ohne Luftzug wie ein junger Hund. Wir sollten wieder nach unten gehen.“
Sie zuckten heftig zusammen, als die Schlafzimmertür im Erdgeschoss mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Finley war im Zimmer geblieben und begann hysterisch zu bellen.
„Warum ist die Tür zugefallen?“ Carina zitterte noch mehr als vorher.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Pia und griff nach Carinas Hand.
Sich ängstlich an den Händen haltend schlichen sie die Treppe hinunter.
„Wenn uns jemand an der Nase herumführt und dieses Bild bei Facebook postet, dann kann er was erleben“, wisperte Carina.
„Hast du keine anderen Sorgen? Ich wage mich kaum ins Schlafzimmer zurück“, erwiderte Pia ungehalten.
Finleys Bellen erstarb in dem Augenblick, als Pia und Carina eintraten. Freudig wedelte er mit seiner Rute.
„Ob die Tür durch den Luftzug zugefallen ist?“ Pia blickte sie fragend an, aber Carina zuckte nur ratlos mit den Schultern.
Im Schlafzimmer schien alles unverändert, zumindest auf den ersten Blick. Finley lag wieder in seinem Körbchen und entspannte sich zusehends. Carina lupfte die Bettdecke und tat es ihm gleich.
„Immer noch warm“, seufzte sie zufrieden.
Pia umrundete das Bett und stutzte. „Die Nachttischschublade steht offen, jemand muss im Zimmer gewesen sein!“
„Kann das nicht passiert sein, als du die Taschenlampe gesucht hast?“
„Aber da war ich doch im Wohnzimmer.“
„Hm, lass uns einmal vernünftig überlegen. Wenn dich jemand absichtlich in den Wahnsinn treiben möchte, dann muss er über die Vergangenheit des Gehöftes Bescheid wissen? Diese unheimlichen Erlebnisse begannen schließlich schon vor dem grausigen Fund.“
„Da ist etwas Wahres dran.“
„Vielleicht verschafft sich derjenige über den Dachboden Zutritt? Sobald es hell ist, sollten wir nachschauen. Du glaubst doch nicht im Ernst an Geister?“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Gut, dann ist es beschlossene Sache. Vielleicht können wir die Tür zum Dachboden komplett versperren und der ganze Spuk hört auf.“
„Gute Idee“, stimmte Pia ihr zu und hoffte inständig, dass Carina Recht behalten würde.
Bevor sie das Licht löschte, streifte ihr Blick die offene Schublade. Das Notizbüchlein hatte sie total vergessen. Seufzend schob sie die Lade zu und kuschelte sich unter die Decke.