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Flucht

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Interstate 70, Nähe Wilson, Kansas

Der Rastplatz war ungewöhnlich leer, fand Karina, aber das lag vermutlich an der Uhrzeit. Aufmerksam musterte sie die Fahrzeuge, während sie auf den Shop zuging.

Es dunkelte bereits und einige Trucks parkten auf dem großen Parkplatz neben der Tankstelle. Auch ein paar kleinere Wagen standen in der Nähe. Nichts wirkte auffällig.

Die letzten zwei Stunden hatte sie als Beifahrerin eines Truckers verbracht, der ihr gutmütig seine ganze Lebensgeschichte aufgetischt hatte. Von Schule über Beruf und Familie war alles dabei gewesen. Karina hatte ihn reden lassen. Das war ihr sehr viel lieber als unangenehmes Betatschen und schlüpfrige Bemerkungen. Er war zwar erregt gewesen, das stach ihr deutlich in die Nase, doch er besaß immerhin so viel Anstand es nicht zu zeigen. Dafür war sie ihm sehr dankbar und hatte beschlossen, früher als geplant auszusteigen, um ihn nicht allzu lange auf die Probe zu stellen.

In den letzten Stunden hatte sie ihre Flucht aktiv vorangetrieben. Stehlen war mittlerweile keine Herausforderung mehr für sie. Vor vier Jahren noch war das anders gewesen. Jeder Einbruch war ein Risiko gewesen, da sie ihre Fähigkeiten noch nicht unter Kontrolle hatte.

Das hatte sich geändert. Sie erinnerte sich noch sehr genau, wie geschockt sie war, als sie das erste Mal bemerkte, dass ihre „Monsterhaut“ nicht nur seltsam aussah. Die rotgelben Muster, die sich unentwegt zu bewegen schienen, versetzten sie in die unglaubliche Lage, sich zu tarnen. Nach einigen Versuchen schaffte sie es, sich wie ein Chamäleon völlig ihrem Hintergrund anzupassen, so dass sie sich selbst im Spiegel kaum erkennen konnte. Sie war nahezu unsichtbar. Ganz gelang es ihr noch nicht, doch sie war zuversichtlich, dass sie das mit mehr Übung irgendwann hinbekommen würde. Für Diebstähle reichte es schon aus. Und so hatte sie sich innerhalb kürzester Zeit neu eingekleidet und etwas Geld besorgt. Sie hoffte, dass sie in Jeans, kariertem Hemd und Lederjacke wie eine normale Tramperin aussah. Zumal sie auch noch einen Rucksack bei sich trug. Er enthielt zwei Flaschen Wasser, Trockenfleisch, eine Karte der Vereinigten Staaten und ein kleines Buch, in dem sie die ersten Adressen vermerkt hatte, wo sie auf Raubzug gegangen war. Akribisch notierte sie hier ihre Beute. Wie gesagt, sie wollte es gründlich angehen – und ohne Schuldgefühle.

Bei der Auswahl der Schuhe hatte sie lange hin und her überlegt, was sinnvoll war. Schließlich hatte sie sich für ein paar Laufschuhe entschieden. Sie konnte nie ausschließen, dass sie wieder wegrennen musste, und da mochte das passende Schuhwerk entscheidend sein.

Im Laufe des Tages wechselte sie mehrfach das Transportmittel. Zum Schluss war sie bei diesem Trucker gelandet.

Er war nicht die schlechteste Wahl gewesen. Vielleicht fand sie hier auf diesem Rastplatz ja einen weiteren freundlichen Menschen, der sie nach Westen mitnahm.

Der Shop war erstaunlich groß, wirkte aber etwas schmuddelig. In den Regalen gab es reichlich Auswahl an Verpflegung, Zeitschriften und sogar diverse Haushaltsgegenstände. Karina beschloss, einige Energieriegel zu kaufen. Proviant war wichtig. Vor allem haltbarer.

An der Kasse schob sie an die zwanzig Riegel über den Ladentisch. Die junge Frau hinter dem Tisch wirkte müde und etwas unwirsch. Sie gönnte ihrer Kundin nur einen kurzen Blick, bevor sie sich der Kasse widmete. Karina war das nur recht.

Nachdem sie bezahlt hatte und sich umdrehte, erstarrte sie.

Gerade hatten zwei Männer den Ladenraum betreten und ihr Geruch ließ alle Warnglocken in Karinas Innerem aufschrillen.

Die beiden lachten anscheinend über einen Witz und kamen näher. Dann erstarb das Lachen und sie starrten Karina an.

Grüne Augen, registrierte diese und versuchte vergeblich, die Angst niederzuhalten, die sich in ihr breitmachte. Und in den flackernden Augen las sie, dass das nicht unbemerkt blieb.

Sie wirkten harmlos. Beide mittelgroß, der eine etwas breiter und kleiner als der andere. Beide blond, der Kleinere mit Schnurrbart. Gekleidet waren sie in Jeans und T-Shirt. Der breitere Mann wirkte etwas älter und grobschlächtiger, während die Gesichtszüge des Jüngeren weich und freundlich waren. Jetzt blickten die Männer eher verblüfft und verwirrt auf sie.

Karina wusste nicht, wem sie gegenüberstand. Aber dass es keine Menschen waren, konnte sie riechen. Ganz unbekannt war ihr der Geruch jedoch nicht. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Erinnerungen an ihre Käfigzeit. Einige ihrer Mitgefangenen hatten diese Duftkomponenten verströmt, als sie sich wandelten. Die Wesen, die dabei entstanden, hatten erschreckend viel Ähnlichkeit mit Wölfen gehabt. Nur dass sie weitaus größer und ihre Pfoten mit gefährlichen, sehr beweglichen Krallen ausgestattet waren. Killer auf vier Beinen hatte ihr Gefangenenwärter ihr einmal zugeflüstert, während er sie folterte. Und genauso hatten diese Untiere auch ausgesehen.

Sie bezwang ihre Angst und ging auf die Männer zu. Die Energieriegel hielt sie fest umklammert.

Wenn das tatsächlich Killermonster waren, hatten sie sicherlich auch kein Interesse, hier in aller Öffentlichkeit ihre Masken fallen zu lassen. So hoffte sie jedenfalls inständig.

Mit unbewegter Miene drängte sie sich an den Männern vorbei und verließ den Shop. Tatsächlich wichen die zwei hastig aus und starrten ihr lediglich hinterher.

Karina verlor keine Zeit und joggte los. Währenddessen stopfte sie die Riegel in ihren Rucksack und schwang ihn sich auf den Rücken. Also gut, dann hieß es jetzt wohl erst einmal einige Meilen zu Fuß zurückzulegen. Vielleicht fand sie ja unterwegs eine andere Mitfahrgelegenheit.

Auf diesem Rastplatz konnte sie keinesfalls bleiben.

Jenson Porter starrte der Frau mit leicht geöffnetem Mund hinterher, bis sein Freund ihm kurz den Ellbogen in die Rippen stieß.

„Geht‘s noch auffälliger?“, zischte es in seinem Ohr. Marshall Bishop schubste ihn zur Theke. „Lass uns schnell bezahlen.“

Keine Minute später standen sie wieder draußen und sahen sich um. Von der Frau war nichts mehr zu sehen.

„Mist“, murmelte Bishop. „Wo ist sie hin?“

Jenson zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Dem Geruch nach in diese Richtung.“ Er zeigte nach Westen. „Verrat mir mal lieber wer, oder besser was sie war? Sowas habe ich noch nie gerochen.“

„Ein bisschen nach Wolf“, knurrte sein Freund. „Aber nicht nach Rudel.“

„Sie ist kein Wolf.“ Jenson schüttelte den Kopf. „Hast du ihre Augen gesehen? Für einen kurzen Moment waren sie gelb.“

„Quatsch!“

„Ehrlich. Außerdem hatte sie einen sehr merkwürdigen Geruch an sich. Irgendwie nach ...“

„Nach was Verbranntem?“, schlug Marshall vor.

„Möglich. Aber ein Mensch war die nicht.“

„Sie hatte Angst“, knurrte Marshall und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Also hat sie erkannt, dass wir auch nicht normale Menschen sind. Wer außer Wölfen kann sowas riechen? Hexen doch nicht, oder? Und wie ein Blutsauger wirkte sie auch nicht. Diese Biester kennen angeblich keine Angst.“

„Bleibt nur Wandler“, überlegte Jenson. „Dazu passen auch gelbe Augen. Aber soweit ich weiß, gibt es keine weiblichen Wandler. Echt seltsam.“

Er wechselte einen ratlosen Blick mit seinem Freund. „Was sollen wir machen?“

Marshall steuerte auf ihren Wagen zu, der noch vor der Zapfsäule stand. „Wir fahren weiter. Schließlich wollen wir heute noch im Rudel ankommen.“

„Und was ist mit der Frau? Meinst du nicht, dass wir irgendjemandem Meldung machen sollten?“

„Du kannst es ja Dylan erzählen“, fauchte Marshall und schwang sich hinters Steuer. „Ich für meinen Teil halte mich da lieber raus. Dieses Weib stank geradezu nach Ärger. Und den kann ich gerade nicht gebrauchen.“

Jenson presste die Lippen zusammen. Dylan Mason war zwar ihr Rudelführer, aber Jenson hatte das unbestimmte Gefühl, dass er die falsche Adresse war. Marshall hatte zwar recht, auf Ärger hatte er auch keine Lust. Andererseits konnte es genauso gut sein, dass diese Frau Hilfe brauchte. Entschlossen griff er nach seinem Smartphone.

„Was soll das?“, knurrte Marshall und sah ihn misstrauisch von der Seite an. „Wen rufst du an?“

„Die Ranger“, kam die knappe Antwort.

„Fuck!“

Jenson konnte seinen Freund gut verstehen. Von den Kriegerwölfen der Minnesota-Rangers hielt man sich am besten weit entfernt. Diese Kerle waren riesig, furchteinflößend und aggressiv. Genau die Sorte Wolf, die nötig war, um Ärger aus dem Weg zu räumen und alles Unangenehme von den Rudeln fernzuhalten.

Interessanterweise hatte er vor ein paar Jahren eine junge Frau kennengelernt, die ebenfalls für die Minnesota-Ranger arbeitete. Erst hatte er es nicht glauben wollen, doch ihre Tätowierungen und auch ihre Erzählungen waren eindeutig gewesen. Wie hieß sie noch einmal? Raven! Na egal. Er tippte die Notfallnummer ein, die jedem Wolf in den Vereinigten Staaten von klein auf ins Hirn gebrannt worden war.

Die Frauenstimme, die seinen Anruf entgegennahm, hatte ein angenehmes Timbre. Wolf, erkannte er sofort.

„Minnesota-Rangers, am Apparat Betty Simpson.“

„Ähm, hallo.“ Er räusperte sich. „Ich ... also mein Name ist Jenson Porter. Ich gehöre zum Kansas-Rudel, und mein Freund und ich haben gerade jemanden getroffen.“

„Aha“, kam es trocken zurück. „Und hat dieser jemand auch einen Namen?“

„Keine Ahnung ... äh ... ich meine natürlich, ich weiß nicht, wie sie heißt.“

Hastig erzählte er von der seltsamen Begegnung. Anschließend beschrieb er die Frau so gut es ging.

„Sie hatte Angst“, schob er dann hinterher. „Aber ich glaube, sie wusste nicht, wer beziehungsweise was wir sind.“

„Sehr gut, Jenson Porter.“ Betty Simpson klang inzwischen äußerst sachlich. „Ich habe mir deine Nummer notiert. Es kann sein, dass Rückfragen kommen. Schalte dein Telefon also auf keinen Fall aus. Wo kann man euch finden?“

„Ähm, wir sind auf dem Weg zum Rudel.“

„Ihr wohnt dort?“

„Nur kurze Zeit. Wir renovieren gerade ein paar Gebäude. Marshall ist ein ziemlich guter Handwerker, und ...“

„So viel Information war jetzt nicht nötig“, knurrte es durch den Hörer und Jenson zuckte zusammen. Aus dem sachlichen Tonfall war mit einem Mal ein sehr ungenießbarer geworden.

„Sorry“, stieß er hastig hervor. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer riesigen zähnefletschenden Wölfin. „Äh ... bist du eine Kriegerin?“, entglitt es ihm. Marshall warf ihm einen fassungslosen Blick von der Seite zu und Jenson hätte sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen.

„Allerdings“, knurrte es zurück. „Und jetzt wirst du deinen kleinen Schwanz zurechtrücken, auflegen und dich für einen Rückruf bereithalten!“

„Geht klar!“

Jenson legte auf und stieß langsam die Luft aus.

„Du bist echt ein Knaller“, kicherte Marshall mit einem Mal los. „Hast du da eine Kriegerin angemacht? Mann, ich dachte, du hängst an deinen Eiern.“

„Dachte ich auch“, murmelte Jenson. „Erzähl das bloß nicht Susan.“

„Ach, ich weiß nicht“, grinste Marshall. „Vielleicht ist das ja inspirierend für sie und sie schnappt sich ein paar Gewichte für mehr Muskelmasse.“

„Du bist echt ein Arsch“, schnappte Jenson zurück. Nach kurzem Nachdenken fand er die Idee allerdings gar nicht mehr so abwegig. Susan hatte nach den beiden Schwangerschaften deutlich zugelegt. Er mochte zwar ihre Rundungen, doch ein paar mehr Muskeln konnten seiner Frau durchaus nicht schaden. Es war nur bedauerlich, dass er vermutlich nie erfahren würde, wie Betty Simpson aussah. Ob sie so attraktiv war, wie ihre Stimme anfangs geklungen hatte. Andererseits, er hing tatsächlich an seinen Eiern. Und von Kriegerwölfen hielt man ja bekanntlich besser Abstand. Egal ob männlich oder weiblich.

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