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Ein Zwangsurlaub
ОглавлениеEnde Juni, 2021
Dornbach nahe Nürnberg, Deutschland
„Das ist jetzt ein schlechter Witz! Oder?“
Tiger starrte seinen President ungläubig an.
Big Man, National President des Road Bastards OMC, lümmelte sich lässig hinter dem riesigen Schreibtisch auf einem äußerst breiten Sessel und grinste ihn gehässig an.
„Mein Sohn, ich scherze nie, das solltest du doch wissen.“
„Ich bin nicht dein Sohn“, knurrte Tiger, obwohl Big Man in all den Jahren, die sie sich kannten, für ihn wohl zu einer etwas verqueren Art von Ersatzvater geworden war. Sie verband keine leibliche Verwandtschaft, aber in den letzten Jahren hatte Big Man ihn oft um seine Meinung gefragt und protegiert. Dazu kamen immer kniffligere Aufgaben und Einsätze, die nie ungefährlich waren. Es schien so, als würde der President der Road Bastards ihn testen wollen. Wofür auch immer. Aber vor allem lagen sie auf der gleichen Wellenlänge. Manchmal hatte Tiger sogar den Eindruck, dass sie sich nur ansehen mussten, um zu wissen, was im Kopf des anderen vor sich ging.
Tiger betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. Der President war in den letzten Jahren sichtlich gealtert. Klar, übermäßiger Alkohol, hemmungsloser Konsum von Junk-Food und ungebremster Sex mit jungen, willigen Biker-Fangirls hinterließen ihre Spuren, obwohl Big Man behauptete, das würde ihn jung halten. Er war deutlich massiger und langsamer als früher, auch wenn er immer noch wie ein Dampfhammer zuschlagen konnte. Sein rechter Haken war in der Bikerszene legendär.
Doch Tiger ließ sich nicht so leicht täuschen.
Sein Boss wurde alt. Seine Bewegungen, sein körperlicher Zustand, alles deutete darauf hin. Trotzdem loderte immer noch das aggressive Feuer in ihm, das die Road Bastards zusammenhielt.
Tiger wollte gar nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn Big Man einmal nicht mehr sein würde. Der alte Teufel war der intelligenteste Stratege, den er je kennengelernt hatte. Big Man hatte nur knapp zehn Jahre gebraucht, um aus einem Haufen lockerer Motorradclubs einen eingeschworenen Verein zu machen, der sich über die Gesetze der üblichen Bevölkerung kaputtlachte und nach eigenen Regeln lebte. Zugegeben, nicht gerade gesetzeskonforme Regeln, aber das störte niemanden in ihren Reihen. Im Gegenteil. Tiger mochte es, den Gesetzeshütern eine lange Nase zu drehen, und ihnen immer einen Schritt voraus zu sein.
Etwas, das er mit Big Man teilte.
Deswegen glaubte er tatsächlich, sich verhört zu haben.
„Ich soll Deutschland verlassen? Fuck, Boss, das ist echt ein schlechter Scherz.“
„Sorry, Junge, aber es muss sein. Gestern stand die geballte Staatsmacht vor meiner Tür und wollte wissen, wo du dich aufhältst. Angeblich hast du vor drei Wochen den Sohn eines Staatsanwaltes ins Koma geprügelt. Es gibt einen Zeugen und einen äußerst angepissten Vater, der Blut sehen will.“
Tiger stöhnte leise, konnte aber nicht verhindern, dass ein breites Grinsen über sein Gesicht zog. An den Knaben erinnerte sich immer noch gerne. Dieser Großkotz hatte doch tatsächlich die Dämlichkeit besessen, ihn einen kriminellen Wichser zu nennen, der mit Sicherheit bald im Knast landen würde. Möglicherweise würde dieser Milchbubi recht behalten. Aber für den Ausdruck in seinen Augen, als Tiger ihm die Faust ins Gesicht gepflanzt hatte, wäre es das auf jeden Fall wert.
Big Man seufzte auf seine typisch theatralische Art.
„Tiger, ich will ja nicht behaupten, dass ich dich nicht verstehe. Vermutlich hätte ich dem Kerl den Schädel eingeschlagen und die Kosten für die lebenserhaltenden Maßnahmen würden die Krankenkassen deutlich weniger belasten, aber ich will meinen besten Mann nicht im Knast haben. Es wird etwas Zeit brauchen, bis wir die Situation bereinigt haben, und bis dahin wirst du den Kopf einziehen und von der Bildfläche verschwinden. Das ist übrigens ein Befehl!“
Tiger stieß ein unwilliges Schnaufen aus, auch wenn er das Kompliment durchaus verstanden hatte.
„Du weißt, dass ich viel von dir halte, Tiger“, fuhr Big Man fort. „Ehrlich gesagt, denke ich, dass du der Einzige in unserem Verein bist, der in der Lage ist, die ganze Scheiße hier zu überblicken.“
Innerlich stimmte Tiger ihm natürlich zu, trotzdem wandte er ein: „Da sind noch Sliver und Balboa ...“
Jetzt schnaufte Big Man empört.
„Das ist nicht dein Ernst. Balboa ist ein hervorragender Kämpfer, klar, aber dumm wie Bohnenstroh. Und Sliver ist zwar schlau, aber nicht hart genug.“
„Sie sind beide Presidents und bei ihren Leuten beliebt“, konterte Tiger.
„Was nicht für die Chapter spricht“, knurrte Big Man. „Aber egal, das ist heute nicht unser Thema. Du wirst Deutschland verlassen! Keine Sorge, wir verbinden das Ärgerliche mit dem Nützlichen. Ich schlage die guten alten Vereinigten Staaten vor. Da gibt es ein paar Outlaws, mit denen ich gerne den Kontakt intensivieren möchte.“
Er listete einige Biker-Clubs auf. Von den meisten hatte Tiger noch nie etwas gehört. Die, die er kannte, weckten jedoch sein Interesse. In dem Punkt hatte Big Man recht. Eine Annäherung konnte geschäftlich durchaus von Vorteil sein.
„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich als Lonesome Rider über die Highways brettern und in Bikerhintern kriechen?“
„Besprich das mit deinen Jungs. Im Moment ist es, bis auf deine Anklage, recht ruhig hier. Die anderen MCs haben anscheinend begriffen, dass sie uns besser keinen Ärger machen.“
Tiger musste spontan grinsen. Dass ihre Konkurrenz stillhielt, war wohl hauptsächlich ihm und seinen Nomads zu verdanken. Ihm und dem politischen Geschick von Big Man.
„Grins nicht so selbstgefällig.“ Big Mans Stimme riss ihn aus seiner Erinnerung. „Verpiss dich und sieh zu, dass deine Anwesenheit in Germany in kürzester Zeit endet.“
Tiger murmelte einen leisen Fluch und verließ den Raum.
„Und bring mir gefälligst ein Souvenir mit“, klang es hinter ihm her.
„Du mich auch“, knurrte er zurück und stiefelte die Treppe hinunter in den Hauptraum.
Der Laden war rappelvoll. Überall flegelten Kuttenträger herum, viele mit einem aufgedonnerten Girl in den Armen. Tiger ignorierte das schamlose Treiben um sich herum und steuerte auf einen Ecktisch zu, an dem seine Männer hockten.
Das Nomad-Chapter.
Mit ihm zusammen sieben Mann stark und immer unterwegs. Es gab wohl kaum einen Fleck in Deutschland, den sie noch nicht angesteuert hatten, kein Clubhaus, das sie nicht kannten. Zumindest was die Häuser ihrer Verbündeten anging.
Ein Leben auf der Straße, das anstrengend aber auch aufregend war. Sie hatten es sich ausgesucht und liebten es genau so. Und es schweißte sie zusammen. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Runners grüne Augen fixierten ihn als erste, aber das war nichts Neues. Dieser verfluchte Bastard hatte zweifellos die schärfsten Sinne von allen hier im Raum.
„Tja, Nomads“, knurrte er und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. „Wir haben da ein Problem. Obwohl, eigentlich habe nur ich eines.“
Damit besaß er die geballte Aufmerksamkeit der sechs Nomads.
„Die Bullen suchen nach mir, wegen diesem Großmaul von vor drei Wochen.“
„Dem Milchbubi?“, fragte Lincoln nach. Er war erst Mitte zwanzig, also im etwa gleichen Alter wie der Staatsanwaltssohn. Ihn würde man allerdings nicht als Milchbubi bezeichnen. Seine große und breite Figur unterstrich nur seine grimmige Miene.
Tiger nickte und griff nach der halbvollen Flasche Bier vor seiner Nase.
„Yep, irgendjemand hat sich als Zeuge zur Verfügung gestellt. Der Pres will, dass ich in die Staaten gehe und da Sight Seeing betreibe. Ich soll ihm ein Souvenir mitbringen.“
Er setzte die Flasche an und leerte sie in einem Zug.
Sie starrten ihn sprachlos an. Schließlich brach Flash das Schweigen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Und was ist mit uns? Sollen wir hier auf dich warten und Däumchen drehen?“
Er war der Jüngste in der Truppe und erst seit zwei Jahren dabei. Als Tiger ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, konnte er ihn nicht ernst nehmen. Flash war einfach viel zu hübsch. Sein freundliches Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt und machte ihn noch jünger, als er eigentlich war. Es gab kein Biker Girl, das ihm widerstehen konnte, das war von vorneherein klar gewesen. Doch Tiger hatte schnell bemerkt, dass in dem Kleinen eine Menge mehr steckte, als es den Anschein hatte.
Flash war nicht besonders groß und nicht so breit gebaut wie der Rest ihrer Truppe, doch er war ungemein wendig und schnell. Dazu kam, dass er schlau war. Tiger hatte begeistert zugesehen, wie der vermeintlich leicht zu besiegende Junge einen seiner Gegner erst verbal fertig machte und dann mit wenigen gezielten Tritten und Schlägen auf die Bretter schickte. Seitdem war Flash dabei. Tiger hatte es noch keine Sekunde bereut. Auf den Jungen war Verlass und er war Biker mit Leib und Seele. Im Moment wirkte er deutlich angepisst.
Und da war er nicht alleine.
Alle sahen Tiger an, als hätte er den Verstand verloren.
Er stieß einen theatralischen Seufzer à la Big Man aus, auch wenn er sich über die Reaktion seiner Männer freute.
„Jungs, ihr werdet es überleben. Sucht euch einen netten MC mit hübschen Girls und vögelt euch meinetwegen das Hirn raus. Mit etwas Glück bin ich nur ein paar Wochen weg.“
Der Ausdruck in ihren Augen war wirklich bemerkenswert. Wenn Blicke töten könnten, wäre er wohl umgefallen.
„Wer hat dir in dein verdammtes Gehirn geschissen?“, grollte Ork, der eindeutig hässlichste Mann in ihrer Truppe. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dich alleine Urlaub machen lassen, und wir hängen hier rum und langweilen uns!?“
Tiger grinste süffisant.
„Also als Langeweile würde ich das nicht bezeichnen. Ihr habt die Aussicht auf unzählige Stunden heißen Sex mit willigen Bikermuschis. Ich hingegen werde stundenlang mit meiner Harley dem Sonnenuntergang entgegenfahren, Staub schlucken, jede Nacht in einem anderen MC abhängen, nur fremde Gesichter vor mir haben und Englisch quatschen müssen.“
„Fuck“, murmelte Liberty. „Das ist sowas von unfair.“
Er war der Mechaniker in ihrer Truppe und Tiger wusste zufällig, dass Liberty schon immer davon geträumt hatte, eine Tour über die endlosen Highways der USA zu machen.
„Hat Big Man gesagt, dass du alleine fahren musst?“
Klar, dass die Frage von Flash kam. Der Knabe erkannte immer sofort, wo er nachhaken musste.
Tiger grinste ihn an.
„Nein. Er hat gesagt, dass ich mit euch darüber reden soll.“
Ork schnaufte verächtlich, während die anderen ihn empört ansahen. Nur Runner verschränkte die Arme und wirkte besorgt. Tiger ahnte warum, aber das musste warten. Zunächst wollte er seine Männer in Spur bringen.
„Es ist ein Arbeitseinsatz. Wir sollen Kontakte auffrischen und neue knüpfen.“
In allen Gesichtern las er jetzt Zufriedenheit und in sich selbst spürte er die beruhigende Bestätigung, dass er sich auf seine Männer verlassen konnte. Keiner würde zurückbleiben. Sie gehörten nun einmal zusammen.
Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nahm Tiger für die kommende Nacht kein Mädchen mit in sein Zimmer. Wie er erwartet hatte, klopfte es spät am Abend.
Runner trat wortlos ein und warf sich auf einen der wackligen Stühle. Die Gästezimmer des MCs waren nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Stabiles Mobiliar gab es selten.
„Das wird Probleme geben“, verkündete er.
Tiger hob die Hände in einer unschuldigen Geste.
„Sorry, aber nicht meine Entscheidung. Wenn Big Man hustet, führt man besser seine Anweisungen aus.“
„Du wirst es Wulf melden müssen, und der wird es an Chief Martinak weiterleiten.“
Tiger hob die Schultern. „Und? Wo ist das Problem? Du wirst dabei sein. Ork auch. Wir sind eine Einheit und das wissen deine Leute.“
Runner verdrehte die Augen. „Verdammt, Tiger, es geht darum, dass die USA-Wölfe nicht eingeweiht sind. Lediglich O’Brian und Bryan wissen, dass du und Ork von der Existenz der Wölfe Kenntnis haben.“
„Nun ja“, grinste Tiger. „Das macht das Ganze doch umso spannender. Du weißt, dass wir bisher den Mund gehalten haben. Und ich zumindest habe nicht vor, das zu ändern. Und Ork würde sich eher die Zunge abbeißen, als dich in die Pfanne zu hauen. Also was soll das Problem sein?“
„Das Problem ist, dass es drüben deutlich mehr Wölfe gibt als hier.“
„Mag sein, aber soweit ich das verstanden habe, verteilt sich das. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf welche treffen, ist daher eher gering.“
„Du kennst meine Meinung zu Wahrscheinlichkeiten“, grollte Runner. „Ich hätte zum Beispiel nie geglaubt, dass Martinak dich und Ork am Leben lässt. Die Wahrscheinlichkeit tendierte gegen Null. Trotzdem sitzt du noch hier.“
„Ich habe eben ein einnehmendes Wesen“, grinste Tiger.
Runner schnaubte nur.
Natürlich wusste Tiger, dass sein Bruder recht hatte. Inzwischen war er bereits einige Male vom Chief der Europe Security kontaktiert worden. Dieser Mann war ein knallharter Vertreter seiner Art und ihm war durchaus bewusst, dass er diesem riesigen Wolf körperlich unterlegen war, obwohl er selbst mit seinen beinahe zwei Metern Körpergröße kein Zwerg war.
Kriegerwölfe waren nun mal eine Hausnummer für sich.
Es quälte ihn mehr, als er gedacht hätte, dass er Big Man nichts von seinen neuen Bekannten erzählen durfte. Seit er und Ork vor einem Jahr erfahren hatten, dass sein bester Mann ein Werwolf war, plagte ihn das schlechte Gewissen, nichts verraten zu dürfen. Doch Martinaks Drohung war unmissverständlich gewesen. Erwähnte Tiger diese Tatsache, würde Bikerblut fließen, und ihm war nur zu bewusst, dass auch seine kampferprobten Männer keine Chance gegen ein Rudel Kriegerwölfe hatten.
Also hielt er den Mund und nahm möglichst unauffällig Aufträge von Martinak entgegen. Meistens handelte es sich um Angelegenheiten, die Ork, Runner und er selbst problemlos allein ausführen konnten. Das Erkunden diverser Örtlichkeiten, das Überbringen von Informationen oder Päckchen und einmal auch das Einschüchtern eines kriminellen Kerls, der offenbar an einen Wolf Drogen vertickt hatte. Nichts Aufregendes also, und bisher hatte er den Rest seiner Truppe heraushalten können. Doch ihm war bewusst, dass sich das jederzeit ändern konnte.
„Ich werde die beiden informieren“, lenkte er ein. „Aber Tatsache ist, dass ich Big Man nicht davon abbringen kann. Also werde ich den Schwanz einziehen und in die Staaten reisen. Auch wenn mich das ankotzt.“
Runner nickte. Er wirkte beruhigter. „Glaub nicht, dass ich das nicht nachvollziehen kann. Aber ich denke, wenn du zuerst mit Wulf redest, hast du gute Karten, dass er dir mit Martinak helfen wird. Er mag dich irgendwie, obwohl er unsere Geschäfte zum Kotzen findet.“
Tiger grinste breit. „Nun ja, er selbst ist ja auch kein Sonnenschein. Immerhin hat er den vorherigen Rudelführer beinahe umgelegt.“
„Das war nach Rudelgesetzen sein Recht“, knurrte Runner. „Und es wurde verdammt nochmal Zeit, dass jemand dem Treiben von Bolender ein Ende gesetzt hat. Dieser Mistkerl war eine Schande für alle Wölfe.“
„Mag sein, ich habe ihn nie kennengelernt. Aber dein Wulf hat definitiv Eier in der Hose. Allerdings hat er noch zu viele Skrupel.“
„Er wird mit dir persönlich reden wollen.“
„Von mir aus, aber abreisen werden wir. Egal, was deine Leute davon halten.“
Runner sah ihn zornig an. „Ich gehöre zu dir, das weißt du, Tiger.“
Tigers Hand landete hart auf seiner Schulter. „Du bist mein bester Mann, Runner, und mein Bruder. Das weiß ich sehr genau. Wir haben uns nicht nur einmal gegenseitig den Arsch gerettet und ich will verdammt sein, wenn ich dir jemals misstraue.“
Runner nickte zufrieden. „Gut. Das wollte ich hören. Ich sage Wulf Bescheid, dass wir morgen vorbeikommen.“
Davor würden sie sich wohl nicht drücken können, das war Tiger inzwischen klar. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass er in die USA reisen würde.
Egal, was die Wölfe dazu sagten.