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Ein Verbündeter

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Colorado

Vier Tage war sie jetzt auf der Flucht und obwohl sie seit dem Zusammenstoß auf dem Parkplatz keinen Verfolger hatte ausmachen können, war Karina immer noch unter Hochspannung.

Die Nächte hatte sie vorzugsweise draußen verbracht. In der Nähe von Menschen herrschten zu viele Gerüche, als dass sie rechtzeitig ihre Verfolger gewittert hätte. Das Wetter war zu ihrem Glück warm und trocken genug.

Am liebsten hätte sie jeglichen Kontakt mit Menschen gemieden. Wenn es tatsächlich wieder zu einer Konfrontation kommen sollte, war nicht ausgeschlossen, dass auch Unschuldige zu Schaden kamen. Und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Doch da war das leidige Problem mit der Verpflegung. Solange sie nicht in direkter Gefahr war, schien es sinnvoll, ihre Vorräte zu sparen. Also nutzte sie jede passende Möglichkeit, um sich mit Kalorien vollzustopfen.

Auch jetzt saß sie in einem kleinen Restaurant am Stadtrand und verputzte bereits ihr drittes Steak. Die fassungslosen Blicke der Bedienung ignorierte sie. Sie hatte schnell bemerkt, dass ihr Körper seit der Wandlung deutlich mehr Kalorien verlangte als vorher. Ihr Stoffwechsel war offenbar sehr hoch und körperliche Anstrengung verstärkte das noch. Normalerweise konnte sie das kaschieren, indem sie ständig kleine Mahlzeiten zu sich nahm. Doch im Moment war sie froh, wenn sie zweimal am Tag die Gelegenheit zum Essen fand. Also hielt sie sich nicht zurück und hoffte, dass ihr Essverhalten sie nicht verriet.

Der Geruch war so plötzlich hinter ihr, dass sie erstarrte. Bevor sie reagieren konnte, schob sich eine Gestalt in ihr Blickfeld und setzte sich ihr gegenüber.

Karina blinzelte. Sie war sich sicher, den Mann vor ihr noch nie gesehen zu haben. Angst kroch in ihr hoch, doch bevor sie aufspringen konnte, hob er die Hand und lächelte sie freundlich an.

„Bleib. Ich tu dir nichts.“

Etwas in seiner Stimme ließ sie zögern. Er klang tatsächlich nicht bedrohlich. Misstrauisch betrachtete sie ihr Gegenüber.

Der Mann war hochgewachsen, wenn auch nicht viel größer als sie, und schlank. Aber seine Körperspannung verriet, dass er sich zumindest fit hielt. Blaue Augen musterten sie neugierig und Karina musste zugeben, dass dieser Mann verflixt gut aussah. Die blonden Haare waren ordentlich kurz geschnitten und sein Kinn glattrasiert. Gekleidet war er in eine Stoffhose und ein kurzärmeliges, weißes Hemd. Insgesamt wirkte er sehr gepflegt. Und bei weitem nicht so gefährlich wie ihre beiden Verfolger.

Doch er roch nach Asche.

„Was willst du?“, fragte sie schließlich und versucht, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben.

„Dich kennenlernen.“

„Ähm, und warum?“

Er lachte leise.

„Nun, kannst du es dir nicht denken? Du bist wie ich. Zum Teil jedenfalls. Und das ist – nun, sagen wir mal, sehr ungewöhnlich.“

Sie schluckte nervös. „Und warum ist das so – ungewöhnlich?“

Er beugte sich vor und fixierte sie mit ernstem Blick.

„Weil du eine Frau bist. Wandler sind normalerweise männlich.“

„Oh.“ War das so? Sie wusste es nicht und das war schlimm genug. „Und – was meinst du mit Wandler?“

Jetzt schien er überrascht zu sein.

„Du kennst den Begriff tatsächlich nicht?“

Sie schüttelte langsam den Kopf.

Er lehnte sich zurück und wirkte nachdenklich.

„Hm, du weißt wohl wirklich nicht viel über uns.“

„Ich weiß gar nichts“, gab sie zu.

„Tja, und das ist das Problem, nicht wahr? Deshalb lässt Hunter dich jagen.“

„Woher weißt du das? Wer ist Hunter?“

Wieder lächelte er.

„Ich kann es dir gerne erklären. Aber ungern hier. Es gibt viel zu viele neugierige Ohren. Aber eines kann ich dir versichern. Ich gehöre nicht zu Hunter. Und ich bin überhaupt nicht damit einverstanden, wie er dich jagen lässt.“

Das hörte sich zunächst gut an. Doch konnte sie diesem Fremden trauen?

„Wie hast du mich gefunden?“

„Nun, zunächst habe ich diverse Informationsquellen, die mir verraten haben, wo du möglicherweise zu finden bist. Und dann hatte ich vermutlich einfach nur Glück, dass ich deinen Verfolgern zuvorgekommen bin.“

Das ließ Karina ängstlich zusammenfahren. „Du meinst, sie sind nicht weit weg?“

„So ist es. Inzwischen haben sie noch Wölfe im Team, und Wolfsnasen sind echt eine Plage. Die schüttelt man nicht so leicht ab.“

„Wölfe!“

Karina schluckte. Sie ahnte, was für Wesen er meinte. Ob das die beiden Männer von der Tankstelle waren? Doch eigentlich hatten diese ganz harmlos gewirkt.

Nervös sah sie zur Tür.

Der Mann lächelte spöttisch.

„Glaub mir, wenn sie hier wären, hättest du es schon mitbekommen. Die sind nicht zu übersehen.“

„Wirst du ... wirst du mich verraten?“

„Süße, das ist nicht dein Ernst. Ich habe doch gerade schon gesagt, dass ich Hunters Vorgehensweise nicht gutheiße. Das Letzte was ich will, ist, dass er dich in seine Klauen bekommt. Hunter ist ein ausgesprochen gnadenloser Mann. Ehrlich gesagt halte ich ihn für den schlimmsten Despoten aller Zeiten. Wer nicht nach seiner Pfeife tanzt, wird eliminiert, so einfach ist das. Und Wölfe sind auch nicht viel besser. Diese blutrünstigen Biester sind die geborenen Jäger. Und du kannst dir vielleicht vorstellen, was die mit ihrer Beute anstellen, wenn sie sie einmal gepackt haben.“

Das konnte und wollte Karina erst gar nicht. Der Mann hatte sehr leise gesprochen und brach ab, als die Bedienung wieder an den Tisch trat, um die leeren Teller abzuräumen. Erst als die Frau wieder verschwunden war, beugte er sich vor.

„Komm mit mir! Ich verspreche dir, die Kerle kriegen dich nicht. Vertrau mir!“

Noch zögerte Karina. Dieser Mann behauptete zwar, dass er ihr helfen wollte, aber sie kannte ihn nicht. Allerdings wirkte er ehrlich und schien bereit zu sein, ihr Informationen über diese bedrohlichen Kreaturen zu geben.

Letzteres gab den Ausschlag. Es war immer gut, mehr über seine Gegner zu wissen, und hier bot sich vermutlich ihre einzige Chance.

„Also gut“, nickte sie und wagte ein zaghaftes Lächeln. „Ich gehe mit dir. Verrätst du mir auch deinen Namen?“

Er grinste jetzt breit und zufrieden.

„Javier. Javier Baird. Eine gute Entscheidung. Du wirst es nicht bereuen.“

Das hoffte sie selbst.

Javier Baird führte sie zu seinem Wagen. Karina war beeindruckt. Offenbar hatte ihr neuer Bekannter einen kostspieligen Autogeschmack. Er fuhr einen fetten Porsche, so viel erkannte sie. Mit Autos kannte sie sich nicht aus, aber dass dieses Modell teuer war, konnte selbst sie erkennen.

Er hielt ihr die Beifahrertür auf und schob sich dann elegant hinters Steuer.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Karina.

„Erst mal weiter nach Westen. Ich kenne da ein abgelegenes Hotel, wo wir Unterschlupf finden und reden können.“

Das war Karina nur recht. Unterschlupf hörte sich gut an und reden noch besser. Sie brannte darauf, mehr über Wandler und Wölfe zu erfahren. Und über Javier Baird, der so erschreckend normal wirkte. Auch wenn er es wohl nicht war.

Das Hotel war gewöhnungsbedürftig und nicht sehr komfortabel, aber Karina beschwerte sich nicht. Immerhin verlangte er kein Doppelzimmer. Dafür waren die nebeneinanderliegenden Einzelzimmer über eine Tür miteinander verbunden.

Karina überlegte, warum sie das beruhigend fand. In den letzten Jahren hatte sie immer auf sich selbst aufpassen müssen. Die Möglichkeit, dass ihr jemand zu Hilfe eilen konnte, war - erleichternd. Angenehm. Wohltuend.

Sie hockten sich in seinem Zimmer an einem kleinen Tisch nieder und genossen ein reichhaltiges Abendessen, das Javier Baird kurzerhand nach oben bestellt hatte.

Es war seltsam, mit anzusehen, dass er anscheinend den gleichen Appetit in sich trug wie sie.

„Bist du ... bist du wirklich wie ich?“, fragte sie schließlich leise.

Javier stockte beim Essen und sah hoch. Dann nickte er und hob die Hand. Vor ihren Augen formte sie sich zu einer bedrohlichen Klauenhand. Ihr bekannte rote Muster tanzten auf seiner Haut und als sie aufsah, blickte sie in flammendgelbe Augen.

Sie schluckte unwillkürlich. Mehr Beweise waren wohl nicht nötig.

„Aber – was sind Wandler? Warum gibt es sie? Wie sind sie entstanden? Warum – warum bin ich auch so?“

Javier zuckte mit den Schultern.

„Wie wir entstanden sind? Evolution? Genetik? Mutation? Keine Ahnung. Es gibt Wandler jedenfalls schon sehr lange. Und wie du zu deinen Fähigkeiten gekommen bist, welche auch immer das sein mögen ... Nun, das weißt du vermutlich besser als ich. Über die ganze Sache ist striktes Redeverbot verhängt worden. Nur wenige wissen darüber Bescheid. Alles was ich weiß ist, dass man an dir herumexperimentiert hat. Und es geht das Gerücht um, dass du nicht nur Wandlerfähigkeiten in dir trägst, sondern auch Wolfs- und Hexengaben.“

Karina sah ihn entgeistert an.

„Sagtest du gerade Hexengaben? Hexen gibt es auch?“

Er lachte mitleidig.

„Du weißt wirklich nichts. Aber gut, das können wir ja ändern. Hexen gibt es jede Menge, und ehrlich gesagt kann ich dir nur raten, einen großen Bogen um sie zu machen. Diese Weiber sind hochgradig verrückt. Wenn sie der Meinung sind, dass du Hexenfähigkeiten besitzt, werden sie alles daran setzen, dich einzufangen und dazu zu bringen, ihrem Kreis beizutreten. Fügst du dich nicht, bist du tot.“

„Das ...“ Karina schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Aber das ist doch nicht in Ordnung. Man kann doch niemanden dazu zwingen.“

Er lachte trocken auf.

„Man nicht, Hexen schon. In einem Punkt haben sie natürlich recht. Hexen, die unerkannt und unausgebildet durch die Gegend laufen, können durchaus gefährlich sein. Und vor allem könnten sie mit ihrer Magie dazu beitragen, dass Menschen auf sie aufmerksam werden. Und das will niemand von unseren Völkern. Weder Hexen noch Wölfe, Vampire oder Wandler. Wir sind alle daran interessiert, dass Menschen nichts von uns erfahren.“

Das leuchtete Karina sogar ein. Menschen konnten grausam sein, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Und sie neigten nun mal dazu, allem Fremden und Andersartigen mit Misstrauen zu begegnen. Evolutionsmäßig war das vielleicht sinnvoll, aber in einer globalen und multikulturellen Welt wirkte diese Denkungsweise eher archaisch. Trotzdem. Karina konnte sich noch sehr genau an die ablehnenden und furchtsamen Gesichter ihrer Mitgefangenen erinnern. Keiner hatte in ihr das gesehen, was sie eigentlich war: ein Opfer krimineller und unmoralischer Experimente.

Und das, obwohl gerade diese Menschen das gleiche Schicksal durchlitten hatten wie sie.

Nachdenklich blickte sie auf ihre Hand und ließ sie zur Klaue werden. Langsam hob sie diese und gewährte Javier einen Blick darauf.

Karinas Klauen waren deutlich größer und länger als seine.

„Wouh“, murmelte er beeindruckt und in seinen Augen entstand ein faszinierter Glanz.

„Ich kann verstehen, dass Menschen vor mir Angst haben“, sagte sie leise. „Ich bin ein Monster. Sogar andere Monster hatten Angst vor mir. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn es mich nicht mehr gäbe. Darüber habe ich schon oft nachgedacht.“

„Und warum sitzt du dann hier?“, fragte Javier ebenso leise.

„Vielleicht weil ich feige bin. Zu feige, mich selbst umzubringen. Aber ehrlich gesagt will ich noch nicht sterben. Ich will einfach nur ein normales Leben führen. Ohne Gewalt und Schmerz.“

Javier legte seine Hand auf ihre Klaue.

„Das verstehe ich, aber sehr viel Hoffnung kann ich dir da nicht machen. Du bist kein Monster. Du bist eine Wandlerin. Und noch dazu eine mit besonderen Fähigkeiten. Ein normales Leben wirst du daher nie haben. Und Gewalt liegt in der Natur unseres Volkes. Einige von uns schaffen es, sich zu kontrollieren, doch die meisten geraten immer wieder in Auseinandersetzungen.“ Er grinste ihr entschuldigend zu. „Umso interessanter finde ich es, dass du dich bisher so gut verborgen halten konntest. Hattest du nie Schwierigkeiten? Von dem letzten Fall mal abgesehen?“

Karina schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte sie leise. „Ich meine, ein paarmal musste ich Männer abwehren, die zudringlich wurden. Aber ich konnte immer entkommen.“

Er wirkte eher ungläubig.

„Du bist nie ausgeflippt? Und hast dich dabei gewandelt?“

„Naja.“ Karina zögerte. „Ich rege mich manchmal schon recht schnell auf. Aber bisher konnte ich mich immer rechtzeitig zurückziehen. Ich weiß ja, dass eine Wandlung in der Öffentlichkeit nicht ratsam ist. Und ich will auf keinen Fall jemandem Angst einjagen oder gar verletzen.“

„Hm.“ Er wirkte nicht überzeugt, bohrte aber nicht nach. „Wie sieht es mit deinen Fähigkeiten aus? Beherrschst du Tarnung?“

„Irgendwie schon – denke ich. Aber ich weiß natürlich nicht, wie weit es überhaupt möglich ist, unsichtbar zu werden.“

Er grinste. „Also mit dem entsprechenden Training wird dich niemand sehen. Wandler natürlich ausgenommen.“

„Also ist es normal, dass ich Wärmebilder wahrnehme?“

Jetzt klappte ihm der Mund auf.

„Wärmebilder? Du siehst im Infrarotbereich? Verdammnis, das ist – neu.“

Karina war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Aber viel wichtiger war ihr etwas anderes.

„Hab ich das richtig verstanden, dass Wandler einander sehen können, auch wenn sie sich – äh – tarnen?“

Javier nickte abwesend.

„Ja, wir haben wohl eine spezielle Ausstrahlung, Ausdünstung, was auch immer. Du wirst immer wissen, ob ein Wandler neben dir steht oder nicht. Aber Wärmebilder können wir normalerweise nicht erkennen. Wie sieht es mit deinen anderen Sinnen aus?“

„Sie sind besser als vorher.“

„Um wieviel besser?“

Karina zögerte. War es klug, diesem Mann alles zu verraten?

„Karina“, drängte er. „Du kannst mir wirklich vertrauen. Aber wenn wir deine Verfolger abhängen wollen, muss ich wissen, was du für Fähigkeiten besitzt.“

Also gut. Karina atmete tief durch.

„Ich höre und rieche sehr viel besser. Sogar besser als ich sehen kann.“

„Hast du irgendwann mal Dinge bewirkt, die dir seltsam vorkamen?“

„Du meinst, ob ich gehext habe? Nein!“

Das kam entschlossen. Sie konnte sich wirklich nicht entsinnen, jemals Ungewöhnliches bewirkt zu haben. Aber sie war auch immer damit beschäftigt gewesen, ihre neuen Fähigkeiten zu kontrollieren und unauffällig zu bleiben.

„Schade“, murmelte er. „Hexerei könnte uns tatsächlich helfen. Aber gut. Infrarotsicht ist vielleicht schon ein entscheidender Vorteil.“

„Ich will nicht kämpfen“, flüsterte Karina.

Er streichelte beruhigend über ihre Hand, die wieder normal aussah.

„Ich auch nicht“, versicherte er ihr. „Zumal deine Verfolger in der Überzahl sind. Und von Erdil weiß ich, dass er einer der besten Kämpfer von Asher Hunter ist. Es wäre nicht ratsam, ihm über den Weg zu laufen. Und Kriegerwölfe sind leider echte Kampfmaschinen. Die kennen nichts anderes. Also sollten wir ihnen möglichst aus dem Weg gehen.“

Karina war alles andere als beruhigt, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Noch immer fragte sie sich, warum ihr dieser Wandler helfen wollte. Immerhin lief er ja in Gefahr, ebenfalls angegriffen zu werden. Aber sie wagte es noch nicht, nachzufragen. Sie wollte ihn nicht vertreiben. Er war die erste Person, mit der sie ehrlich reden konnte. Der Erste, der bereit war, ihr zu erklären, in was sie da hineingeraten war. Und das war ein gutes Gefühl. Eines, das sie nicht so schnell verlieren wollte.

„Vielleicht sollten wir jetzt schlafen“, schlug Javier vor. „Morgen früh überlegen wir, wie es weitergeht.“

Karina stimmte zu. Die Aussicht, wieder in einem Bett zu schlafen, war sehr verlockend. Und Javier schien es ehrlich mit ihr zu meinen. Vielleicht würde sie zum ersten Mal seit Tagen wieder durchschlafen können.

Wandlerin

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