Читать книгу Die Angst ist dein Feind - Ana Dee - Страница 11

Kapitel 5

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Am darauffolgenden Morgen sprang Pia aus dem Bett und direkt ins Bad. Sie hatten verschlafen, aber so richtig. Warum der Wecker seinen Dienst verweigert hatte, blieb ihr ein Rätsel. In Windeseile bereitete sie das Frühstück zu.

Carina hingegen, hatte die Ruhe weg. Mit frisch gewaschenen, tropfnassen Haaren saß sie am Tisch und schlürfte gelassen ihren Kaffee.

„Bitte beeil dich bitte, wir müssen los!“, ermahnte Pia ihre Freundin und machte ordentlich Druck.

Unbeeindruckt schenkte sich Carina eine weitere Tasse Kaffee ein. „Heute ist Freitag und wir haben verschlafen, also lass uns das Beste daraus machen. Was hältst du davon, wenn wir auf ärztliche Anweisung einfach Blau machen? Dann können wir in aller Ruhe den Dachboden nach Schlupflöchern absuchen.“

„Das wird meinem Vater überhaupt nicht gefallen.“

„Aber das hier ist ein Notfall oder willst du die nächsten Tage vor lauter Panik nie zur Ruhe kommen? Schieb dem Ganzen einen Riegel vor und lass dir nicht gefallen, dass dich jemand in Angst und Schrecken versetzt.“

„Einverstanden, du hast mich überzeugt. Meinem Vater möchte ich momentan sowieso nicht über den Weg laufen, dann geht sofort die alte Leier vom Hausverkauf wieder los. Ich überlasse dir einen Zweitschlüssel, damit du nachher nicht vor der Haustür warten musst.“


Am späten Vormittag saßen die zwei wieder vereint am Küchentisch.

„Siehst du, hat doch geklappt“, verkündete Carina überzeugt. „Ich war im letzten Jahr nicht ein einziges Mal krankgeschrieben, da habe ich mir diesen Tag doch wohl redlich verdient.“

„Ich will nur noch schnell meinen Vater anrufen und anschließend können wir die Aktion ‚Dachboden‘ starten.“

Pia verschwand im Wohnzimmer, tippte die Nummer in das Display und hatte sofort ihren Vater am Hörer.

„Kind, wo bleibst du denn? Ist wieder etwas passiert?“, fragte er besorgt.

„Nein. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich krankgeschrieben bin.“

„Ach Pia, warum denn das?“

Er klang enttäuscht und holte tief Luft. Ein gewaltiges Donnerwetter folgte und sie wurde immer stiller. Irgendwann spürte er ihre verhaltene Reaktion auf seinen Ausbruch und stoppte den Redefluss.

„Tut mir leid, Pia, die Pferde sind gerade mit mir durchgegangen. Ohne deine Mutter geht in der Firma alles drunter und drüber, und jetzt fehlst du auch noch. Ich weiß, der Schock über den Fund sitzt tief, das steckt niemand so leicht weg. Nimm dir einfach die Zeit, die du brauchst.“

„Danke.“ Sie beendete das Gespräch und lief mit einem betrübten Gesichtsausdruck zurück in die Küche.

„Und, war es schlimm?“

„Du kennst ihn doch. Irgendwann hat er bemerkt, dass er übers Ziel hinausgeschossen war und sich entschuldigt. Ich bin am Ende meiner Kräfte und die Krankschreibung war nicht einmal erlogen. Der Ärztin ist sofort meine Erschöpfung aufgefallen und ich soll mich schonen.“

„Aber wir durchsuchen dennoch den Dachboden?“

„Selbstverständlich, ich möchte schließlich wieder in Ruhe schlafen können.“

Die Freundinnen erklommen die steile Stiege, die zum Dachboden führte. Die Tür war ordnungsgemäß abgeschlossen und der Schlüssel steckte von außen. Ratlos zuckte Pia mit den Schultern.

„Also durch diese Tür kann niemand eindringen. Das ist ein altes Schloss und wenn der Schlüssel steckt, kann man ihn von der anderen Seite nicht herumdrehen.“

„Wir sollten trotzdem nachsehen. Außerdem bin ich furchtbar neugierig, was sich dahinter verbirgt.“ Carina scharrte voller Ungeduld mit den Hufen.

Pia öffnete die Tür und sie traten ein. Der Wind pfiff durch die Sparren und es war bitterkalt. Staubflöckchen tanzten im einfallenden Sonnenlicht, das durch die winzigen Fenster ins Innere drang. Alte Kartons, Lampen, ein Schaukelstuhl und zwei kleinere Truhen verteilten sich auf dem Boden. Carina lief sofort zu einem Karton und riss ihn auf.

„Entschuldige, aber ich krame so gern in alten Sachen.“

„Carina, deswegen sind wir aber nicht hier oben.“

„Immer mit der Ruhe, Felix kommt doch erst am Abend und somit haben wir den ganzen Tag Zeit. Lass uns ein bisschen in der Vergangenheit stöbern, vielleicht finden wir etwas heraus.“

„Habe ich eine Wahl?“, murmelte Pia leise und hockte sich widerwillig neben Carina. Die zerrte gerade alte Gardinen aus dem Karton, dass es nur so staubte.

„Meine Güte, was sind denn das für hässliche Dinger? Schnell wieder weg damit.“ Im nächsten Karton entdeckte sie angeschlagenes Geschirr und vergammelte Bücher. „Das kannst du getrost entsorgen, das reicht nicht einmal mehr für den Flohmarkt. Schade, dass wir nichts Wertvolles gefunden haben. Ein bisschen Schmuck oder Silberbesteck wäre in Anbetracht deiner finanziellen Lage nicht schlecht gewesen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fummelte sie bereits am Schloss der Truhe und gab nicht eher nach, bis es sich endlich öffnen ließ. „Schau mal, hier sind Fotos“, rief Carina freudig. Voller Enthusiasmus wühlte sie in der Truhe und angelte ein gerahmtes Bild heraus.

Mit ihrem Ärmel wischte sie die Staubschicht vom Glas und betrachtete interessiert die vergilbte Fotografie. Anschließend zeigte sie ihren Fund Pia, die ebenso gebannt die Personen musterte.

In der Mitte, ganz zweifelsohne, waren die Herrschaften des Hauses in Festtagskleidung abgelichtet worden. Streng und ohne ein Lächeln im Gesicht stierten sie in die Kamera. Auf der rechten Seite neben der Hausherrin befanden sich zwei ältere Männer. Sie hatten triste Arbeitskleidung an und wirkten ungepflegt. Vielleicht waren das ja Tagelöhner oder Erntehelfer.

Links neben dem Hausherrn stand eine junge Frau, die schüchtern in die Kamera blickte. In zusammengesunkener, beinahe unterwürfiger Haltung harrte sie aus und schien sich nicht sehr wohl zu fühlen. Sie wirkte auf eine bedauernswerte Weise verloren, so als ob sie nicht dazugehörte.

Pia spürte sofort eine tiefe Verbindung zu dieser Frau, ja sie meinte sogar, eine gewisse Ähnlichkeit in den Gesichtszügen wiederzufinden. Schlagartig fiel ihr das Notizbüchlein wieder ein. War diese junge Frau vielleicht Annika, die Magd?

„Die sieht ja fast so aus wie du“, platzte es aus Carina heraus. „Na, das nenne ich aber einen Zufall. Schau mal hier, sie ist mit Sicherheit schwanger.“ Carina tippte mit ihrem Zeigefinger auf das lumpige Kleid. „Wer wohl der Vater ist? Hoffentlich nicht einer von den älteren Herren auf diesem Bild“, argwöhnte sie.

„Carina!“, rief Pia entrüstet. „Du bist unmöglich.“

„Was denn? Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“

„Ich nehme das Bild auf jeden Fall mit nach unten und während du die Truhe nach weiteren Schätzen durchpflügst, werde ich nach Schlupflöchern Ausschau halten.“

„Ganz wie du willst.“

Pia begutachtete die Fenster, rüttelte an den Dachziegeln, kroch auf allen Vieren am Kniestock entlang und fand nicht die kleinste Öffnung. „Nicht einmal im Staub lassen sich Spuren entdecken. Ich glaube nicht, dass sich jemand über den Dachboden Zutritt verschafft hat. Sicherheitshalber kontrolliere ich noch die Ecken hinter dem Schornstein, dann bin ich fertig.“

„Ja, mach nur …“ antwortete Carina abwesend. Sie war noch immer mit den alten Fotografien beschäftigt.

Während Pia den restlichen Dachboden untersuchte, stieß sie plötzlich einen überraschten Schrei aus. Hinter dem Schornstein verborgen, stand eine mit Spinnweben verhangene Wiege.

„Hast du den Einstieg entdeckt?“

„Nein, viel besser. Komm her und sieh dir das einmal an.“

„Muss das ausgerechnet jetzt sein?“

„Ja, muss es.“

Carina erhob sich und trottete zum Schornstein. „Was gibt es denn so Wichtiges?“

„Würdest du bitte deine Brille aufsetzen.“

„Oh.“ Carina verschlug es beim Anblick der Wiege die Sprache.

„Genau, oh. Ob es sich wohl um die Wiege handelt, in der die Babys einst gelegen haben?“

Pia verschwieg ihrer Freundin wohlweislich, dass sie die Wiege aus ihren Träumen schon längst erkannt hatte. Nur wenn sie das jetzt preisgab, würde Carina sie wahrscheinlich für verrückt erklären.

„Sieh dir doch nur einmal an, wie alt das Ding ist.“ Pia versetzte der Wiege einen Stoß und sie schaukelte einige Male hin und her. An ihr hatte nicht nur der Zahn der Zeit, sondern auch der Holzwurm genagt.

„Pia, über diesen Fund können wir nachher noch diskutieren, ich habe nämlich eine geniale Idee. Warum bringen wir den antiken Schaukelstuhl nicht nach unten in die Kammer? Wenn du beim Malen eine Pause machen möchtest, kannst du dich hineinsetzen und entspannen. Na, was hältst du davon?“

„Ich weiß nicht so recht. Muss das ausgerechnet heute sein?“

„Muss es, ich helfe dir schließlich auch beim Tragen.“

Pia stöhnte innerlich auf und folgte Carina.

„So, jetzt kommt das gute Stück nach unten.“

„Carina bitte, ich möchte das Gehöft doch sowieso verkaufen. Warum willst du unbedingt diesen Klotz in die Kammer schleppen?“

„Weil ich finde, dass er dahin gehört“, antwortete sie bestimmt.

Ohne einen weiteren Widerspruch zu dulden, hob Carina den Schaukelstuhl an und zu zweit trugen sie ihn die steile Treppe hinunter.

„Er ist wie für diese Kammer geschaffen“, erklärte Carina zufrieden.

„Aber er nimmt viel zu viel Platz weg und ich mag ihn nicht.“

„Ach was.“ Carina zog die Freundin am Ärmel in die Küche. „Kochst du uns jetzt einen Kaffee? Ich habe gerade wieder einen Tiefpunkt erreicht.“ Ein herzhaftes Gähnen unterstrich ihren Wunsch nach dem koffeinhaltigen Getränk.

„Dein Wunsch ist mir Befehl, außerdem könnte ich auch eine Tasse vertragen.“

Carina trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte und Biene spitzte ihre Ohren. „Was hältst du davon, wenn wir anschließend die Fenster kontrollieren? Dann sind wir zumindest auf der sicheren Seite. Irgendwo muss doch etwas offen stehen.“

„Und wenn nicht?“, erwiderte Pia nachdenklich.

„Vielleicht ist mit dem Fundament etwas nicht in Ordnung und das Haus setzt sich. Über so einen Fall habe ich neulich im Internet gelesen.“

„Sollte es wirklich daran liegen, Carina, dann ist es mir egal. Ich werde nicht hier wohnen bleiben.“


Die Freundinnen hatten sich im Haus verteilt und rüttelten an jedem Fenster. Das Material hielt den prüfenden Händen stand, nichts öffnete sich von allein und im Wohnzimmer trafen sie wieder aufeinander.

„Du solltest Felix noch einmal bitten, sich genauer umzusehen. Männer haben für solcherlei Dinge garantiert den besseren Blick.“

„Vielleicht sollte ich das. Aber ich habe mir schon von Anfang an gedacht, dass niemand ungehindert ins Haus gelangen kann. Die Hunde hätten doch mit Sicherheit anders reagiert. Du weißt ja, wie misstrauisch Biene jeden Fremden beäugt und sofort anschlägt.“

„Ich weiß. Und wie geht es weiter?“

„Wir machen es uns auf der Couch bequem, während ich in dem Tagebuch lese, das ich in der Kammer gefunden habe. Mit etwas Glück stoßen wir auf eine Spur, die uns weiterbringt.“

„Aber du musst laut lesen, ich will schließlich mithören.“ Carina nickte ihr aufmunternd zu.

16. April 1938

Einen Monat bin ich nun schon hier und es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Ich verspüre eine große Sehnsucht nach meinem Zuhause, wünsche mir, dass mich meine Mutter in ihre Arme schließt. Ob Vater wieder grob zu ihr war? Und wie es meinen Geschwistern wohl ergeht? Ich habe ihnen gegenüber fast schon ein schlechtes Gewissen, weil ich jeden Abend erschöpft, aber trotzdem satt auf meine durchgelegene Matratze falle.

Die Arbeit auf dem Hof ist unglaublich schwer. Ich bin immer noch viel zu schwach, um die schweren Dinge zu schleppen. Jeden Morgen in der Dämmerung muss ich raus in den Stall, dabei bin ich noch so müde. Nach dem Melken treibe ich die Kühe auf die Weide und putze anschließend das Haus. Das Füttern und Misten übernehmen die Knechte Willi und Gustav, da brauche ich nicht mit anzupacken.

Martha führt sich auf wie eine Fürstin - Annika tu dies, Annika mach das, Annika, geht das nicht ein bisschen schneller, Annika, die Wäsche ist nicht sauber genug … Ich hasse ihren Kommandoton, aber wie soll ich mich wehren? Sie ist die Herrin, ich bin die Magd, so ist das Leben.

Bei meiner letzten Wäsche hatte das Handtuch noch einen kleinen Fleck. Ich habe wie besessen auf dem Waschbrett geschrubbt, ihn aber nicht aus dem Stoff bekommen. Martha hat mir vor lauter Frust das feuchte Handtuch ins Gesicht geschleudert. Wieder und wieder holte sie aus und ließ es auf mich niedersausen, bis irgendwann der Gustav dazwischen ging.

„Ich werde euch den Lohn kürzen, ihr Bastarde!“ hatte sie voller Zorn gebrüllt und ist kurz darauf im Haus verschwunden. Tagelang hatte ich dicke Striemen im Gesicht und konnte kaum etwas essen.

Immer, wenn sie sich mit ihrem Mann Albert streitet, muss ich das ausbaden. Was für eine ungerechte Welt.

Pia klappte das Büchlein zu. „Mir fehlen die Worte.“ Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals und die Augen brannten.

Carina nagte nachdenklich an ihrem Daumen. „Das Mädchen ist gerade erst vierzehn, fast noch ein Kind. Sie von morgens bis abends anzutreiben zu lassen, ist einfach ungeheuerlich. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass wir den Krieg und diese Zeit nicht miterleben mussten.“

„Du hast vollkommen recht. Soll ich weiterlesen?“

„Ja, unbedingt …“

5. Mai 1938

Heut war wieder ein fürchterlicher Tag und während ich diese Zeilen schreibe, muss ich wieder weinen.

Poldi, der zottelige Hofhund, begleitet mich immer auf die Weide. Der Arme hängt ständig an einer kurzen Kette und so oft ich kann, lasse ich ihn frei. Er ist der einzige auf dem Hof, der mir etwas Zuneigung und Liebe schenkt und der sich immer, wirklich immer freut, wenn er mich sieht. Ohne ihn wäre ich hier verloren.

Nun habe ich dummerweise nicht bemerkt, dass der Albert die Hennen mit den Küken auf dem Hof frei laufen lässt. Natürlich nahm das Unglück seinen Lauf und Poldi tötete drei der Küken. Zwei verspeiste er sofort und das dritte entsorgte Gustav im Ofen. Obwohl er versucht hat, das Ganze zu vertuschen, hat es nichts genützt. Albert kannte die genaue Zahl der Küken und wusste ohnehin, dass ich den Poldi hab laufen lassen.

Wie eine Furie ist er auf mich los, hat mich gepackt und geschüttelt und entsetzlich angeschrien. Dann zog er plötzlich seinen Gürtel aus der Hose und holte aus. Die Knechte wollten ihn aufhalten, aber er hat getobt und ihnen gedroht, wenn sie dazwischen gehen, wird er sie entlassen – auf der Stelle.

Mein Rücken brennt wie Feuer und die toten Küken wird er mir vom Lohn abziehen. Ich schäme mich, weil meine Eltern nun weniger Geld bekommen. Wie soll es nur weitergehen? Am liebsten würde ich weggelaufen. Wenn ich doch nur wüsste wohin? Kaum ist mein Gesicht verheilt, plagt mich der Rücken mit den Striemen. Und Poldi darf nun auch nicht mehr von der Kette.

Schicksal, warum bist du so grausam zu mir?

Pia wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Was sind das denn für Barbaren? Weißt du, was ich nicht verstehe? Wieso habe ich diesen verfluchten Hof überhaupt gekauft? Ist doch kein Wunder, dass wir diese seltsamen Geräusche hören. Dieser seelische Schmerz scheint hier aus allen Ritzen zu quellen.“

„Meinst du wirklich? Ich glaube ja nicht an so etwas. Trotzdem leide ich mit Annika.“

„Ihr Schicksal geht mir ebenfalls sehr nahe.“

„Liest du einen weiteren Eintrag?“

Pia nickte.

23. Juli 1938

Seit dieser Prügelattacke ist Albert so seltsam geworden. Ständig spioniert er mir hinterher oder fängt mich ab. Oft erschrecke ich mich, weil er plötzlich hinter mir steht wie ein dunkler Schatten.

Martha hat das wohl mitbekommen und triezt mich noch mehr als sonst. Ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen und will einfach nur, dass es wieder aufhört.

Aber weg mit den tristen Gedanken, der Sommer hat endlich Einzug gehalten. Ich liebe die Sonne, wie sie mich wärmt und über meine Haut streichelt. Ein betörender Blumenduft verzaubert die Welt und lockt die dicken Hummeln an auf ihrer Suche nach Nektar. Das Leben könnte so himmlisch sein, müsste ich nicht auf diesem Hof arbeiten und wohnen.

Immerhin habe ich ein bisschen zugenommen, Mutter würde staunen. Und unseren Poldi führe ich jetzt an einem Strick spazieren. Ich binde mir das Seil um die Hüfte und dann kommt er überall mit hin. Albert duldet es und Martha ist es wohl egal. Aber ich habe Poldi so gern in meiner Nähe. Ich erzähle ihm Geschichten, in denen ich eine Prinzessin bin und keiner ahnt etwas davon, dass ich als Baby vertauscht wurde. Irgendwann fällt der ganze Schwindel auf und sie holen mich hier raus.

Ich wohne dann in einem großen Schloss, besitze wunderschöne lange Kleider, bade jeden Tag in einer Wanne mit warmem Wasser und bekomme das tollste Essen überhaupt. Poldi darf auf einem großen Kissen neben meinem Bett schlafen und trägt ein Halsband aus blauer Seide. Und er duftet genauso gut wie ich, weil ich jeden Tag sein Fell pflege und bürste. Aber niemand darf ihn je wieder an eine Kette legen.

Dieses Leben wäre wirklich fein, ich möchte so gern tauschen.

Diesmal fand Carina als erste die Sprache wieder. „Annika wird behandelt wie eine Leibeigene. Ihre Wünsche sind so kindlich, so trivial, aber das Leben ist so hart und unerbittlich. Sie ist übrigens ein bisschen wie du, zumindest was den Poldi betrifft.“

„Stimmt, nur der Hofhund gibt ihr Halt und Liebe. Ich kann ihre einfachen Wünsche sehr gut nachvollziehen. Wir lassen uns heute mit einer Selbstverständlichkeit ein Wannenbad ein und stecken unsere Kleider in die Waschmaschine. Gegensätzlicher könnte das Leben kaum sein “

„Wir schätzen kaum noch die Dinge, die uns den Alltag so extrem erleichtern.“

Biene flitzte schwanzwedelnd zur Tür und erst jetzt bemerkten Pia und Carina die Ankunft von Felix.

„Hallo, ihr zwei.“ Er lief zu Pia und nahm sie in den Arm. „Mein Vater hat mich eben über den schrecklichen Fund unterrichtet. Du hättest nicht schweigen müssen, ich wäre gern für dich da gewesen.“

„Aber dein Studium ist wichtig, Felix. Nur weil ich eine Fehlentscheidung getroffen habe, darf nicht alles andere den Bach runtergehen.“

„Trotzdem hättest du das nicht allein durchstehen müssen. Momentan läuft wirklich alles aus dem Ruder, es ist wie verhext.“

Carina erhob sich. „Ihr habt mit Sicherheit viel zu besprechen und ich möchte nicht stören. Pia, melde dich bitte, wenn du Hilfe brauchst.“

„Du willst wirklich schon gehen? Warum bleibst du nicht noch ein bisschen?“

„Ist schon in Ordnung, mach dir bitte keine Gedanken.“ Carina lächelte ihr zu.

Pia umarmte die Freundin herzlich und begleitete sie bis zur Tür. „Danke, dass du mir beigestanden hast.“

„Das ist doch nicht der Rede wert, schließlich sind wir füreinander da.“

Carina verabschiedete sich und wenige Augenblicke später fuhr der Wagen vom Hof.


Felix kraulte Finley gedankenverloren hinter dem Ohr, als Pia das Wohnzimmer betrat. „Das ist wirklich verrückt, drei Neugeborene auf so eine grausame Art und Weise zu entsorgen. Ich frage mich immer wieder, warum sie nicht beerdigt wurden?“

„Die Frage habe ich mir auch gestellt. Waren die Kinder vielleicht nicht gewollt und sollten ungesehen verschwinden?“ Pia zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich lese gerade die Aufzeichnungen von Annika. Vielleicht komme ich so an die Informationen, was damals passiert sein könnte. Auf dem Dachboden habe ich übrigens eine alte Wiege gefunden. Ob die Kinder wohl ...“ Sie ließ den Satz unvollendet.

„Du meinst, ob sie in dieser Wiege gelegen haben? Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren.“ Felix beugte sich nach vorn. „Was wolltest du eigentlich auf dem Dachboden?“

„Diese seltsamen Geräusche haben in letzter Zeit zugenommen, deshalb wollten Carina und ich nach einem möglichen Schlupfloch suchen. Sie ist der Meinung, dass sich ein Fremder unerlaubter Weise Zutritt verschafft, um mich in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Pia seufzte. „Als wäre das alles nicht schon schlimm genug.“

„Ich werde morgen noch einmal alles kontrollieren. Mit diesem Wissen im Hinterkopf sind die Geräusche natürlich beängstigender als zuvor.“

Pia kniff die Lippen fest zusammen. Sie hatte sich auch vorher schon gefürchtet und verschwieg ihm die Träume noch immer.

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich noch einen Blick in die Bücher werfe?“

„Nein, ich werde einfach die Aufzeichnungen der Magd weiterlesen.“

Pia ließ sich in den Sessel fallen und klappte das Notizbüchlein auf. Biene ergriff sofort die Gelegenheit beim Schopfe und gesellte sich zu ihren Füßen.

8. August 1938

Die Zeit der Ernte hat begonnen und wir rackern uns von morgens bis abends ab. Albert hat zwei Tagelöhner angeheuert, die uns auf den Feldern zur Hand gehen. Sie schlafen im Stall und nicht im Haus. Das ist auch gut so, denn ich fürchte mich vor ihnen. Obwohl beide jung sind, fehlen ihnen Zähne und einer hat sogar eine schiefe Nase.

Sie glotzen mich ständig an, was Albert überhaupt nicht zu gefallen scheint. Manchmal grölen sie und schlagen sich auf die Schenkel, wenn ich hastig an ihnen vorbeihusche. Sie trinken viel mehr Schnaps als der Hausherr und johlen dann bis spät in die Nacht hinein. Am Morgen wanken sie meist müde und mürrisch aufs Feld. Ich bin wirklich froh, wenn die letzte Fuhre in die Scheune kommt und die Männer endlich wieder verschwinden.

Albert ist übrigens immer noch so komisch. Ich stehe zwar nicht mehr die ganze Zeit unter Beobachtung, habe aber trotzdem das Gefühl, dass er mir nachspioniert.

Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass er meine Nähe sucht. Egal wie viel Platz auf dem Gang im Stall ist, er quetscht sich dicht an mir vorbei und berührt mich ständig. Das ist mir sehr unangenehm. Ich mache mich besonders klein und versuche ihm auszuweichen, aber es nützt nichts. Gustav ist es auch schon aufgefallen und er hat dem Willi zugenickt. Ich weiß nicht so recht, was ich darüber denken soll.

Auch die Bäuerin mustert mich immerzu. Ich weiß ja, dass ich ein wenig rundlicher geworden bin. Ob ich ihrer Meinung nach zu viel esse? Wenn ich meinen langen Rock hochbinde, damit ihn der Morgentau nicht durchnässt, brüllt sie sofort aus dem Fenster, dass ich meine Beine wieder bedecken soll. Sie ist der Meinung, ich benehme mich unzüchtig. Dabei habe ich noch nie einen Gedanken daran verschwendet. Wie auch?

7. September 1938

Den heutigen Tag möchte ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen. Albert war auf der Weide, um einer Kuh beim Kalben zu helfen, als einer der Tagelöhner mich grob packte und in den Stall zerren wollte.

Ich habe wie am Spieß geschrien und der Willi hat sofort die Heugabel fallenlassen, um herbeizueilen. Ohne viel Federlesens holte er schwungvoll aus und verpasste dem widerlichen Kerl eine Schelle. Der wollte sich das natürlich nicht gefallen lassen und ging zum Angriff über. Zum Glück kam genau in diesem Augenblick der Albert wieder heim. Er hat dem Tagelöhner gedroht, wenn er seine dreckigen Finger nicht bei sich behält, wird er ohne Lohn vom Hof gejagt. Ich habe die ganze Zeit über wie Espenlaub gezittert.

Später beim Essen fauchte der Albert die Bäuerin an, dass sie besser auf mich achtgeben soll. Natürlich hat das die Hausherrin sofort wieder an mir ausgelassen und mich bis zum Sonnenuntergang gescheucht. Als hätte ich an diesem Tag nicht schon genug gelitten.

Pia hielt inne und lauschte. Felix hatte die Augen geschlossen und schnaufte leise. „Schläfst du?“, fragte sie flüsternd.

Er blieb ihr eine Antwort schuldig und Pia erhob sich leise. Sie lief eine letzte Runde mit den Hunden, verschloss die Tür und kontrollierte die Fenster. Im Schlafzimmer schüttelte sie das Bettzeug auf, bevor sie sich neben die Couch hockte und ihn zärtlich wachküsste. „Komm, steh auf mein Prinz, dein Bett wartet auf dich.“

„Ist es schon so spät?“, murmelte er schlaftrunken.

„Ist es“, lachte sie und schob ihn ins Schlafzimmer.

Schlaff ließ er sich aufs Bett sinken und schälte sich aus seiner Jeans. „Falls du irgendwann dem Postboten verfällst, dann hast du meinen Segen. Ich bin ein ziemlich übermüdeter Liebhaber und zu nichts mehr zu gebrauchen.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken“, beruhigte sie ihn. „Das war eine der schrecklichsten Wochen meines Lebens und ich fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht.“ Liebevoll wuschelte sie durch sein blondes Haar. „Ich wünsche dir eine gute Nacht und werde noch ein bisschen lesen.“

„Schlaf gut, Pia.“

Kaum hatte er die Worte gemurmelt, setzte das leise Schnaufen wieder ein. Pia hingegen, widmete sich erneut den krakeligen Zeilen von Annika.

15. September 1938

Noch immer bin ich total durcheinander und kann keinen klaren Gedanken fassen. Mir ist heute Schlimmes widerfahren und ich muss mir dieses Elend unbedingt von der Seele schreiben.

Wie üblich befand ich mich auf dem Heuboden und habe das Heu für die Kühe nach unten geworfen. Gerade als ich fertig war, kletterte der Albert zu mir herauf. Sein Blick war alles andere als freundlich und ich wollte schnell an ihm vorbei, um wieder nach unten zu gelangen. Plötzlich baute er sich vor mir auf und versperrte mir den Weg.

Er stieß mich hart zurück, so dass ich in den Heuhaufen fiel. Als ich mich erschrocken aufrappeln wollte, warf er sich auf mich und presste seine dreckige Hand auf meinen Mund. Dann schob er mit der anderen den Rock nach oben und drängte mit seinem Körpergewicht meine Knie auseinander. „Besser ich mache es dir jetzt als später ein anderer“, grunzte er.

Rücksichtslos zerfetzte er meine Unterwäsche und fummelte ungehalten zwischen meinen Beinen herum. Ein brennender Schmerz drang in mein Innerstes und er begann sich auf mir zu bewegen. Vor und zurück und vor und zurück.

Der Schmerz war kaum auszuhalten und ich dachte, er wird mich drinnen zerreißen. Es war eine Gnade, als er endlich damit aufhörte. Schlaff und keuchend lag er auf mir und stank widerlich nach seinem Selbstgebrannten. Etwas Klebriges lief zwischen meinen Oberschenkeln herab und ich habe leise gewimmert. Auch wenn sich Albert nicht mehr auf mir bewegte, so tat es dort unten noch schrecklich weh.

Dann stand er auf, stopfte das Hemd in seine Hose und schob die Hosenträger über seine Schultern. „Hör auf zu jaulen, du hattest doch deinen Spaß. Erst willst du mich verführen und später einen auf Mimose machen.“ Verächtlich spuckte er neben mir aus.

Ich wollte nicht weinen, wirklich nicht, aber mein Schluchzen wurde lauter und lauter. Er zog mich an den Haaren hoch und ich versuchte beschämt, meine Unterkleider zu ordnen. Unaufhörlich tropften meine Tränen auf die schmutzige Bluse. Ohne Vorwarnung bekam ich eine schallende Ohrfeige verpasst. Erschrocken blickte ich ihn an und rieb meine glühende Wange.

„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, du sollst endlich still sein! Oder willst du bei meiner Frau in Ungnade fallen? Sieh dich doch nur einmal an, du Hänfling? Denkst du vielleicht, mir hat das Spaß gemacht?“

Sein höhnischer Blick glitt über meinen Körper. „Wenn du hier bleiben willst, dann gehört das ab jetzt zu deinen Aufgaben, wann immer ich dich brauche.“ Zornig drehte er sich um, kletterte die Leiter hinunter und stapfte davon.

Ich folgte ihm mit zitternden Knien und es schmerzte höllisch, als ich mich langsam die Stufen der Leiter nach unten tastete. Was hatte er bloß mit mir gemacht?

Ich wusste, dass mein Vater Ähnliches mit meiner Mutter anstellte und sie dabei sehr unglücklich war. Aber sie sind schließlich ein Ehepaar. Ich bezweifle, dass so etwas zu meinen Aufgaben gehört, nur an wen soll ich mich wenden? Ich bin die einzige Magd auf diesem Hof und ich kann mich niemandem anvertrauen. Außerdem fühle ich mich furchtbar beschmutzt und nicht nur meine Seele leidet.

Pia schluckte. Sie konnte nicht fassen, was sie da soeben gelesen hatte. Albert hatte Annika auf brutale Weise die Unschuld genommen. Wie gut, dass Felix schon schlief, denn jetzt waren es ihre Tränen, die auf das Kopfkissen tropften. Sie fühlte mit Annika, sie litt mit Annika.

Pia erinnerte sich, wie sie im Alter von vierzehn Jahren gewesen war. Das Wörtchen Liebe stand damals noch in den Sternen. Sie hatte für einen heißblütigen Musiker geschwärmt, das war aber auch schon alles. Den ersten Freund hatte sie mit siebzehn.

Welches Päckchen die junge Magd hingegen zu tragen hatte, war im Vergleich dazu beinahe ungeheuerlich. Annika hatte ihre kostbare Jungfräulichkeit an diesen Widerling verloren, heutzutage kaum vorstellbar. Wie würde das junge Mädchen diese Tat verkraften?

Hinter Pias Stirn wirbelten die Gedanken. Sie legte das Tagebuch zurück in die Schublade und löschte das Licht. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und konnte Annika nicht aus ihren Gedanken verbannen. Es war schon weit nach Mitternacht, als der Schlaf sie endlich in andere Welten entführte.


Kurz nach drei verspürte Pia ein dringendes Bedürfnis. Felix schnarchte leise neben ihr, was sehr beruhigend auf sie wirkte. Es war so kuschelig warm und sie versuchte zurück in den Schaf zu finden. Vergebens.

Behutsam schlug sie die Bettdecke zurück und schlich im Dunkeln zur Tür. Leise schlüpfte sie hinaus und tastete nach dem Lichtschalter. Der Strahler im Flur flammte auf und sie fühlte sich augenblicklich wohler. Im Badezimmer hockte sie gähnend auf der kalten Keramik und wünschte sich ins Bett zurück.

Ein Poltern aus der oberen Etage ließ sie innehalten. Es hörte sich so an, als würde jemand ein Möbelstück verrücken und sie registrierte erstaunt, dass es diesmal in Felix’ Anwesenheit passierte.

Ihr Herz schlug schneller und sie lauschte. Wie konnte das sein, wo die Zimmer doch leer standen? Während sie ihre Hände wusch und flüchtig am Handtuch abtrocknete, flackerte das Deckenlicht.

Plötzlich summte es über ihr und ein dumpfer Knall folgte. Die Lampe hatte ihren Geist aufgegeben. Zitternd verharrte sie in der Dunkelheit, bis sie sich endlich aus ihrer Starre löste und behutsam voran tastete. Im lichtdurchfluteten Flur atmete sie auf. Himmel, was hatte sie sich erschrocken …

Gerade als sie in das Schlafzimmer abbiegen wollte, hörte sie von oben ein leises Wimmern. Bitte nicht schon wieder, dachte sie gequält. Doch das Wimmern hielt an und nahm keinerlei Rücksicht auf ihre Ängste. Sie überlegte fieberhaft, ob sie der Sache auf den Grund gehen sollte. Felix war schließlich da und was konnte schon passieren?

Pia umklammerte nervös das Geländer und die erste Stufe ächzte unter ihrem Gewicht. Inzwischen wurde das Wimmern von wehleidigen Schluchzern unterbrochen. Es wirkte so zart, so hilflos, so mitleiderregend.

Nur noch drei Stufen, dann hatte sie die obere Etage erreicht. Das leise Greinen schien tatsächlich aus der Kammer zu kommen. Mit weichen Knien näherte sie sich Schritt für Schritt der Tür. Ihre Hand lag jetzt auf der Klinke und sie musste diese nur noch herunterdrücken. Das Herz hämmerte wild gegen ihre Rippen. Wenn sich nun doch ein Einbrecher hinter dieser Tür verbarg? Aber würde der so weinen wie ein Neugeborenes?

Sie holte noch einmal tief Luft und stieß die Tür auf. Der klagende Laut erstarb abrupt. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen und ein Schauer jagte über ihren Rücken. „Ist da jemand?“, fragte sie in die Schwärze des Zimmers hinein.

Frierend stand sie in der Tür und wagte nicht, den dunklen Raum zu betreten. Sie wollte gerade nach dem Lichtschalter tasten, als das Licht im Flur zu flackern begann. Bitte nicht jetzt, flehte sie.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gesponnen, da verabschiedete sich das Licht erneut und ein angsterfüllter Aufschrei verließ ihre Lippen. Ihre Hände krallten sich in das Holz des Türrahmens und sie legte panisch den Rückwärtsgang ein. Das Blut rauschte in ihren Ohren und der Puls raste.

Orientierungslos taumelte sie durch die Dunkelheit in Richtung Treppe, ihre Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Die Hände weit von sich gestreckt hoffte sie bald auf das Geländer zu treffen. Unsicher stakste sie über die Dielen und lauschte dem Hall ihrer eigenen Schritte. Schlagartig wurde es kälter, als hätte jemand ein Fenster sperrangelweit aufgerissen und sie spürte eine Berührung im Nacken.

Das war mehr als sie ertragen konnte und sie schrie erschrocken auf. Kein Zweifel, irgendetwas war an ihr vorbeigehuscht!

„Felix, bitte hilf mir!“, schallte ihre hysterisch angehauchte Stimme durch das Haus

Blind wie ein Maulwurf nahm sie Stufe für Stufe, Hauptsache, nur weg von der Kammer. Im Schlafzimmer rumorte es, dann riss Felix die Tür auf.

„Pia, warum funktioniert das Licht nicht mehr? Und wo steckst du überhaupt?“

„Ich stehe mitten auf der Treppe.“

„Was machst du denn da? Warum liegst du nicht im Bett und schläfst, wie jeder andere auch?“

„Ich habe etwas gehört und wollte nachschauen.“

„Hast du irgendwo eine Taschenlampe?“

„Ja, in meiner Nachttischschublade.“

Felix verschwand im Schlafzimmer und erneut polterte es. „Mist verdammter, mein Zeh!“ Wenige Augenblicke später folgte er dem Lichtkegel der Taschenlampe.

„Leuchte bitte auf die Treppe“, bat Pia und wankte nach unten.

„Ich kontrolliere den Sicherungskasten, warte einen Moment.“ Er verzog sich hinter die Treppe, öffnete das Türchen und wenige Sekunden später standen sie ihm Hellen.

„Der FI-Schutzschalter war ausgelöst, muss wohl irgendwo einen Kurzschluss gegeben haben.“

„Wahrscheinlich durch die Lampe im Badezimmer, die funktioniert nicht mehr.“

„Pia mein Schatz, weißt du was?“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie in Richtung Schlafzimmer. „Lass mich morgen in aller Ruhe die Elektrik überprüfen. Ich bin hundemüde und möchte wieder ins Bett zurück. Gleich nach dem Frühstück schraube ich die Deckenlampe ab und dann können wir eine neue besorgen. Bist du damit einverstanden?“

Er küsste sie auf die Stirn und ließ sich aufs Bett fallen. „Sogar noch warm“, murmelte er, drehte sich auf die Seite und keine Minute später war er eingeschlafen.

Sie beneidete ihn um seinen gesunden Schlaf. Egal wie viel Stress Felix auch hatte, er schlief stets wie ein Engel. Dabei hätte sie sich ihm so gern anvertraut. Wer oder was war da eben an ihr vorbeigehuscht? Und woher war dieses leise, bedauernswerte Weinen gekommen? Ein Tier konnte es jedenfalls nicht gewesen sein.

Sie fror noch immer erbärmlich und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Wie sollte es bloß weitergehen, wenn Felix am Sonntagabend wieder abreiste? Sie konnte Carina nicht schon wieder darum bitten, bei ihr zu übernachten.

Noch einmal spitzte sie die Ohren und lauschte, aber es blieb still. Instinktiv rutschte sie näher an Felix heran und fühlte sich sofort geborgen.

Die Angst ist dein Feind

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