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Kapitel 10

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Mit klopfendem Herzen saß Pia im Bett und lauschte den Geräuschen über ihr. Irgendetwas kratzte an der Scheibe und der Schaukelstuhl bollerte monoton über den Dielenboden. Vor und zurück und wieder vor und zurück. Zuerst glaubte sie zu träumen, bis sie nach und nach realisierte, was dort oben vor sich ging.

Dumm gelaufen, dachte sie verärgert. Sie hätte unbedingt die Zimmer kontrollieren müssen, nachdem sie zum Stall gelaufen war und die Haustür offen gelassen hatte. Jetzt schnürte ihr die Angst die Kehle zu und sie fürchtete sich, in der Kammer nach dem Rechten zu sehen. Ihr blieb nur die Möglichkeit, sich im Schlafzimmer zu verschanzen.

Doch ein weiterer Fehler war ihr unterlaufen. Das Telefon steckte in der Ladestation im Wohnzimmer und das Smartphone in ihrer Tasche im Flur. Sie war eindeutig zu nachlässig gewesen.

Ausgerechnet jetzt musste sie an ihren Vater denken. Der war ein fürchterlicher Pedant und man konnte durchaus schon von einem leichten Tick sprechen. Gefühlte zwanzig Mal kontrollierte er die Fenster und rüttelte er an der Haustür, ob sie auch wirklich abgeschlossen war. Fast immer hatte sie seine Marotte belächelt, aber solange sie hier wohnte, sollte sie sich seine Vorgehensweise aneignen.

Ein anderer Gedanke blitzte auf. Wenn sie einen Bindfaden zwischen dem Treppengeländer spannte, konnte sie später nachvollziehen, ob sich jemand Zutritt verschafft hatte. Sie bezweifelte ernsthaft, dass es einem Geist möglich war, den Schaukelstuhl von A nach B zu bewegen, um anschließend stundenlang darin zu schaukeln.

Noch vor ein paar Stunden war sie der festen Überzeugung gewesen, es müsse sich um Spukgestalten handeln. Doch jetzt überwog die Gewissheit, dass jemand einen Heidenspaß daran hatte, sie in den Wahnsinn zu treiben. Einzig das Verhalten ihrer Vierbeiner gab Pia Rätsel auf. Anstatt für ordentlich Rabatz zu sorgen, spitzten Finley und Biene nur nervös ihre Ohren.

An Schlaf war inzwischen nicht mehr zu denken. Um sich von den Geräuschen abzulenken, öffnete sie das abgegriffene Notizbuch und blätterte eifrig in Annikas Erinnerungen.

16. April 1939

Mein Bauch formt sich von Tag zu Tag und ich habe unter Marthas boshaftem Verhalten noch mehr zu leiden als sonst. Mit einem undefinierbaren Blick schielt sie auf meine Rundungen und stößt mich auch schon einmal derb zur Seite, wenn ich ihr im Wege bin.

Ich spüre ihren Hass und sehe Alberts Genugtuung. Er hat seiner Frau nun bewiesen, dass er Kinder zeugen kann, wann immer ihm der Sinn danach steht. Ich werde zum Spielball ihrer Zwietracht und mein ungeborenes Kind dazu.

Ich fühle mich wie ein entwurzelter Baum, der langsam stirbt, obwohl ein neues Leben in mir heranwächst. Meine innere Zerrissenheit lässt mich schier verzweifeln, meine Träume und Hoffnungen werden im Keim erstickt.

22. Mai. 1939

Wird es jetzt einen Krieg geben? Der Führer und seine Truppen haben nun auch den Rest der Tschechoslowakei eingenommen und ich sehe nicht gerade hoffnungsvoll in diese Zukunft, die so viele dunkle Wolken mit sich bringt.

Immer mehr junge Männer werden rekrutiert, nur der Albert ist fein raus. Sein versteiftes Bein wird ihn davor bewahren. Dabei wäre es mein sehnlichster Wunsch, dass er von hier verschwindet. Einen kleinen Lichtblick gibt es immerhin. Jetzt, wo ich schwanger bin, lässt er mich endlich in Ruhe.

Der kleine Winzling in mir strampelt seit ein paar Tagen. Es fühlt sich an, als würden Schmetterlinge in meinem Bauch herumflattern und mich mit ihren zarten Schwingen berühren. Trotzdem sind meine Gefühle sehr zwiespältig. Ich weiß nicht, ob ich dieses Kind lieben und ihm eine gute Mutter sein kann. Ich fühle mich dieser Aufgabe nicht gewachsen, es ist einfach noch zu früh.

18. Juni 1939

Ich bin maßlos enttäuscht, wie mein Vertrauen missbraucht wurde. Nachdem Martha mir aufgetragen hat, das Silberbesteck zu polieren, habe ich in einer der Schubladen des Wohnzimmerbuffets den Brief an meine Eltern gefunden. Der Bauer und die Bäuerin hielten es wohl nicht für nötig, ihn abzuschicken. Stattdessen lag das Kuvert geöffnet zwischen dem anderen Kram.

Sie haben ihn gelesen und ich weiß inzwischen, dass mich niemand von hier wegholen wird. Eine andere Anstellung kann ich mir auch aus dem Kopf schlagen, wer würde schon eine schwangere Magd bei sich aufnehmen?

Ich bin so wütend, aber mir fehlt die Kraft, um die beiden mit meinem Fund zu konfrontieren. In Zukunft werde ich vorsichtiger sein und mich vom Hof schleichen, um meine Briefe persönlich beim Postamt abzugeben.

Schläfrig ließ Pia ihren Kopf auf die Tagebuchaufzeichnungen sinken. In zehn Minuten musste sie aufstehen und eine lähmende Müdigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen. Am liebsten würde sie sich im Bett vergraben, um den verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen.

Seit einer Stunde war es still im Haus, nichts rührte sich. Sie hatte darauf gehofft, das Klappen einer Tür oder das Knarzen der Treppenstufen zu hören. Aber niemand hatte die Kammer verlassen. Wohl oder übel würde sie jetzt nachsehen müssen.

Beunruhigt schwang sie ihre Beine aus dem Bett, warf sich den Bademantel über und öffnete zaghaft die Tür. Der Flur lag im Dämmerlicht und sie stieg leise im Halbdunkel die Treppenstufen nach oben. Das Blut jagte durch ihre Adern und sie biss die Zähne fest zusammen. Fehlte nur noch, dass sie sich vor lauter Angst in die Hosen machte. Immerhin, zwei Drittel der Treppe hatte sie bereits geschafft.

Sie klammerte sich am wackeligen Holzgeländer fest und bewältigte auch die letzten Stufen. Zitternd griff sie nach der Klinke, um blitzschnell die Finger zurückzuziehen, als hätte sie sich verbrannt. Reiß dich zusammen Pia, ermahnte sie sich im Stillen. Noch einmal tief durchatmen …

Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf die leere Kammer frei. Der Schaukelstuhl hatte wie üblich seinen Standort geändert und am Holz des Fensterrahmens entdeckte sie leichte Kratzspuren, die von Fingernägeln stammen könnten. Ratlos durchstöberte sie auch die restlichen Zimmer, fand jedoch keinen Eindringling, der ihr Rede und Antwort stand.

Nachdem sie sich noch einen starken Kaffee gegönnt hatte, fuhr sie zur Arbeit. Ausgerechnet heute war ihr Schreibtisch besonders vollgeladen und sie ließ sich stöhnend auf dem Bürostuhl nieder. Während Finley und Biene in ihren Körbchen selig schlummerten und sich von der zehnminütigen Anfahrt erholten, hatte Pia das Gefühl, in den Papierbergen zu ertrinken.

Schlechtgelaunt sortierte sie die Rechnungen und hämmerte in die Tastatur. Urlaub, das wär’s, sie brauchte dringend ein paar freie Tage. Aber so kurz vor Weihnachten war das ein Ding der Unmöglichkeit. Bis zum Jahreswechsel musste der gesamte Papierkram erledigt sein, da kannte ihr Vater keine Gnade.

Also wühlte sie eifrig in den Unterlagen und schaute dabei ständig auf die Uhr. Leider verging die Zeit dadurch auch nicht schneller, ganz im Gegenteil. Die Zeit lachte sich ins Fäustchen und stand einfach still. War dieses Phänomen eigentlich schon von einem Physiker erforscht worden?

Irgendwann am Nachmittag bettete sie erschöpft den Kopf auf das polierte Holz der Tischplatte und döste ein.

„Was machst du denn da? Hast du zu Hause kein Bett?“ Die strenge Stimme ihres Vaters ließ sie auffahren.

„Oh … entschuldige … mir war nur ein bisschen übel.“

„Pia, die Leute gehen hier ein und aus. Wenn die Kunden sehen, mit welchem Enthusiasmus du deinen Job versiehst, na dann aber gute Nacht. Später gibt es wieder Gerede und die Zeiten sind heutzutage alles andere als rosig.“

Bitte nicht schon wieder diese Leier, dachte Pia frustriert. Es machte keinen Sinn, ihm von letzter Nacht zu erzählen, er würde erneut über den Hof wettern und seine Predigt nie ein Ende finden. Also nickte sie geduldig und blickte ihn treuherzig an. Inzwischen konnte sie Bienes Dackelblick perfekt imitieren und ihren Vater damit etwas nachsichtiger stimmen. Wenigstens waren seit seinen Vorhaltungen weitere fünfzehn Minuten vergangen und der Feierabend rückte näher und näher.

Gewissenhaft tippte sie die letzten Rechnungen, ließ die nervigen Telefonanrufe der Kunden über sich ergehen und machte überpünktlich Feierabend. Endlich raus aus dieser Tretmühle. Die Straßen waren noch immer mit einer rutschigen Schneeschicht bedeckt, die langsam gefror. Pia stieß mehrere Flüche aus und war erleichtert, als sie endlich den Hof erreichte. Finley flitzte fröhlich voraus, während Biene ungelenk zur Haustür stakste, damit das nasse Zeugs nicht ihren Bauch berührte. Als Jagdhund hätte sie es wohl nicht sehr weit gebracht, denn sie war das perfekte Abbild einer lebenden Schlummerrolle.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schloss Pia die Haustür auf. Das Licht erhellte die Räume und vertrieb die dunklen Schatten. Alles schien in bester Ordnung und das beklemmende Gefühl in ihrer Brust wich der Erleichterung. Nach einer warmen Dusche, streckte sie sich auf der Couch aus und widmete sich den Einträgen in Annikas Tagebuch.

7. Juli 1939

Mein Bauch hat sich in den letzten Tagen ordentlich gewölbt. Eine richtige kleine Kugel trage ich nun vor mir her. Das Kleine da drinnen strampelt mit großem Vergnügen und ganz deutlich spüre ich seine zarten Tritte. Es kommt tatsächlich ein kleines bisschen Freude auf.

Trotzdem denke ich oft darüber nach, warum ich mich nicht heftiger gewehrt habe. Wahrscheinlich war die Angst vor den Bauersleuten zu groß und hat meinen Widerstand im Keim erstickt. Sie schubsen mich herum, wie es ihnen gefällt, und die Zeit kann ich leider nicht mehr zurückdrehen.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte ich ein junges Pärchen beobachten, wie sie verliebt Händchen gehalten haben. Ihre Blicke waren voller Zuneigung und als sie sich allein fühlten, folgte ein leidenschaftlicher Kuss. So viel Vertrautes lag in ihren Gesten, das hat mich sprachlos gemacht. Weder meine Eltern noch die Bauersleute sind je so miteinander umgegangen. Liebe und Respekt? Fehlanzeige! Stattdessen stehen Keifen, Schimpfen und sogar Rangeleien auf der Tagesordnung. Aber was soll’s, ich habe ja nicht einmal einen offiziellen Vater für mein Kind.

Jetzt, wo meine Schwangerschaft sichtbar wird, versteckt mich die Bäuerin, wann immer jemand den Hof betritt. Unter Menschen komme ich seitdem überhaupt nicht mehr und meine Welt ist noch trostloser geworden.

30. Juli 1939

Die Arbeit fällt mir inzwischen unglaublich schwer, mein dicker Bauch ist überall im Weg. Trotzdem hört Martha nicht auf, mich durch die Gegend zu hetzen und mir zusätzliche Arbeiten aufzubürden. Immer wenn es keiner sieht, ruhe ich mich für ein paar Minuten aus. Gustav unterstützt mich sehr, er ist mir ein väterlicher Freund geworden. Stets hat er ein gutes Wort für mich übrig und macht mir Mut. Für mein Kleines hat er sogar ein Pferdchen geschnitzt, ich habe es in der Kammer auf das Fensterbrett gestellt.

Mit den Bauersleuten werde ich noch ein ernstes Wort reden müssen, schließlich brauche ich ein Bettchen, Kleidung und Stoffwindeln für das Kleine. Der Lohn darf nicht mehr an meine Eltern ausgezahlt werden, denn bald muss ich ein Kind versorgen. Inzwischen habe ich sogar mit dem Stricken angefangen, um Jäckchen, Söckchen und Mützchen selbst herzustellen. Jeden Abend stricke ich fleißig in meiner Kammer, bis mir vor Erschöpfung die Augen zufallen.

Auch die Namen stehen schon fest. Falls es ein Mädchen wird, soll es Christine heißen und einen Jungen nenne ich Paul. Ich finde die Namen sehr schön und meine Freude auf das Kleine wird mit jedem Tag größer.

Nur Martha, die macht alles wieder zunichte. Sie hat mir eingetrichtert, dass ich Albert nicht als Vater angeben darf. Der Eintrag in der Geburtsurkunde soll lauten: Vater unbekannt. Es ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit und ich frage mich immer wieder, warum Gott mir solche Prüfungen auferlegt.

15. August 1939

Weil der Lohn nicht an meinen Vater ausgezahlt wurde, ist er heut zu allem Überfluss auf den Hof gekommen. Kaum hatte er meinen Zustand gesehen, rutschte ihm auch schon die Hand aus und war völlig außer sich. „Du bist eine Schande für unsere Familie, du solltest dich was schämen! Wir brauchen das Geld zum Leben, wie konntest du nur? Einen Bastard in diese Welt setzen ohne einen Ring am Finger. Ich kann mich nicht erinnern, so ein Flittchen großgezogen zu haben!“

Seine Worte trafen mich wie Peitschenhiebe, während das Kleine unentwegt in mir strampelte. Martha und Albert schauten tatenlos zu, wie mein Vater auf mich einschlug. Nur Gustav zeigte Courage und zerrte ihn von mir weg. „Hören Sie gefälligst auf damit! Die junge Frau trägt ein Kind unter ihrem Herzen, sie könnte es verlieren.“

„Genau das wäre die beste Lösung“, keuchte mein Vater aufgebracht und wandte sich mir mit erhobener Hand wieder zu.

„Das lassen Sie mal schön bleiben“, donnerte Gustavs Stimme über den Hof und er stellte sich schützend vor mich.

„Ein Knecht will mir Befehle erteilen?“, höhnte mein Vater und schäumte vor Wut. „Ist der da der Vater?“, wandte er sich an Albert. Doch dieser zuckte nur nichtssagend mit seinen Schultern und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.

„Ich frage noch ein letztes Mal in diese Runde“, schnaubte mein Vater, „wer hat sie geschwängert?“ Totenstille. „Annika, du sagst mir jetzt sofort, wer sein Vergnügen mit dir hatte?“

Ich zitterte wie Espenlaub. „Ich kann es dir nicht sagen, Vater, ich kann es einfach nicht.“

Er stieß Gustav zornig zur Seite und zerrte mich an den Haaren über den Hof. „Verdammt noch einmal, du sagst mir jetzt auf der Stelle den Namen! Haben wir uns verstanden?

„Der Hausherr war es“, wimmerte ich leise.

Augenblicklich ließ er mich in den Schmutz fallen und stürmte in Alberts Richtung. „Ach, der Hausherr persönlich hatte das Vergnügen. Na, sieh einer an! Und an uns will er nun keinen Lohn mehr zahlen, sehe ich das richtig? Du wirst für meine Tochter sorgen, haben wir uns verstanden? Und ich will auf der Stelle mein Geld sehen!“

Mit hocherhobenen Fäusten ging er auf Albert los. Martha sprang kreischend zur Seite, während sich mein Vater und Albert im Dreck wälzten. Irgendwann drängten sich Willi und Gustav dazwischen und jagten meinen Vater vom Hof. „Das wird noch Konsequenzen haben“, zischte Martha mir zu. Wenn Blicke töten könnten …

Ich bin ins Haus gelaufen, um mich zu waschen und meine Blessuren zu verarzten. Es ist schwer zu ertragen, ständig wie Dreck behandelt zu werden, und das macht das Leben hier so unerträglich.

23. August 1939

Die tägliche Arbeit fällt mir schwer, ich fühle mich so unförmig wie ein Fass. Martha wollte meinen Bauch und meine Brüste sehen und war der Meinung, dass es jeden Moment losgehen kann. Trotzdem schont sie mich kein bisschen.

Für das Kleine habe ich das Nötigste zusammen, jetzt muss ich nur noch aus Stoffresten Windeln nähen. Alles liegt griffbereit auf der Kommode für den großen Augenblick. Martha hat noch eine Wiege besorgt und dafür ist fast mein ganzer Lohn draufgegangen.

Jetzt heißt es abwarten. Ich bin schon wahnsinnig gespannt und spreche jeden Abend mit dem Kleinen. Manchmal antwortet es mir sogar mit einem Tritt gegen die Bauchdecke. Ich bete zu Gott, dass es dem Albert nicht ähnelt, das wäre ein Albtraum für mich.

Pia warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon spät und sie sollte langsam zu Bett gehen. Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um Annika und die eigenen Sorgen traten in den Hintergrund. Bald würde die junge Magd ihr erstes Kind gebären. Ob bei der Geburt alles gut gegangen war? Pia war hin und hergerissen zwischen dem Drang, alles wissen zu wollen und der Angst, später Dinge zu erfahren, von denen sie lieber Abstand gehalten hätte. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, bis sie endlich eingeschlafen war.

Gefangen im Traum sah sie sich in einem schäbigen Bett liegen. Eine bedrohlich wirkende Gestalt hockte rittlings auf ihrem Bauch und versuchte das Baby herauszupressen. Pia schlug wild um sich, aber die Gestalt ließ sich nicht abschütteln.

Irgendwann, als Kraftlosigkeit und Angst sie verzweifeln ließen, wachte sie auf. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen und kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn. Sie fühlte sich unwohl und ihr Kopf dröhnte. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über ihren Bauch, denn sie verspürte tatsächlich einen ziehenden Schmerz. Besorgt knipste sie das Licht an und schlug die Bettdecke zurück. Blut.

Eine winzige Lache hatte sich auf dem weißen Bettlaken ausgebreitet. „Ausgerechnet jetzt“, murmelte sie verärgert und krabbelte vorsichtig aus dem Bett. Mit zusammengepressten Beinen stolperte sie ins Bad, riss sich die Nachtwäsche vom Leib und stellte sich unter die Dusche. Von ihrer Periode förmlich überrascht, hatte es sie besonders schlimm erwischt. Jetzt musste sie zu allem Überfluss auch noch das Bett frisch beziehen.

Fröstelnd schlüpfte sie in den Bademantel und machte sich an die Arbeit. Mit einem tiefen Seufzer raffte sie die schmutzige Bettwäsche zusammen und stopfte sie in den Wäschekorb. Das leise Klappen einer Tür ließ sie herumwirbeln. Ihr Atem stockte und sie spürte, wie sie sich verkrampfte. Hatte ein Luftzug dieses Geräusch verursacht?

Die Kälte kroch an ihren Beinen hinauf, doch sie wagte nicht, sich zu rühren. Sekunden später wurde ein Gegenstand über den Dielenboden gezerrt. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sich der Schaukelstuhl in einem gleichmäßigen Rhythmus bewegte.

Das war zu viel für ihre Nerven. Mit einem panischen Aufschrei eilte sie ins Schlafzimmer und verschloss die Tür. Sie griff nach ihrem Smartphone und tippte mit fahrigen Bewegungen die Nummer des Notrufs ein. Die Beamten versprachen in zwanzig Minuten vor Ort zu sein. Sie verzweifelte fast daran, so lange warten zu müssen, und verfluchte das soziale Sparsystem. Während dieser immensen Wartezeit konnte alles Mögliche passieren.

Zitternd saß sie auf ihrem Bett und lauschte dem unheimlichen Bollern. Sie war wütend auf Carina, die darauf bestanden hatte, den Schaukelstuhl in die Kammer zu befördern. Immer wieder flog ihr Blick zur Uhr, als nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein Fahrzeug auf den Hof rauschte.

Pia riss hektisch die Haustür auf und lotste die beiden Männer in den Flur. „In der oberen Etage hält sich eine fremde Person auf“, erklärte sie mit bebender Stimme.

Mit ihrem schweren Schuhwerk polterten die Beamten die Treppe hinauf und öffneten die Tür. Wie zum Hohn wippte der Schaukelstuhl noch einige Male hin und her, bis er bewegungslos auf seinem Platz stand. Eine gespenstische Stille breitete sich aus und man hätte eine Stecknadel fallen hören. Die Kammer war leer.

„Das gibt es doch nicht!“ Pia war fassungslos. „Jemand hat den Schaukelstuhl zum Fenster gezerrt und darin geschaukelt.“

„Wir durchsuchen jetzt alle Zimmer und wenn wir niemanden finden, können Sie beruhigt zu Bett gehen. Einverstanden?“ Pia nickte hilflos, was blieb ihr auch anderes übrig.

Sie bemerkte, wie der jüngere Beamte seinen älteren Kollegen zur Seite nahm und ihm ins Ohr raunte: „Die spinnt wohl ein bisschen. Ich kann ja verstehen, dass man in so einem Gruselhaus mit der Zeit durchdreht, aber dann soll sich das Mädel etwas Neues suchen und ausziehen. Unsere Zeit ist zu kostbar für so einen Schwachsinn.“

Wie auf Kommando knackte das Funkgerät und die Zentrale leitete einen Notruf weiter.

„Tja, Sie hören es ja selbst, wir müssen wieder los. Schließen Sie immer die Türen ab und passen Sie gut auf sich auf.“

Er tippte mit der Hand an den Schirm seiner Mütze und stapfte mit seinem Kollegen zum Einsatzfahrzeug. Pia ließ die Haustür noch einen Spalt offen und lauschte dem Gespräch. Erneut hörte sie den jüngeren Beamten lästern. „Die hat den Schaukelstuhl aber ordentlich anstoßen müssen, damit der noch so schwingt, bis wir oben waren. Und hast du das zugenagelte Fenster gesehen? Meine Herren, die sollte echt einen Psychiater aufsuchen.“

„Psychologe, du arroganter Schnösel, es heißt Psychologe …“, murmelte Pia zutiefst gekränkt.

Autotüren klappten, der Motor heulte auf und die Beamten bretterten vom Hof.

Mit Tränen in den Augen verschloss sie die Tür. Dieses herablassende Getue hatte sie sehr verletzt. Spukte es tatsächlich oder gab es vielleicht einen unterirdischen Gang, der direkt ins Haus führte? Aber wo sollte sich die dazugehörige Geheimtür befinden? Etwa hinter ihrem IKEA-Regal?

Aufgewühlt wie sie war, würde sie sowieso nicht zur Ruhe finden. Also ließ sie das Licht brennen und widmete sich Annikas Zeilen. Vielleicht kam sie auf diese Weise der Lösung des Rätsels näher.

26. August 1939

Der heutige Tag ist der wichtigste in meinem Leben. Obwohl ich mich noch sehr schwach fühle, will ich diese Zeilen unbedingt niederschreiben.

Bereits am Abend zuvor hatte ich mit heftigen Wehen zu kämpfen, diese entsetzlichen Schmerzen waren kaum auszuhalten. Jede Wehe ist über meinen Körper hinweggerollt und hat ihn regelrecht von innen ausgehöhlt.

Martha hat mir ein Stück Leder gegeben, auf das ich beißen konnte, wenn der Schmerz überhandnahm. Irgendwann in den frühen Morgenstunden haben die Presswehen eingesetzt und etwas später schlagartig nachgelassen. Martha stand leise fluchend neben mir, weil im Haus keine Ruhe einkehrte. Kurz darauf hat sie den Albert ins Dorf geschickt, um die Hebamme zu holen. „Hoffentlich reicht dein Lohn, um die Hebamme zu bezahlen.“ Sie ist kalt wie ein Fisch.

Ich war so unglaublich erleichtert darüber, als endlich die Hilfe auftauchte. Schwach und kraftlos lag ich da, während die Hebamme behutsam meinen Bauch abtastete. „Du hast Glück, dein Kleines liegt in der richtigen Position.“ Sie flößte mir einen Sud ein und steckte Räucherstäbchen zwischen meine Zehen.

Es wirkte und mein Bauch wurde wieder hart. Geübt drückte die Hebamme das Kind ins Becken. „Der Muttermund ist vollständig geöffnet, du kannst es jetzt nach draußen pressen. Du bist tapfer, du schaffst das!“

Wohlwollend nickte sie mir zu. Es tat so gut, ein wenig Zuspruch zu erhalten. Trotzdem hielt ich die immerwährenden Schmerzen kaum noch aus und schrie mir die Seele aus dem Leib.

Doch irgendwann war diese Qual tatsächlich vorüber, ich hatte es geschafft. Misstrauisch blickte ich zur Hebamme, die leise mit der Martha tuschelte. „Tja, Bäuerin, der Säugling ist viel zu klein und untergewichtig. Hast die Magd selten geschont, wie ich dich kenne. Ich hoffe, der Winzling überlebt. Ein hübsches Kind ist es ja.“

Das Stimmchen war so zart. Ich konnte es kaum erwarten, mein Kind in den Armen zu halten und zu betrachten. Doch die Hebamme badete es erst und wickelte es dann in Decken ein. Anschließend überreichte sie mir meinen größten Schatz. „Es ist ein Mädchen, herzlichen Glückwunsch“, lächelte sie mich an.

Endlich durfte ich einen Blick auf das Bündel werfen und war überwältigt. Vor lauter Freude und Glückseligkeit musste ich weinen. Die Hebamme hatte recht, mein Mädchen wog tatsächlich nicht viel. Ich erinnere mich daran, dass meine jüngeren Geschwister viel kräftiger gewesen waren.

„Hast du schon einen Namen für das Kind?“

„Natürlich“, erwiderte ich voller Stolz. „Christine soll sie heißen.“

„Ein sehr schöner Name, er passt zu ihr“, stimmte mir die Hebamme zu. „Wen möchtest du denn als Vater eintragen lassen?“

Ich schluckte und sah in Marthas Richtung. Kälte spiegelte sich in ihren Augen wider, als sich unsere Blicke kreuzten. „Ich kenne den Vater nicht“, presste ich die Worte mühsam hervor.

Aufmerksam musterte mich die Hebamme. „Bist du dir da ganz sicher?“

Voller Scham habe ich meine Lider gesenkt und erneut geflüstert: „Ja, ich bin mir sicher. Ich weiß wirklich nicht, wer der Vater ist.“

Missbilligend blickte die Hebamme zur Bäuerin. Martha errötete und schaute betreten zu Seite. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, ließen mich die beiden Frauen allein. Eine Woge des Glücks überflutete mich, als ich erneut mein Christinchen betrachtete.

Lange schwarze Wimpern umrahmen die leuchtenden Augen und das Köpfchen ziert ein dunkler Flaum. Die süßen Fingerchen sind herzallerliebst und ich kann den Blick kaum von ihr abwenden. Christine ist so unglaublich schön und ich will sie immerzu liebevoll an mich drücken. Eine Ähnlichkeit mit Albert habe ich zu meiner großen Freude nicht entdecken können.

Trotzdem bereitet es mir große Sorgen, weil sie so winzig ist. Ich werde Christine gleich noch einmal stillen, sie muss wachsen und gedeihen.

Tief berührt wischte sich Pia eine Träne aus dem Augenwinkel. Annika hatte ein gesundes Kind zur Welt gebracht, was für ein Glück. Dennoch dachte sie mit Unbehagen an die Knochenreste in der Sickergrube. Sollte sie weiterlesen oder nicht? Schließlich siegte die Neugier über die Vernunft.

30. August 1939

Mein Christinchen hat einen gesunden Appetit, was mich hoffen lässt. Ich bin noch immer von der Geburt gezeichnet und völlig geschwächt, aber Martha kennt keine Gnade. Jeden Morgen stürmt sie in die Kammer und zerrt mich eigenhändig aus dem Bett.

Ich solle gefälligst arbeiten, anstatt faul im Bett zu liegen, doch das Laufen fällt mir unglaublich schwer. Ich watschele wie eine Ente durch das Haus und beim Wasserlassen brennt es fürchterlich. Die Hebamme hat der Martha den Kopf gewaschen und ihr gesagt, dass ich mich schonen soll. Mindestens zwei Wochen soll mir die Bäuerin Ruhe gönnen, denn auch Christine braucht viel Nahrung, sonst hat sie keine Chance.

Nur zögerlich willigte Martha ein und weigert sich seither, mir während dieser Zeit den Lohn zu zahlen. Selbst das Essen will sie aufrechnen. Diese Frau ist so geizig und kaltherzig, soll sie doch der Deivel holen. Ich muss Christine beschützen und es fällt mir schwer, sie auch nur für wenige Augenblicke allein zu lassen. Albert hingegen, scheint sich für seine Tochter nicht zu interessieren. Ich habe nur nebenbei mitbekommen, dass er über die Geburt eines Mädchens enttäuscht gewesen war.

1. September 1939

Nachdem Hitler vor dem Reichstag eine Rede gehalten und den Beginn dieses Unheils verkündet hat, ist Deutschland in Polen einmarschiert. Jetzt herrscht Krieg und es ist für mich unvorstellbar, dass mein Christinchen in dieser Zeit aufwachsen soll. Alle jungen Männer des Dorfes werden nach und nach eingezogen, einige sind sogar freiwillig gegangen. Doch viele Mütter sind verzweifelt und überhaupt nicht stolz auf die Entscheidung ihrer Söhne.

Ich wünsche mir aus tiefstem Herzen, dass Hitlers Truppen Polen schnell einnehmen, damit endlich wieder Frieden herrscht.

20. September 1939

Ich bin in großer Sorge und meine Hoffnung schwindet, denn mein Christinchen hat kaum zugenommen. Ich habe nicht genügend Milch und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich heimlich in der Speisekammer zu bedienen und die Vorräte zu stehlen.

Aber das ist noch nicht alles. Ständig dringt Marthas Keifen zur Kammer herauf, wenn ich Christine stille. „Wozu haben wir überhaupt eine Magd, wenn die mitten in der Erntesaison ein Kind bekommt und ihren Hintern lieber im Bett wärmt, anstatt zu arbeiten.“

Mir bricht es das Herz, meinen süßen Engel in der Wiege zurückzulassen, um meinen Pflichten nachzukommen. Wenn ich zurückkehre, ist ihr kleines Gesicht krebsrot vom vielen Weinen. Mein Mädchen fühlt sich allein gelassen, aber ich kann sie nicht immer mit mir herumtragen.

Vor zwei Tagen habe ich Albert erwischt, wie er vor der Wiege gekniet und leise auf Christine einredet hat. Es hörte sich fast wie ein liebevoller Singsang an. Als ich mich geräuspert habe, drehte er sich erschrocken um und stürmte aus dem Zimmer.

1. Oktober 1939

Ich bin untröstlich. Der September war in diesem Jahr besonders regnerisch und kühl, und die Kammer viel zu kalt für einen Säugling. Wahrscheinlich ist mein kleines Mädchen deshalb krank geworden. Christinchen ist fiebrig, röchelt und bekommt keine Luft. Wenn ich sie anlege, trinkt sie kaum etwas. Albert hat einen Arzt holen lassen und ich muss ihr mehrmals täglich ein Medikament einflößen. Leider spuckt sie es immer wieder aus.

Marthas Verhalten bringt mich inzwischen zur Weißglut. Kaum sehe ich in der Kammer nach dem Rechten, hat sie schon wieder das Fenster aufgerissen. Sie meint, die frische Luft täte dem Säugling gut. Aber mein kleines Mädchen friert so schrecklich, das kann niemals gut sein. Ich versuche es allen recht zu machen, doch ich kann mich nicht zerreißen.

Die Bäuerin hat schon mehrmals angedroht, mich vom Hof zu jagen. Der Winter steht vor der Tür und wo soll ich nur hin mit meinen Kind? Bitte, lieber Herrgott, lass mein kleines Mädchen wieder gesund werden, ich flehe dich an!

8. Oktober 1939

Ich bin so verzweifelt, so wahnsinnig verzweifelt. Albert hat nochmals den Arzt geholt, weil es Christine immer schlechter geht. Sie wird schwächer und schwächer und mag gar nichts mehr zu sich nehmen. Ihr Atem geht stoßweise und rasselt und das kleine Köpfchen glüht wie ein Dampfkessel.

Der Doktor meinte, es sei bereits zu spät, um Christine noch in ein Krankenhaus zu bringen. Die schwere Lungenentzündung wäre schon zu weit fortgeschritten. Und das alles nur, weil Martha sich seit drei Tagen standhaft weigerte, den Arzt kommen zu lassen.

Ich habe getobt und geschrien, bis sie mir ins Gesicht geschlagen hat, um mich zur Räson zu bringen. Wenn mein Kind stirbt, dann will auch ich nicht mehr leben.

9. Oktober 1939

Das Herz wurde mir bei lebendigem Leibe herausgerissen, denn Gott hat mein geliebtes Christinchen zu sich geholt. Ich habe keine Kraft, um zu weinen, ich habe keine Kraft, um zu leben.

Die letzten Stunden ihres Lebens musste mein kleines Mädchen so verzweifelt kämpfen. Jeder Atemzug war eine Qual und noch bevor der Morgen dämmerte, war es vorbei. Ich weiß nicht, wie ich diesen Verlust verkraften soll, denn es gibt keinen Trost.

Apathisch habe ich auf dem Bett gesessen, sie in meinen Armen gewiegt und ihr kaltes Gesicht mit unzähligen Küssen bedeckt. Ein letztes Mal streichelten meine Finger über den zarten Flaum auf ihrem Köpfchen und ich nahm ihren wunderbaren Geruch in mir auf. Die zarten Finger zu winzigen Fäusten geballt und der gebrochene Blick von ihren dunklen Wimpern verhüllt war sie selbst im Angesicht des Todes noch wunderschön. Ich werde sie immer lieben, mit jeder Faser meines Körpers.

Später hat mir die Bäuerin das leblose Bündel abgenommen, um es fortzubringen. Christinchen wurde nie getauft und wird deshalb nur in einem Armengrab beigesetzt. Nicht einmal richtig Abschied nehmen zu können bringt mich um den Verstand.

Leb wohl, mein kleiner Liebling, leb wohl.

Pia schluchzte und unablässig strömen Tränen über ihre Wangen. Das Schicksal konnte so grausam sein und es lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft, das eigene Kind zu verlieren. Annikas Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, konnte sie durchaus nachvollziehen.

Einen letzten Tagebucheintrag wollte sie noch lesen, bevor sie aufstand und sich für den neuen Arbeitstag wappnete. Nur mit Widerwillen dachte sie an den überladenen Schreibtisch, der in der Firma auf sie wartete. Viel lieber hätte sie sich im Bett verkrochen. Immerhin war ihre Mutter von der Kur zurückgekehrt, das würde den Vater eine Zeitlang beschäftigen.

16. Dezember 1939

Noch immer ertrage ich diese endlose Qual, denn ich wage nicht, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Jede Nacht träume ich von meinem Mädchen, doch am Morgen ist die Wiege leer. Tagsüber eile ich in die Kammer, weil ich meine, ihr zartes Stimmchen zu hören, und die Erkenntnis, dass es ein Irrtum war, zerbricht mir das Herz.

An das bevorstehende Weihnachtsfest darf ich gar nicht denken. Ich hatte damit begonnen, für Christine ein neues Jäckchen zu stricken und wann immer mein Blick auf das Strickzeug fällt, durchbohren die Nadeln meine Seele.

Seit ihrem Tod ist die Situation auf dem Hof unerträglich geworden, denn Martha lässt mich nicht mehr aus den Augen. Leise schleicht sie durch das Haus und taucht wie aus dem Nichts vor mir auf. Manchmal, wenn ich in der guten Stube putze, sitzt sie im Schaukelstuhl und beginnt urplötzlich zu schaukeln. In meine Arbeit vertieft erschrecke ich mich fast zu Tode. Ihr hässlicher Schaukelstuhl steht genau vor dem Fenster und ich bemerke oft nicht, wenn sie darin sitzt. Manchmal ist es richtig unheimlich, wenn sie mir auf diese Weise auflauert.

Aber damit nicht genug. Um dem Ganzen noch eines draufzusetzen, verhöhnt und verspottet sie Albert, wann immer es geht. Wie Messerstiche dringen diese Worte in mein Herz und lassen es bluten.

Jetzt gab es für Pia kein Halten mehr. Zornig schleuderte sie die Bettdecke weg, eilte in den Flur und riss die Haustür auf. Nur mit ihrer dünnen Nachtwäsche bekleidet, rannte sie hinüber zum Stall. Die harschen gefrorenen Schneebrocken verletzten ihre Fußsohlen und ohne es zu bemerken, hinterließ sie eine blutige Spur.

In völliger Dunkelheit tastete sie nach der Axt, bekam sie zu fassen und hastete ins Haus zurück. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte sie zur Kammer hinauf und begann wie eine Wahnsinnige auf den Schaukelstuhl einzuschlagen. Kraftvoll ließ sie die Axt auf das Holz niedersausen, um dieses unheilvolle Artefakt zu zerstören.

Doch der Schaukelstuhl schien sich zu wehren, er schlingerte und rutschte mehrmals weg. Kurz, bevor ihm sein endgültiges Ende bevorstand, glitt die scharfe Klinge vom Holz und traf Pias Bein.

Ein überraschter Schrei verließ ihre Lippen und sie sah betroffen auf das Blut, dass aus der Wunde hervorquoll. Eine steile Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn und sie blendete die Schmerzen aus. Wie von Sinnen hieb sie auf die Holzreste ein und gab erst Ruhe, nachdem sich die Einzelteile des Schaukelstuhls über den Dielenboden verteilten. Erschöpft lehnte sie die blutige Axt an die Wand, löschte das Licht und humpelte nach unten.

Erst jetzt bemerkte sie die Blutspur auf der Treppe. Schlagartig sackte ihr Kreislauf ab und sie schaffte es nur mit Mühe und Not ins Schlafzimmer. Sie angelte ein Handtuch aus dem Schrank und verband damit notdürftig das Bein. Dann griff sie zum Telefon und forderte einen Notarzt an.


Noch bevor sie das Fahrzeug hörte, sah sie das blinkende Blaulicht in der Ferne. Autotüren klappten, dann betraten die Sanitäter das Haus.

„Oh, das sieht ja wirklich übel aus.“ Der junge Arzt, dessen Kopf eine beginnende Halbglatze zierte, schaute sich irritiert um. „Sind Sie überfallen worden?“

„Nein“, wehrte Pia energisch ab .

„Aber wie sind Sie dann an diese Verletzungen gekommen?“

„Ich habe Holz gehackt“, erwiderte sie lakonisch.

„Barfuß und im Haus?“ Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Tut mir leid, aber ich kann das nicht genau erklären“, beteuerte sie wahrheitsgemäß.

„Wie Sie meinen.“ Er ging nicht weiter auf das Thema ein und widmete sich wieder ihren Verletzungen. „Das muss genäht werden“, stellte er nüchtern fest.

„Werde ich in ein Krankenhaus gebracht?“

„Selbstverständlich, mit so einer Wunde kann ich Sie hier auf keinen Fall zurücklassen.“

„Aber ich muss zur Arbeit“, bedrängte sie ihn.

„Tut mir leid, erst wenn Ihre Verletzungen versorgt wurden, können Sie wieder nach Hause.“

Pia warf sich die Jacke über und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Krankenwagen. Wenige Minuten später rauschte das Fahrzeug vom Hof.

Die Angst ist dein Feind

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