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Kapitel 8

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Einsam saß Pia am Küchentisch, während die Hunde friedlich in ihren Körbchen schliefen. Felix fehlte ihr schon jetzt und sie wollte gar nicht erst an die kommenden Nächte denken. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper und wusste nichts mit sich anzufangen. Nach einer heißen Dusche zog sie sich ins Schlafzimmer zurück und holte das Notizbüchlein aus der Schublade. Nur wenige Augenblicke später tauchte sie erneut in Annikas Leben ein.

24. Dezember 1938

Heute ist Heilig Abend. Ich bin sehr traurig, denn meine Familie fehlt mir so sehr. Sie werden ohne mich in die Kirche gehen und ohne mich das Festmahl verspeisen.

Ich laufe mit verheulten Augen durch die Gegend und habe von der Bäuerin schon einen Rüffel bekommen. „Annika, wie schaust du nur aus? Willst du uns das Fest mit deiner Trauermiene verderben?“

Dabei ist sie es, die mit ihrem schrecklichen Gezeter alle in den Wahnsinn treibt. Das Haus muss blitzen, wenn ihre Schwester kommt, denn sie möchte mit allem auftrumpfen. Meine Hände sind vom vielen Schrubben schon ganz wund.

In letzter Zeit bin ich fürchterlich müde und schlafe manchmal schon im Stehen ein. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hat Martha mir zu allem Überfluss weitere Aufgaben aufgehalst. Ich muss während der Festtage die Kinder hüten und die Herrschaften bewirten. Keine Ahnung, wie ich das überstehen soll und dabei sind sie noch nicht einmal angereist.

Ich beneide Willi und Gustav um ihre freien Tage. Einmal so richtig ausschlafen oder mit dem Poldi durch das Dorf spazieren, das wäre schön. Stattdessen muss ich von morgens bis abends schuften und selten bleibt ein bisschen Zeit für mich.

Gestern habe ich nun endlich den Brief geschrieben und meine Eltern eindringlich darum gebeten, mich wieder zurückzuholen. Sie sollen mir eine andere Arbeit suchen, ich will so schnell wie möglich von hier weg! Mit niemandem kann ich über meine Probleme reden und die Einsamkeit macht mir zu schaffen. Ob sie mir wohl helfen werden?

Als ich den Brief zur Post bringen wollte, hatte mich die Bäuerin abgefangen. Unmissverständlich forderte sie mich auf, ihr den Umschlag auszuhändigen, damit Albert ihn später mitnehmen kann. Die Briefmarken werden mir natürlich vom Lohn abgezogen, was für ein geiziges Pack. Ein Geschenk habe ich auch nicht bekommen, wenn man von der alten Strickjacke der Bäuerin einmal absieht. Dieses schäbige Ding ist mir viel zu groß und an den Ellbogen bereits durchgescheuert.

Ach, was für ein trauriges Fest!

Pia klappte das Büchlein zu. Das war also Annikas erstes Weihnachtsfest ohne ihre Familie. Sie sympathisierte mit der Magd und litt wiederholt mit dem jungen Mädchen.

Wie würde wohl das bevorstehende Fest für sie selbst aussehen? Hatte sie bis dahin schon den gesamten Auszug organisiert oder feierte sie ebenso wie Annika das Fest noch unter diesem Dach?

Seit sie von Annikas Existenz wusste, sah sie dieses Gehöft mit völlig anderen Augen. Das ehemals heimische Gefühl war gänzlich verschwunden und mit jeder Zeile, die sie las, verachtete sie Martha und Albert mehr und mehr. In diesen vier Wänden einen Tannenbaum aufzustellen und glücklich in das neue Jahr hineinzufeiern war geradezu absurd.

Sie legte die Aufzeichnungen beiseite und ließ die Hunde noch einmal vor die Tür. An der Treppe hielt sie kurz inne. Über ihr öffnete sich der bedrohlich wirkende, dunkle Schlund und das eben noch so sichere Gefühl verebbte schlagartig.

Pia wagte nicht, den Blick in die obere Etage zu richten. Sie verharrte wie gelähmt vor der ersten Stufe, als wären ihre Beine mit tonnenschweren Gewichten verankert. Eiskalt lief es ihr den Rücken herunter und im Nacken kribbelte es elektrisierend. Deutlicher denn je konnte sie spüren, dass dort oben etwas lauerte und sie beobachtete.

Mehrmals atmete sie tief ein und wieder aus, bis sie endlich den Mut aufbrachte, ihren Focus auf die Empore zu richten. Mit offenem Mund starrte sie hinauf und für einen kurzen Moment setzte ihr Herzschlag aus.

Ein furchteinflößender Schatten spannte sich vom Geländer bis zur Kammertür. Pia fühlte sich wie hypnotisiert und konnte ihre Augen nicht davon abwenden. Warf die Flurlampe tatsächlich solch ein groteskes Gebilde an die Wand? Und warum war ihr das nicht schon viel eher aufgefallen?

Fremde Gedanken schwirrten urplötzlich durch ihren Kopf, als wolle jemand nicht akzeptieren, dass sie die neue Besitzerin dieses Hofes war. Sie fühlte sich völlig deplatziert und bei Gott, dieser Schatten war ihr nicht wohlgesonnen.

Mit aller Gewalt riss sie sich von diesem Anblick los, ließ die Hunde ins Haus und flüchtete ins Schlafzimmer. Krachend fiel die Tür ins Schloss und sie justierte umgehend den Stuhl unter die Klinke.

“Was zum Teufel war denn das gewesen?“, flüsterte sie mit spröder Stimme und verkroch sich wieder im Bett. Wie fremdgesteuert hatte sie ihren Blick nach oben gerichtet und sich den Unmut dieses Wesens aufzwingen lassen. Wurde sie langsam verrückt?

Angestrengt lauschte sie in die Stille der Nacht, doch nur die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Vierbeiner waren zu hören. Obwohl ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, war an Schlaf nicht zu denken und sie widmete sich erneut Annikas Tagebuch.

28. Dezember 1938

Vorgestern ist die gesamte Sippschaft von Martha angereist. Drei rotzfreche Gören balgen durch das Haus und machen auch vor meiner Kammer nicht halt. Sie schmeißen mein Bettzeug auf den Boden, trampeln darauf herum und ich möchte nur noch schreien. Aber wehe, ich würde das einmal wagen!

Ich kann die Kinder kaum bändigen und egal wie oft ich sie bitte, mit den Dummheiten aufzuhören, sie machen trotzdem was sie wollen. Und schon wieder brüllt Martha ungehalten: „Annika, verdammt, wo steckst du? Du sollst gefälligst die Kinder hüten!“

Verzogene Gören. Jetzt muss ich immerzu an meine Geschwister denken. Wir hätten es nie gewagt, so ein Benehmen an den Tag zu legen, dass hätte uns schon der normale Anstand verboten.

Jedenfalls habe ich die Kinder wieder in ihre Betten gejagt und ihnen erzählt, dass es hier im Hause spukt. Wenn sie nachts heimlich aufstehen und den Geist dadurch verärgern, wird er sie um Mitternacht aus ihren Betten reißen. Die Geschichte hat sie wohl beeindruckt, denn es herrscht endlich Ruhe. Schließlich brauche auch ich meinen Schlaf, besonders nach diesen anstrengenden Tagen.

Trotz meiner Müdigkeit möchte ich schnell noch aufschreiben, was heut alles passiert ist. So wie es ausschaut hat Erwin, der Gatte von Marthas Schwester, ein Auge auf mich geworfen. Geübt wie ich bin, gehe ich ihm direkt aus dem Weg, aber er kann trotzdem seine Finger nicht bei sich behalten.

Albert hat das natürlich mitbekommen und Erwin in den Stall zitiert, um ihn sich dort zur Brust zu nehmen. Und als das nichts nützte, ist Albert laut geworden. Mir soll es recht sein, denn ich habe mit Männern absolut nichts am Hut.

Es war bisher das schlimmste Weihnachtsfest und ich frage mich, ob es in Zukunft immer so sein wird. Selbst der köstliche Braten konnte nichts daran ändern, dass ich unglücklich bin.

5. Januar 1939

Das neue Jahr beginnt mit frostiger Kälte und ganz viel Schnee. Meine Kammer ist ein eisiges Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt. Selbst Willi und Gustav haben einen kleinen, gusseisernen Ofen in ihrem Zimmerchen stehen.

Die Bagage von Martha ist kurz nach dem Jahreswechsel abgereist. Ich konnte es kaum erwarten und möchte diese Herrschaften so schnell nicht wieder sehen. Erwin und die Kinder haben mir wirklich den letzten Nerv geraubt. Nachdem Martha aufgefallen war, dass Erwin mir nachstellt, hatte ich keine ruhige Minute mehr. Wieso muss ich ständig die Fehler anderer Menschen am eigenen Leib ausbaden?

Auch sonst gibt es keinen Grund zur Freude. Ich fühle mich hundeelend und diese anhaltende, bleierne Müdigkeit will einfach nicht verschwinden. Mein Unterleib bereitet mir die größten Sorgen. Oft muss ich mich krümmen, wenn dieses schmerzhafte Ziehen unerträglich wird. Von der morgendlichen Übelkeit mag ich gar nicht erst reden, ich habe mich schon mehrmals übergeben müssen. Die Bäuerin hat es mitbekommen und mich auf eine seltsame Weise gemustert. Wenn es nicht besser wird, muss ich wohl einen Arzt aufsuchen.

Bitte nicht …, dachte Pia, als sie den Eintrag zu Ende gelesen hatte. Wahrscheinlich trug Annika ein Kind von Albert unter ihrem Herzen und das mit erst vierzehn Jahren. War sich Albert überhaupt bewusst, was er dem Mädchen damit angetan hatte? Und wie würde Martha auf diese ungewollte Schwangerschaft reagieren?

Der Wind hatte an Stärke zugelegt und fegte fauchend um die Ecken des Hofes. Ob es wohl inzwischen schneite? Pia huschte aus dem Bett, schob die Gardine beiseite und warf einen Blick aus dem Fenster. Tatsächlich, die ersten Flocken trudelten lautlos auf den Boden. Ob sie wollte oder nicht, sie würde den Wecker ein paar Minuten eher stellen müssen. Laut gähnend schlüpfte sie zurück unter die warme Bettdecke und löschte das Licht. Wie ein Murmeltier rollte sie sich zusammen und versuchte in den erholsamen Schlaf zu finden.


Blinzelnd schlug sie die Augen auf, irgendetwas stimmte hier nicht. Sie drückte auf den Schalter der Nachttischlampe und sah sich suchend um. Die Gardine bauschte sich auf, um danach wieder zusammenzufallen, während der Wind unter der Zimmertür hindurch fegte. Irgendwo im Haus musste ein Fenster offen stehen.

Sollte sie das warme Bett verlassen, um der Sache auf den Grund zu gehen?

Obwohl ihr die Furcht die Kehle zuschnürte, zog sie sich mit fahrigen Bewegungen den Bademantel über. Das Herz hämmerte ein wildes Staccato in ihrer Brust, als sie behutsam die Tür öffnete. Sie scannte den Flur mit ihren Blicken und lauschte dem Heulen des Windes. Jetzt konnte sie es ganz deutlich hören, in der oberen Etage klapperten die Fensterflügel.

Pia spürte die Kälte und jeden Windhauch, der um ihre nackten Waden strich. Frierend schlang sie den Bademantel fester um ihren Oberkörper und suchte nach dem Schatten auf der Empore. Doch da war nichts.

Zaghaft setzte sie den Fuß auf die erste Stufe, während ihre Finger das Geländer umklammerten. Es sind doch nur ein paar Schritte, sprach sie sich Mut zu. Das Knarzen der Treppe schürte ihre Angst und der Puls raste. Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich hinter dieser Tür ein Monster verbarg? Ihre Hand lag zitternd auf der Klinke und es würde sie eine Menge Überwindung kosten, diese herunterzudrücken.

Eisige Luft schlug ihr entgegen, als sie die Kammertür aufstieß und hektisch nach dem Lichtschalter tastete. Die nackte Glühbirne warf ein gespenstisches Licht an die kahlen Wände des leeren Raumes. Einzig der Schaukelstuhl hatte erneut seine Position geändert, was sie nur am Rande zur Kenntnis nahm. Hauptsache, nur schnell wieder weg von hier.

Hastig schlug sie die Fensterflügel zu und musterte dabei aufmerksam die Umgebung. Schemenhafte Schatten verschmolzen mit der Finsternis und es war unmöglich, etwas Genaues zu erkennen. Unaufhaltsam kroch die Kälte an ihren Beinen hinauf und sie löste den Blick von der Landschaft. Mit einem Satz verließ sie die Kammer und hastete die Treppe hinunter direkt ins Schlafzimmer. Durchgefroren vergrub sie sich zwischen den Kissen und atmete tief durch.

Die Angst ist dein Feind

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