Читать книгу Die Angst ist dein Feind - Ana Dee - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеFelix und Pia saßen am Küchentisch und hielten sich an den Händen. Pia schluchzte laut und um sie herum lagen Papiertaschentücher verteilt. Sie hatten gerade Afra würdevoll im Garten begraben. Eigentlich war das verboten, aber das kratzte Pia herzlich wenig. Sie wollte die Hündin in ihrer Nähe wissen, zumindest die sterblichen Überreste.
Auch Felix blickte Pia mit rotgeränderten Augen traurig an und versuchte, seine Tränenflut in den Griff zu bekommen. Er war überrascht von seinen Gefühlen, dass ihm der Tod von Afra so nahe ging.
„Sie wird mir fehlen“, flüsterte Felix mit tonloser Stimme. Seine Worte verursachten bei Pia einen erneuten Ansturm von Tränen.
„Ich werde sie auch schrecklich vermissen“, presste sie zwischen ihren Schluchzern hervor. „Ich wusste, dass es so kommen würde, aber ich habe mir eingebildet, taffer zu sein.“ Sie schnäuzte heftig in ein Taschentuch. „Pustekuchen.“
Beide erhoben sich und umarmten einander. Felix drücke Pia fest an sich und streichelte über ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar. Pia war ein richtiger Wirbelwind, meist gut drauf und selten schlecht gelaunt. Sie konnte keine fünf Minuten still sitzen. Ihn erstaunte immer wieder, wie dieses zierliche Persönchen so unglaublich viel Energie aufbringen konnte. Doch jetzt erlebte er sie zum ersten Mal schwermütig und am Boden zerstört.
„Trotzdem, denk positiv, du hast den Hof schließlich nur deshalb gekauft. Afra hatte noch eine wunderbare Zeit bei dir und du hast ihr all deine Liebe geschenkt. Sie ist in deinen Armen von dir gegangen und nicht in diesem eiskalten, ungemütlichen Gartenhaus. Du wirst dein Herz schon bald wieder öffnen, da bin ich mir ganz sicher.“
Er blickte in ihre blaugrauen Augen. „Ich liebe dich, mein Schatz, genau deswegen. Du bist eine Kämpferin und hast deinen Willen durchgesetzt. Ich weiß bis heute noch nicht, warum du dir ausgerechnet dieses hässliche Gehöft ausgesucht hast.“
„Das weiß ich leider auch nicht.“ Beide lachten gequält.
„Immerhin, bei der Wahl deines Freundes, und da spreche ich von meiner Wenigkeit, hast du einen deutlich besseren Geschmack bewiesen.“ Er küsste Pia innig.
„Danke Felix, dass du für mich da bist!“
Den restlichen Abend schwelgten beide in Erinnerungen an Afra, die sie über eine Doggen-Nothilfe adoptiert hatten. Kraftlos vom vielen Weinen verzog sich Pia zeitig ins Schlafzimmer. Biene hüpfte wie jeden Abend aufs Bett und streckte sich am Fußende aus. Felix wollte im Wohnzimmer noch ein wichtiges Referat vorbereiten. Seine Anwesenheit vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit und es dauerte nicht lange, da übermannte sie der Schlaf.
Als Pia erwachte, tanzten die ersten Sonnenstrahlen über ihre Bettdecke. Verschlafen rieb sie sich die Augen, bis die Wirklichkeit erbarmungslos auf sie niederprasselte - sie hatten gestern Afra begraben. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie presste die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schluchzen. Zu spät. Felix erwachte und tastete nach ihrer Hand.
„Guten Morgen, meine Maus. Komm, du sollst doch nicht mehr weinen.“ Zärtlich wischte er eine Träne fort, die von ihrer Wange perlte.
„Ich weiß. Aber sobald ich an Afra denke, muss ich heulen. Gib mir bitte noch etwas Zeit.“
„Mache ich. Trotzdem sollten wir jetzt aufstehen, schließlich haben wir uns mit reichlich Arbeit eingedeckt. Wenn wir das alles schaffen wollen, müssen wir Gas geben.“
Schwungvoll sprang er aus dem Bett und unter die Dusche. Pia kochte Kaffee und deckte den Tisch. Beide wollten das Wochenende nutzen, um in der kleinen Kammer den Dielenboden abzuschleifen. Pia fand den kleinen Raum ansprechend und hell, er sollte ihr später als Atelier dienen. In ihrer Freizeit malte sie gern Aquarelle und dort oben könnte sie sich entfalten, ohne ständig alles wegzuräumen.
Nach dem Frühstück brach Felix auf, um die gemietete Parkettschleifmaschine abzuholen. Er verabschiedete sich von Pia mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und lief zu seinem Wagen. Der Motor heulte auf und kurz darauf war Felix verschwunden.
Biene kratzte ungeduldig an der Tür und erwartete den üblichen Morgenspaziergang. Für Pia war es unvorstellbar, denselben Weg entlangzulaufen, den sie täglich mit Afra genommen hatte. Sie würde in einem Meer aus Tränen versinken und schon jetzt kämpfte sie tapfer dagegen an.
Kurz entschlossen fuhr sie mit ihrem Auto vom Hof und suchte in der näheren Umgebung nach einem Wirtschaftsweg. Nachdem sie eine passende Stelle entdeckt hatte, parkte sie den Wagen am Feldrain und lief in Richtung Wald. Biene tippelte gemächlich hinterher und schnüffelte an jedem Grashalm.
Inzwischen hatten sie eine verfallene Scheune erreicht und die Hündin umrundete aufgeregt das baufällige Gebäude. Pia folgte ihr neugierig. Schon bald hörte sie ein leises Winseln und Scharren hinter der Holzwand. Sie lugte durch ein Astloch ins Innere der Scheune und ihr verschlug es den Atem.
Exkremente wohin das Auge auch blickte, ein leerer verbeulter Topf und mittendrin ein dunkles struppiges Etwas. Vor der Scheunenwand war der Boden aufgewühlt. Der Hund hatte bereits versucht, sich aus diesem qualvollen Gefängnis zu befreien.
Pia band Biene kurzerhand an einem Baum fest. Anschließend brach sie einen Ast ab und begann wie wild in der Erde herumzustochern. Mit einem kaputten Dachziegel räumte sie das lockere Erdreich zur Seite. Es wurde ein sehr mühsames Unterfangen, aber aufgeben kam nicht in Frage.
Mehrmals schnitt die scharfe Kante des Ziegels in ihr Fleisch und sie fluchte leise. Blut tropfte auf den Boden, doch sie achtete nicht darauf und wühlte sich wie ein Maulwurf durch das Erdreich. Zuerst lugte nur der Kopf des Hundes hervor, aber kurz darauf passten auch seine Schultern durch das Loch. Beherzt griff sie in das verdreckte Fell und zerrte ihn durch die Öffnung ins Freie. Gott, wie erbärmlich dieses Wesen stank.
Der Border Collie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und torkelte auf sie zu. Seine Rippenbögen waren deutlich sichtbar und als sie am Fell zog, blieb die Hautfalte stehen. Er war völlig entkräftet, dehydriert und schwebte in Lebensgefahr. Sie hob ihn hoch und stolperte zum Auto. Wie federleicht sich dieses arme Kerlchen anfühlte. Ungelenk öffnete sie die Autotür und legte den Rüden auf dem Beifahrersitz ab. Dann rannte sie zurück und band Biene los. Jetzt war Eile angesagt. Während sie den Motor startete, telefonierte sie mit der Tierklinik und kündigte den Notfall an.
In der Klinik wurde sie bereits erwartet und in den Behandlungsraum begleitet. Der Tierarzt tastete den Rüden ab und legte einen Venenzugang.
„Wird er es schaffen?“, fragte Pia besorgt.
„Ich hege keine großen Hoffnungen, er sieht sehr schlecht aus. Außerdem ist er nicht mehr der Jüngste. Aber vielleicht ist der Collie ein Kämpfer. Hat er einen Namen?“ Pia schüttelte traurig den Kopf.
„Woher kommt er denn?“
„Er ist mir bei einem Spaziergang zugelaufen, keine Ahnung, wem er gehört. Ich werde überall Zettel aufhängen, ob ihn jemand vermisst“, log Pia.
Einen Teufel würde sie tun. Die Leute, die den Rüden so erbärmlich gehalten hatten, konnten froh sein, wenn sie keine Anzeige erstattete. Einzig und allein die Rechtslage hielt sie davon ab. Der Diebstahl würde auffliegen, denn um den handelte es sich zweifelsohne, und sie müsste den Rüden zurückgeben. Das kam für sie auf keinen Fall in Frage. Der Collie sollte bei ihr bleiben, falls er überlebte, und ihr über die Trauer von Afra hinweghelfen. Auf diese Weise profitierten sie beide davon.
„Er bekommt jetzt Infusionen und Aufbauspritzen, dann betten wir ihn unter die Wärmelampe. Sie können heut Abend kurz durchrufen, ob sich sein Zustand gebessert hat.“
„Das werde ich machen“, antworte sie und streichelte noch einmal zärtlich über das verdreckte Fell des Collies. Sie wünschte sich so sehr, dass er nicht in der Klinik verstarb.
Biene saß auf der Rückbank und freute sich über die Rückkehr ihres Frauchens. Pia fuhr gedankenverloren zurück und hoffte, den Rüden bald in ihren eigenen vier Wänden begrüßen zu dürfen. War es eine Fügung des Schicksals, dass sie ausgerechnet einen Tag nach Afras Tod hier entlanggelaufen waren? Hoffentlich verlor sie nicht gleich zwei Seelchen an diesem Wochenende, das würde sie nicht verkraften.
Aber jetzt musste sie sich sputen und sie trat das Gaspedal durch.
„Pia, wo bleibst du denn?“ Felix empfing sie mit einem verärgerten Timbre in seiner Stimme. „Weißt du eigentlich, wie teuer das war, dieses Ding zu mieten? Wir müssen uns ranhalten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.“
„Entschuldige, tut mir leid.“ Schuldbewusst senkte sie ihren Blick und schabte mit der Schuhspitze über den Boden.
„Was ist denn los? Ist es wegen Afra?“
„Ja und nein“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich konnte vorhin nicht den gewohnten Feldweg entlanglaufen. Jeder Grashalm hätte mich an Afra erinnert. Also bin ich mit Biene in der Gegend herumgefahren, um woanders unsere Runde zu drehen. Dabei habe ich einen halbverhungerten Collie in einer Scheune entdeckt und ihn in die Tierklinik gebracht.“
Felix schüttelte lächelnd den Kopf. „Liebes, dich kann man keine Sekunde aus den Augen lassen und schon schleppst du wieder etwas an. War es denn so schlimm, dass er in die Klinik musste?“
Sie nickte traurig.
„Das tut mir leid.“ Er streichelte tröstend über ihre Wange. „Hilfst du mir trotzdem beim Hochtragen?“
Mit vereinten Kräften hievten sie die klobige Schleifmaschine in die Kammer. Ohne einen Blick auf die Bedienungsanleitung zu werfen, startete Felix den Motor und wurde von der Maschine quer durch den Raum gezogen. Vor einer Wand kamen beide zum Stehen.
Pia kicherte glucksend. „Du solltest den Fußboden abschleifen und nicht umgekehrt!“
„Haha, äußerst witzig.“ Felix rappelte sich auf und klopfte den Staub von seiner Hose. „So ein blödes Teil, das bekommen wir nie hin.“
„Lies dir erst einmal die Anleitung durch, so schwer kann das doch gar nicht sein.“
„… sagte die Sekretärin.“
„Bitte Felix, jetzt mach mal einen Punkt.“
„Schon gut.“ Zärtlich küsste er sie auf die Nasenspitze und blätterte das Heftchen durch. „So, jetzt hab ich es aber. Atemmaske wieder auf und los geht’s.“
Er begab sich in Position und startete die Maschine erneut. Diesmal klappte es besser. Feiner Staub wirbelte durch die Luft und die Maschine legte das helle Holz der Dielen frei. Pia nickte anerkennend. Leider hielt das Glück nicht lange an.
Felix machte einen ungeschickten Schritt zur Seite, stolperte und stieß mit seiner Schulter gegen die Wand. Leise stöhnte er auf. Die Maschine verselbstständigte sich ein weiteres Mal und Pia hechtete hinterher. Endlich Stille.
„Hast du dich schlimm verletzt?“
„Geht schon“, brummte er und rieb sich die Schulter. Dann hockte er sich hin, um die Stelle genauer zu untersuchen. Eine Diele hatte nachgegeben und den Sturz verursacht. „Schau mal, das Brett ist total locker.“
Er bewegte es einige Male hin und her, bis er es anheben konnte. „Seltsam. Jemand hat die Nägel entfernt und es lose in die Lücke gelegt. Lass mich fix den Unterbau kontrollieren, wenn sich die Gelegenheit schon einmal bietet.“
Mit seinen Händen wühlte er in der Öffnung und begutachtete den Zwischenboden. „Die tragenden Balken sind in Ordnung, soweit ich das erkennen kann. Kein Holzwurm oder Ähnliches vorhanden, nur Flusen und Schmutz. Willst du die Fuge rasch aussaugen?“
„Klar, warum nicht ...“
Felix holte den Staubsauger und Pia legte los. Keine zwei Sekunden später hatte ein Gegenstand die Düse verstopft.
„Schau mal, ein altes Notizbuch. Wem das wohl gehört?“ Pia drehte und wendete interessiert das zerfledderte Büchlein.
„Schatz, dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit.“
Pia brachte ihren Fund in Sicherheit und kehrte wieder zurück, um ein wachsames Auge auf Felix zu werfen.
Bis zum Abend hatten sie den Großteil der Arbeit erledigt und fast den kompletten Fußboden von der alten Dielenfarbe befreit. Um den feinen Staub loszuwerden, der sich in jeder Pore abgesetzt hatte, gönnten sie sich ein gemeinsames Wannenbad bei Kerzenschein. Felix erzählte ein paar Anekdoten aus seiner Schulzeit und berichtete, was aus seinen ehemaligen Klassenkameraden geworden war. Pia lauschte ihm andächtig, froh darüber, nicht ständig an Afra denken zu müssen.
Nach dem Abendessen rief sie in der Tierklinik an, um sich nach dem Collie zu erkundigen. Vor lauter Anspannung klopfte ihr Herz wie verrückt.
„Dem Rüden geht es soweit gut, er hat sogar eine Kleinigkeit gefressen. Seine Blutwerte sind natürlich im Keller, aber sein Zustand ist stabil. Bis zum Wochenanfang sollte er noch in der Klinik bleiben, dann dürfen Sie ihn eventuell nach Hause holen. Versprechen kann ich allerdings nichts.“
Pia gab sich mit dem Statement des Tierarztes zufrieden. Falls der Collie überlebte, würde sie ihn Finley taufen – weißer Krieger. Zwar besaß Finley nur einen weißen Kragen und weiße Pfötchen, aber der altirische Name aus dem Herkunftsland des Borders erschien ihr äußerst passend.
Sie setzte sich zu Felix auf die Couch und kuschelte sich an ihn. „Der Tierarzt ist zuversichtlich. Finleys Zustand hat sich nicht verschlechtert und er hat sogar gefressen. Ich gehe davon aus, dass der Rüde es schafft.“
„Finley? Du hast ihm schon einen Namen gegeben? Rückt ihn denn sein Besitzer einfach so heraus?“
„Ich habe nicht vor, seinen ehemaligen Besitzer um Erlaubnis zu bitten. Wenn du den Hund gesehen hättest, würdest du mich verstehen. Sollte Finley das Wochenende überleben, darf ich ihn am Montag zu mir holen.“
„Und du fragst mich kein bisschen?“
„Felix, bitte. Vielleicht hat Afra ihn mir geschickt, wer weiß? Außerdem, was sollte ich lange überlegen? Er brauchte Hilfe und die habe ich ihm gegeben. Soll ich ihn nach seiner Genesung ins Tierheim abschieben? Ein Platz ist wieder frei und wenn du Finley erst einmal siehst, wirst du mir zustimmen.“
Zärtlich streichelte Felix über ihr langes Haar. „Konnte ich dir je einen Wunsch abschlagen?“
„Du sagst also Ja?“
„Was bleibt mir denn anderes übrig?“
Glücklich strahlte sie ihn an. „Du bist ein Schatz.“
Nachdem beide zu Bett gegangen waren, fiel Pia das Notizbuch wieder ein. Schwungvoll warf sie die Decke zurück und flitzte barfuß über den kühlen Fliesenboden in die Küche. Dort schnappte sie sich das Büchlein und eilte zurück. Im Flur hielt sie inne und erschauderte. Das untrügliche Gefühl, dass jemand vom oberen Treppenabsatz zu ihr herunterschaute und sie beobachtete, verstärkte sich mit jedem Atemzug.
„Ist da jemand?“ Unsicher machte sie einen Schritt nach vorn. Oben im Flur knarrte eine Diele und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie bildete sich ein, einen seltsamen Schatten vor der Kammertür zu sehen, der da nicht hingehörte.
Plötzlich riss Felix die Schlafzimmertür auf und entlockte Pia einen heiseren Schrei.
„Hast du mich gerufen?“ Fragend sah er sie an.
„Nein“, antwortete sie zögerlich. Sollte sie sich ihm anvertrauen? „Ich habe oben ein Geräusch gehört, als würde jemand über die Dielen laufen.“
„Das ist der Nachteil, wenn man ein altes Gemäuer bewohnt, es hat seine eigenen Geräusche. Ich schaue am besten gleich nach, könnte ja auch ein Tier gewesen sein.“
Verloren stand Pia im Flur, während Felix im oberen Stockwerk die Zimmer durchsuchte. Die Türen klappten auf und zu und seine Schritte hallten über den Dielenboden. Dann lehnte er seinen Oberkörper über das gedrechselte Holzgeländer und rief nach unten: „Hier ist absolut nichts zu finden. Nur die Tür zur Kammer stand offen, muss wahrscheinlich aufgesprungen sein. Altes Holz verzieht sich mit der Zeit.“
Befreit atmete sie auf, sie musste sich getäuscht haben. Dabei hätte sie schwören können, dass ein Augenpaar sie verfolgt hatte.
Sie schlüpften zurück unter die warme Decke und kuschelten sich aneinander. Neugierig schlug Pia die vergilbten Seiten des Notizbuches auf. Die Zeilen waren ziemlich ungelenk in altdeutscher Schrift niedergeschrieben worden. Pia fiel es schwer, die Wörter zu entziffern, trotzdem begann sie laut zu lesen:
14. März 1938
Ich weiß nicht, wem ich mich anvertrauen soll, also habe ich dieses Büchlein gestohlen und schreibe nun all meine Gedanken hinein. Ich bin Annika und gerade erst vierzehn Jahre alt geworden. Mein Vater hat mich weggegeben. Er meint, ich bin zu hässlich und zu dumm, als dass mich ein reicher Bauer heiraten würde. Also verdinge ich mich bei den Bauersleuten als Magd.
Mein kärglicher Lohn wird direkt an den Vater ausgezahlt, bis ich volljährig bin. Der versäuft es und meine jüngeren Geschwister müssen hungern. Oh, wie ich diesen rohen Kerl hasse, besonders wenn er mich und meine Mutter schlägt.
Er teilt aus, wo es nur geht, ist aber selbst kaum in der Lage, seine Familie zu ernähren. Was er an Lohn verdient, trägt er sofort ins Wirtshaus. Ich verachte und verabscheue ihn, auch, weil er mich gegen meinen Willen abgeschoben hat.
Der Herr dieses Hauses, Albert, ist ein feister Kerl, der ständig nach selbstgebranntem Schnaps und Zwiebeln riecht. Er hat ein steifes Bein und hinkt. Bei der Heuernte ist es ihm zwischen die Speichen eines Wagens geraten. Trotzdem ist er kräftig wie ein Löwe. Schon am ersten Tag hat er mir sonderbare Blicke zugeworfen, die ich nicht so recht einordnen kann.
Die Arbeit auf dem Hof fällt mir schwer. Der ständige Hunger hat mich während meiner Kindheit begleitet, ich bin spindeldürr und mager. Martha, Alberts Frau, behandelt mich wie Dreck. Sie schlägt und scheucht mich von morgens bis abends. Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen, trotzdem will ich zu meiner Familie zurück.
Pia klappte das Büchlein zu. „Das ist ja mal richtig krass. So lange lag das schon dort unten? Es ist unglaublich anstrengend, die Wörter zu entziffern, ich muss mich erst mit dieser Schriftart befassen. Aber solche Dokumente sind wirklich interessant, Zeitzeugen aus einem anderen Jahrhundert. Findest du nicht auch?“
„Hm“, knurrte Felix. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört und dämmerte langsam in den Schlaf. Pia legte das Notizbuch in die Schublade ihres Nachtschränkchens und löschte das Licht.
„Schlaf gut.“
„Hm.“
Sein gleichmäßiger Atem beruhigte Pias Herzschlag. Sie rückte ein Stückchen näher an ihn heran und ehe sie sich’s versah, schlossen sich ihre Lider.
„Was zum Teufel ist das denn für ein Lärm?“ Felix saß aufrecht im Bett und lauschte. „Das hört sich ja voll schaurig an, als würden Babys weinen.“
Pia murmelte schlaftrunken: „Leg dich wieder hin. Das sind nur die Katzen auf der Suche nach einem Abenteuer.“
„Ehrlich? Die Viecher haben sie doch nicht mehr alle. So ein albernes Gekreische nur wegen einer schnellen Nummer. Ich könnte trotzdem meinen Hintern verwetten, dass es sich wie Babygeschrei anhört.“
Leise brummelnd drehte er sich auf die Seite und schlief sofort wieder ein.