Читать книгу Wandlerin - Ana Marna - Страница 11
Erstkontakt der unangenehmen Art
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Morton, Illinois
Es war mitten in der Nacht als Erdil und Leo das Haus erreichten, in dem sie Karina Wells vermuteten.
Offiziell wohnte hier eine Carol Vaughan, und zwar bereits seit vier Jahren. Carol Vaughan galt als beliebt an der örtlichen High School und hob sich bisher allenfalls durch ihre Unauffälligkeit hervor. Erdil hatte während des Flugs die alten Fotos von Karina Wells mit dem Lehrerbild der High-School-Homepage verglichen und war zum gleichen Schluss gekommen wie Freaky, alias Martin Hicks. Karina Wells trug vor ihrer Entführung lange, blonde Haare, war etwa eins achtzig groß, schlank und durchaus attraktiv. Carol Vaughans Bild zeigte braunes, stufig geschnittenes Haar. Ihre Personalakte bezeugte die gleiche Größe wie von Karina Wells, doch ihre Schultern waren breiter, nahezu athletisch. Die Gesichter ähnelten sich sehr. Beide hatten braune Augen. Doch Carols Gesichtszüge waren hagerer, schärfer ausgeprägt. Und während Karina meistens fröhlich und freundlich der Linse entgegensah, blickte Carol ernst und verschlossen.
Erdil hatte das Bild lange betrachtet. In ihm war kein Zweifel, dass diese Personen identisch waren. Und die Unterschiede ließen sich sehr gut nachvollziehen. Die Erlebnisse dieser Frau hatten mit Sicherheit ihre Spuren hinterlassen.
Jetzt betrachtete er das Haus, in dem Carol Vaughan wohnte. Es war eines der kleineren Gebäude in diesem Viertel und eingeschossig. Rundherum ragten die Nachbarhäuser auf, alle deutlich größer und moderner.
Erdil wusste, dass das Haus zwei Eingänge besaß. Nach hinten ging es in einen winzigen Garten hinaus. Trotz der nächtlichen Stunde brannte noch Licht im Schlafzimmer.
„Sie ist wohl noch wach“, brummte Leo ihm ins Ohr.
Erdil nickte knapp. Offensichtliches kommentierte er ungern.
Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie die Frau im Schlaf überrascht hätten. Doch noch länger warten wollte er auch nicht.
„Du überwachst den Hinterausgang“, befahl er. „Ich werde klingeln und versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie flieht, halte sie fest. Aber sei vorsichtig, sie soll sehr stark sein.“
Leo schnaufte verächtlich, nickte aber und setzte sich in Bewegung.
Erdil sah ihm ärgerlich hinterher. Leo war ein guter Mann, doch er dachte selten weit genug. In seiner Vorstellung waren Frauen nicht stark, sondern schutzbedürftig.
Das war ein Fehler, wusste Erdil. Er hatte in seinem langen Leben schon viele starke Frauen kennengelernt. Exzellente Kämpferinnen, gegen die er nur schwer bestehen konnte. Zumindest in seinen jüngeren Jahren.
Von Karina Wells wussten sie im Prinzip gar nichts. Nur, dass sie auf der Flucht war. Wäre er selbst in ihrer Situation, würde er dafür sorgen, kein leichtes Opfer zu sein. Es gab viele Möglichkeiten, sich körperlich fit zu halten und das Kämpfen zu lernen, ohne großartig aufzufallen. Von Carol Vaughan war nichts in der Richtung bekannt, doch das hieß noch lange nicht, dass sie harmlos und hilflos war.
Er gab Leo ein paar Minuten Zeit, sich in Position zu bringen. Dann ging er langsam über die Straße auf das kleine Haus zu.
Die Klingel war schrill und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Gespannt lauschte er nach Geräuschen.
Leise Schritte klangen auf. Erst zügig, doch dann wurden sie langsamer. Erdil schluckte einen Fluch hinunter.
Ihr Geruch war überall wahrnehmbar und eindeutig. Noch nie war er ihr so nahegekommen. Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Doch wenn er sie witterte, konnte sie auch seinen Geruch wahrnehmen. Ob sie diesen zuordnen konnte?
Karina verharrte wenige Meter vor der Haustür und witterte nervös nach dem Besucher. Der Geruch war ihr fremd. Und doch auch wieder nicht. Draußen vor der Tür stand ein ihr unbekannter Mann, der nicht nur nach Testosteron und Adrenalin stank. Es dauerte einige Sekunden, bis sie erkannte, was sie verwirrte. Von ihm ging ein eigentümlicher Geruch aus, der sie an Asche erinnerte.
Sie selbst trug ihn auch.
Seit sie zu einem Monster geworden war.
Angst kroch in ihr hoch. War dieser Mann ein Monster so wie sie? Jagte er sie? Seine Ausdünstungen ließen darauf schließen. Männer stanken genau so, wenn sie kurz vor einem Kampf standen.
Die Erkenntnis, dass sie aufgeflogen war, ließ sie kurz die Augen schließen. Ein verzweifelter Laut entglitt ihr.
Langsam bewegte sie sich wieder rückwärts zum Schlafzimmer, ohne die Haustür aus den Augen zu lassen.
Ein lauter Fluch von draußen ließ sie zusammenzucken. Eine Sekunde später zersplitterte die Haustür mit einem Krachen.
Karina drehte sich um und rannte los, quer durch die große Wohnküche zur Hintertür.
Kaum hatte sie diese aufgerissen, da nahm sie auch schon den zweiten Mann wahr, der gerade auf sie zu hechtete. Er war etwas größer als sie und von athletischer Gestalt. Und er bewegte sich sehr schnell.
Ihre Sinne erkannten sofort, dass vor ihr kein normaler Mensch stand. Sein Infrarotbild war gedämpfter und die Hitzeverteilung in seinem Körper völlig untypisch für einen Menschen.
Und auch er trug diesen Asche-Geruch an sich.
Zögern war keine Option. Mit jedem Schritt mehr nahm sie Fahrt auf. Sie versuchte gar nicht erst, ihrem Angreifer auszuweichen. Mit geballten Fäusten rannte sie ungebremst in ihn hinein.
Ihr Schlag traf punktgenau sein Kinn. Gleichzeitig krachte ihr Bein in seinen Schritt.
Die Augen des Mannes glommen gelb auf und mit einem Ächzen ging er in die Knie, um dann langsam nach hinten zu kippen.
Gerade noch rechtzeitig vernahm sie den Luftzug des Schlags, der sie von hinten treffen sollte, und wich zur Seite aus, direkt in den zweiten Hieb. Er traf sie hart gegen die rechte Schulter und ließ sie nach vorne taumeln. Beinahe wäre sie über den am Boden liegenden Mann gestolpert. Es gelang ihr gerade so, sich abzurollen und wieder auf die Beine zu springen.
„Bleib stehen!“
Die Stimme klang hart und unbarmherzig. Karina wirbelte herum und starrte den Mann an. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen, doch seine Augen flammten in einem bekannten Gelb. Er war größer als sie und seine Körperspannung verriet den Kämpfer.
Nur für einen Moment überlegte Karina, ob sie tatsächlich aufgeben sollte. Vor ihr stand ein Krieger, das spürte sie instinktiv, und sie selbst hatte nie kämpfen gelernt. Vielleicht war sie ihm an Kraft überlegen, doch ihre Angst überwog. Alles an ihm, sein Geruch und seine Haltung, wirkten bedrohlich.
In dem Moment, in dem sie sich zur Flucht entschloss, sprang er vor. Es gelang ihr nur knapp, ihm auszuweichen. Er war unglaublich schnell. Schneller noch als sein Mitstreiter, der immer noch am Boden lag. Seine Bewegungen waren fließend und kontrolliert. Sie sah den Schlag erst im letzten Moment und reagierte beinahe zu spät. Die Faust streifte ihre Schläfe und ließ sie zurücktorkeln.
Eine Hand umfasste ihren Knöchel und brachte sie zu Fall. Der zweite Mann rappelte sich mit einem ächzenden Fluch hoch, während er versuchte, sie an sich heranzuziehen.
Mit einem verzweifelten Schrei schwang sie das andere Bein herum und traf ihn an der Brust. Er flog mit einem wütenden Brüllen etliche Meter weit nach hinten. Gerade noch rechtzeitig rollte sie herum, um dem Tritt des Zweiten zu entgehen. Wieder trat sie zu, mit all ihrer Verzweiflung.
Erdil sah das Bein auf sich zu kommen und drehte sich instinktiv zur Seite. Doch diese Frau war so verdammt schnell, dass sie ihn trotzdem erwischte. Ein höllischer Schmerz schoss durch seine Hüfte und er wurde heftig herumgewirbelt.
Die Wucht des Treffers ließ ihn, ebenso wie Leo, einige Meter über den Boden schlittern und raubte ihm schlichtweg den Atem. Es dauerte etliche Sekunden, bis er sich wieder aufrichten konnte.
Von Karina Wells war nichts mehr zu sehen.
Mit einem Wutschrei torkelte er zu Leo, der sich ebenfalls bemühte, auf die Beine zu kommen.
„Zur Hölle“, keuchte Leo. „Dieses Weib hat echt ‘nen Tritt drauf.“
„Du sagst es“, knurrte Erdil mit deutlicher Frustration in der Stimme. Seine Hüfte schmerzte immer noch abscheulich und ließ ihn humpeln. Keine Chance, Karina Wells zu verfolgen.
„Shit“, fluchte er und stützte sich schwer atmend mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. „Dieses Miststück ist wirklich stark.“
„Und schnell“, legte Leo nach. „Die ist losgerannt wie der Teufel.“
„Verdammt!“ Erdil richtete sich auf. „Wir hatten sie schon!“
Leo grinste ihn schräg an.
„Das bist du nicht gewöhnt, nicht wahr? Ich ehrlicherweise auch nicht. Dass ein Weib so stark ist, ist echt nicht normal.“
Erdil konnte ihm nur zustimmen. Diese Niederlage kratzte arg an seinem Selbstbewusstsein. Karina Wells hatte ihn allein durch Körperkraft ausknocken können. Und ihre Bewegungen und ihre Ausdünstungen hatten ihm sofort verraten, dass sie solche Auseinandersetzungen nicht gewöhnt war. Eine ausgebildete Kämpferin war sie definitiv nicht.
Daher war es umso frustrierender, dass ihr trotzdem die Flucht gelungen war.
„Wir brauchen Hilfe!“ Leo sprach aus, was Erdil ebenfalls durch den Kopf geschossen war. Doch es schmeckte zu sehr nach Niederlage, diese Worte in den Mund zu nehmen.
„Immerhin waren wir noch nie so nahe an ihr dran“, grinste Leo und rieb sich die schmerzende Brust. „Zur Hölle, mir ist noch nie dermaßen die Luft weggeblieben.“
„Ist was gebrochen?“
„Ich glaube nicht, aber es war knapp daran.“
Ob diese Frau all ihre Kraft eingesetzt hatte? Oder hatte sie sich zurückgehalten? Erdil griff zu seinem Smartphone. Es hatte keinen Zweck zu warten. Karina Wells Spuren waren so frisch wie nie. Sie durften sie nicht wieder verlieren.
Sie rannte sprichwörtlich um ihr Leben. Hinaus in die Nacht, über die Straßen, durch Gärten und Höfe, bis ihre Lungen brannten. Erst dann wurde Karina langsamer. Irgendwann blieb sie schließlich vornübergebeugt stehen und rang nach Atem.
Nur kurz blitzte Triumph in ihr hoch. Sie hatte es geschafft, diesen Männern zu entkommen! Und das, ohne dass jemand nennenswert verletzt worden war. Ihr Hochgefühl hielt nicht lange an und wurde von Verzweiflung abgelöst.
Wieder war sie auf der Flucht. Und wieder würde sie bei null anfangen müssen. Keine Kleidung, kein Geld und keine sichere Identität mehr.
Karina ballte entschlossen die Fäuste. Was sie einmal geschafft hatte, würde auch ein zweites Mal gelingen. Doch zunächst musste sie Abstand zu ihren Verfolgern schaffen. Alles andere würde sich ergeben. Ob sie es wagen konnte, bei dem gleichen Mann neue Papiere zu kaufen wie vor fünf Jahren? Das barg gewisse Risiken in sich. Allerdings konnte es dauern, bis sie einen anderen Fälscher fand, da ihr schlichtweg die Kontakte zu solchen Leuten fehlten. Damals hatte sie einfach nur das Glück gehabt, in einer heruntergekommenen Bar an dem richtigen Tisch zu sitzen. Pierre Gaubert besaß anscheinend den passenden Riecher, was potenzielle Kunden anging, und hatte sie ungeniert angesprochen. Karina hatte seine schmierige Art nicht gemocht und die Preise, die er verlangte, waren horrend.
Keine Frage, Pierre Gaubert besaß neben Menschenkenntnis auch Geschäftssinn – und wenig Skrupel, beides zu seinem Vorteil zu nutzen.
Karina hatte damals keine Wahl. Also zahlte sie und betrat ihr neues Leben als Carol Vaughan.
Doch jetzt ... Sie sah an sich herunter. Ihr Outfit würde sie wieder verändern müssen. Barfuß und in einen kurzen Pyjama gekleidet erregte sie mit Sicherheit Aufsehen.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie heimlich zurückkehren sollte, um zumindest das Notwendigste einzupacken. Aber der Gedanke an die beiden großen Männer ließ sie diese Idee sofort wieder verwerfen. Noch einmal würden die nicht so leicht zu überrumpeln sein. Und sie machte sich nichts vor: Es war pures Glück gewesen, dass sie allein durch ihre Kraft und Schnelligkeit entkommen war.
Sie stieß einen Seufzer aus. Also würde sie wieder stehlen müssen. Etwas, was sie hasste wie die Pest.
Doch dieses Mal würde sie organisierter vorgehen. Sie war wild entschlossen, jedes Diebesgut bei passender Gelegenheit zu ersetzen.
Nun, ihr erstes Ziel war klar: Entkommen.
Entschlossen trabte sie los.