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Eine unfreiwillige Rekrutierung
ОглавлениеNovember 2020
Dark Moon Creek, Minnesota
Bernart Dierolf langweilte sich.
Und das war noch nie gut gewesen, das wusste er selbst. Nicht gut für ihn, eben weil er sich langweilte, und zwangsläufig auch nicht gut für seine Umwelt, da er in einer solchen Stimmung nach Abwechslung suchte und das meistens zu Ärger führte.
In seiner derzeitigen Lage war das eher lästig.
Seit einem Jahr wohnte er jetzt in der ehemaligen Jackson-Hütte, die ihren Namen irgendwie nicht loswerden wollte, obwohl sie inzwischen seiner Tochter Hannah O’Brian, gebürtige Riemann, gehörte.
Der Name und auch die Dauer seines Aufenthalts störten ihn nicht weiter. Er sah diesen Ort eh nur als Durchgangsstation an. Rudelführer Tucker O’Brian hatte ihm deutlich gesagt, dass er ihn erst ziehen lassen würde, wenn er davon überzeugt war, dass Bernart Dierolf keinen Ärger mehr machen würde. Aber natürlich war allen klar, dass er nur blieb, weil er es selbst so wollte. Dass er es eine Zeitlang sogar genossen hatte, sich nicht mehr vor anderen Wölfen verstecken zu müssen, würde er natürlich niemandem verraten. Es war zwar ärgerlich, dass er vom alten Kontinent verbannt worden war, doch dafür lebte er und hatte die Chance, noch viele Jahre mit Hannah zu verbringen. Und mit Tucker O’Brian. Leider.
Dierolf schnaufte unmutig und hob das Gesicht zur Sonne. Er hockte auf einer Holzbank vor dem Haus, während er seine düsteren Gedanken sortierte. Dies war sein Lieblingsplatz. Er hatte die Bank selbst zusammengebaut und an die sonnenreichste Stelle vor der Hütte gestellt. Im Laufe des Jahres war sie jeden Monat mit dem Sonnenstand gewandert. Und jetzt im November musste man jede Minute davon ausnutzen.
Der Gedanke an O’Brian war da eher störend.
Er mochte den Mann. Keine Frage. Und das lag nicht nur daran, dass Tucker O’Brian seine Tochter geheiratet hatte und jetzt sein verdammter Schwiegersohn war. Ehrlich gesagt gab es wohl kaum einen besseren Ehemann für die temperamentvolle Hannah. O’Brian war ein knurriger, besserwisserischer und kompromissloser Bastard und würde Hannah niemals fallen lassen, davon war Dierolf fest überzeugt. Allerdings wurmte es ihn gewaltig, dass dieser Jungspund einen Hauch dominanter war als er selbst und ihn das auch immer wieder spüren ließ. Normalerweise hätte er sich schon längst verkrümelt und diesen Kontinent erkundet, doch da war eben noch Hannah.
Sie genossen es, nach langen Jahren der Trennung wieder zusammen zu sein. Und er konnte ihr noch eine Menge beibringen, was frau besser wissen sollte, wenn sie einen Rudelführer als Ehemann hatte. Wölfe tickten in manchen Dingen eben doch anders als Menschen. Und die ersten, die das zu spüren bekamen, waren normalerweise ihre menschlichen Frauen.
Zu seiner Erheiterung schien Hannah den Rudelführer allerdings bestens im Griff zu haben. Dafür war sie eben doch zu sehr seine Tochter.
Er grinste zufrieden vor sich hin und überlegte, wie er O’Brian als Nächstes ärgern konnte. Ob er den Kids beibringen sollte, wie man auch eine Wolfsnase austrickste? Die kleinen Biester waren immer wieder bemüht, ihren Anführer mit dummen Sprüchen und Bildern zu ärgern, ohne dabei erwischt zu werden, scheiterten aber regelmäßig. Kinderspiele, doch sehr unterhaltsam für alle Dorfbewohner. O’Brian spielte mit. Er erwischte jeden, aber seine Strafen fielen immer milde aus und zeugten von erzieherischer Konsequenz.
Dierolf musste zugeben, dass er selbst mit Sicherheit nicht so viel Geduld gezeigt hätte. Aber er war ja auch kein Rudelführer. Eigentlich auch kein echtes Rudelmitglied. Nur ein geduldetes. Die meisten akzeptierten ihn und einige der Dorfbewohner halfen ihm, wenn es nötig war. Lediglich zu Theo und Ethan hatte sich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt.
Theo war ein junger Wolf mit einer Leidenschaft für Automotoren. Seit einiger Zeit bastelten sie miteinander an einer alten Harley herum, die Dierolf auf einem Schrottplatz aufgetan hatte. Das schweißte zusammen.
Ethan, Koch und Verwalter der Siedlung, hatte ihn anfangs erst misstrauisch begutachtet, dann aber gegrinst und ihm auf die Schulter geschlagen.
„Freut mich, Wolf. Ich hab das Gefühl, du wirst unsere Langeweile vertreiben. Kannst du kochen? Ich will ein paar deutsche Rezepte ausprobieren, aber Hannah war da bisher eher keine Hilfe.“
Bernart Dierolf hatte gegrinst und genickt. Dass seine Tochter miserable kochte, war kein Geheimnis. Er selbst kochte ganz passabel und so hatten die Männer schnell einen Draht zueinandergefunden.
Aber mehr Freundschaften ließ er nicht zu. Er wartete lieber ab.
Seine Ohren zuckten und er lauschte konzentriert in die Höhe. War das ein Hubschrauber? Er flog Richtung Dark Moon Creek. Vermutlich wieder Besuch aus der Ranger-Zentrale. Ab und zu kam dieser Kriegerwolf Mort Byers vorbei, um seine Frau zu besuchen. Vor einigen Monaten war er Vater von einem strammen Jungen geworden, der alle Anzeichen in sich trug, ein genauso beeindruckender Krieger zu werden wie sein Vater. Seitdem kam Byers öfters, als es den Bewohnern von Dark Moon Creek vermutlich recht war. Ein Grund mehr, heute nicht ins Dorf zu laufen. Kriegerwölfe waren anstrengend und Mort war dazu noch ein Kaliber für sich. Dierolf hatte nicht schlecht gestaunt, als er diesem Wolf das erste Mal begegnet war. Im Laufe seines langen Lebens hatte er schon viele Fellträger getroffen. Mort Byers war mit Abstand der Größte, und das Aggressionspotenzial des Kriegers ließ jedes Mal Dierolfs Instinkte aufjaulen. Keine Frage, von diesem Ranger hielt er sich besser fern.
Und Byers Partner, dieser Henry, war noch spezieller.
Henry Graves. Er hatte den Namen schon einmal vor vielen Jahrzehnten gehört. In Europa. Das war noch zu Zeiten gewesen, als man ihn selbst nicht gejagt hatte.
Ein Blick hatte ihm genügt. Henry Graves war der zweitdominanteste Wolf, dem er je begegnet war. Und das hieß schon was. Er selbst war schließlich weit herumgekommen. Und die Intelligenz, die in den grünen Augen stand, war ihm Warnung genug. Niemals würde er diesen Krieger unterschätzen, das nahm er sich fest vor.
Noch besser, er lief ihm gar nicht mehr über den Weg.
Er schloss die Augen und überlegte, welches der Kids das meiste Potenzial hatte, O’Brian so richtig zu nerven.
Ein Automotor riss ihn aus seinen Überlegungen. Den Motor kannte er. Er hatte ihn schon oft mit Theo repariert.
Langsam stand er auf und sah dem Wagen angespannt entgegen. Es kam selten jemand vorbei. Und wenn, dann waren es meistens Hannah oder ihr nervender Ehemann. Selbst die Besuche von Theo und Ethan konnte er an einer Hand abzählen.
Der Wagen hielt kurz vor ihm. Theo saß am Steuer und grinste ihn schief an. Er wirkte nervös, was Dierolf nicht wunderte, als eine weitere Person auf der Beifahrerseite ausstieg.
Bernart Dierolf murmelte einen leisen Fluch. Von allen Wölfen auf dem Planeten musste er ausgerechnet diesem über den Weg laufen! Aber wenn er ehrlich war, war das nur eine Frage der Zeit gewesen.
Schweigend wartete er ab. Theo wendete den Wagen und gab mehr Gas, als nötig war. Dierolf konnte es ihm nicht verdenken. Am liebsten hätte er auch Fersengeld gegeben. Aber das ließ sein Stolz nicht zu.
Niemand würde ihn jemals von hinten sehen, auch nicht Chief Kale Bryan, Kriegerwolf und Anführer der Minnesota-Rangers.
„Hallo Bernart, lange nicht gesehen.“
Dierolf vermied es, in die stechenden Augen zu sehen. Er hatte vor einigen Jahrzehnten ein halbes Jahr mit Bryan in der französischen Fremdenlegion verbracht und bereits am ersten Tag hatte der Krieger klargestellt, dass er Widerspruch nicht duldete. Bis heute hatte Bernart keinen Wolf getroffen, der dominanter war als Kale Bryan. Dummerweise hatte dieser in jener früheren Zeit rangmäßig auch noch deutlich höher als Bernart gestanden und damit gab es keine Chance, seinen Anweisungen zu entgehen. Und Bryan war schon damals ein harter Knochen gewesen. Dierolf hatte unter ihm Blut und Wasser geschwitzt und ihn permanent verflucht.
„Von mir aus hätte es länger sein können“, knurrte Dierolf seine Antwort und starrte auf den breiten Brustkorb, der sich vor ihm aufgebaut hatte.
Bryan lachte leise mit einem spöttischen Unterton.
„Hast du ernsthaft geglaubt, dass du mir entgehst? O’Brian hat dich erstaunlich lange ruhig gehalten, aber wir wissen beide, dass das kein Dauerzustand ist.“
„Was willst du?“
„Dich!“
Das war eine deutliche Ansage. Dierolf ballte die Fäuste.
„Verdammt, Bryan, ich bin kein ...“
„Es gibt keine Alternative, Bernart.“
Der Chief klang beinahe sanft, aber Dierolf wusste, dass das täuschte. An diesem Kriegerwolf war nicht eine Zelle weich.
„Du wirst für mich arbeiten. Punkt. Alles andere lasse ich nicht gelten, und jeder Rudelführer hier in den Staaten wird bei diesem Thema hinter mir stehen. Dafür hast du bereits zu viel Ärger angezettelt.“
Dierolf schluckte hart. Dass ihn seine Vergangenheit irgendwann einholen würde, war ihm immer klar gewesen, aber dass er ausgerechnet bei Bryan landen musste ...
Das war echt nicht fair!
„Fuck, Bryan, ich könnte ...“
„Nein, kannst du nicht! Pack deine Sachen, du kommst gleich mit.“
Einem Kale Bryan widersprach man einfach nicht.
Dierolf stieß einen deftigen Fluch aus und wirbelte herum.
Wütend stapfte er in seine Hütte. Ein Rucksack war schnell gepackt. Viel besaß er ohnehin nicht. Um den Rest würde sich hoffentlich seine Tochter kümmern.
„Kann ich mich wenigstens von Hannah verabschieden?“, fragte er, als er wieder nach draußen trat.
Chief Bryan erwartete ihn mit verschränkten Armen. Er nickte knapp, drehte sich um und lief los. Dierolf entglitt ein weiterer Fluch und rannte hinterher.
Es war lange her, dass er mit Kriegerwölfen gelaufen war, und damals war er in deutlich besserer Form gewesen. Aber seinen Willen besaß er noch und der hielt ihn knapp hinter Bryan, auch wenn er wusste, dass er das am nächsten Tag mit Sicherheit bereuen würde. Überanstrengte Muskeln schmerzten bestialisch.
*
Dies war das erste Mal, dass Dierolf eine Zentrale von Kriegerwölfen betrat. In Europa war er zwar mit Kriegern gelaufen, doch das Hauptquartier der Europe Security hatte er nicht von innen gesehen. Chief Martinak hatte ihm noch nie richtig vertraut.
Und Chief Bryan? Der leitete die Minnesota-Ranger seit einigen Jahrzehnten und wie zu hören war, hatte er die Krieger sehr gut im Griff. Was Dierolf nicht wunderte, aber ziemlich wurmte.
Die Zentrale lag mitten im Wald, im Norden Minnesotas. Etwa vierzig Meilen von Dark Moon Creek entfernt. Nur eine befahrbare Straße führte hierher. Dafür war rund um die Anlage ein umzäunter, schwer gesicherter Bereich angelegt, der Platz für mehrere Transporthubschrauber bot. Und dort waren sie gelandet.
Das Gebäude war wirklich eindrucksvoll. Oberirdisch befanden sich die Fahrzeughalle und diverse Lagerräume, die vollgestopft mit Fahrzeugen, Maschinen und Kisten waren. Mit einem Fahrstuhl fuhren sie nach unten. Die wichtigsten Räumlichkeiten waren unterirdisch angelegt. Dierolf zählte sechs Untergeschosse.
Zunächst ging es in Bryans Büro.
Vor dessen Tür stand ein großer Schreibtisch, an dem eine äußerst attraktive Kriegerwölfin saß, die ihn interessiert musterte.
„Gib Morgan Bescheid, Betty“, befahl Bryan im Vorbeigehen. „Wir haben ein neues Mitglied.“
Dierolf verzog unwillkürlich das Gesicht, was ein äußerst gehässiges Lächeln in der Miene der Wölfin erscheinen ließ.
„Aber mit Vergnügen, Boss“, säuselte sie und griff nach einem Hörer.
Morgan war ein typischer Krieger: Riesig, breit, Finsterblick. Ein echter Sonnenschein also. Aber daran würde Dierolf sich wohl gewöhnen müssen. Er hatte noch keinen Krieger getroffen, der eine herzliche Art in sich trug.
Stoisch ließ Dierolf Morgans Musterung über sich ergehen.
„Du weißt, dass ich deine Entscheidungen selten in Frage stelle, Boss, aber bist du sicher, dass ein Regelbrecher hier reinpasst?“
Bryan hob fragend die Augenbrauen und nickte dann auffordernd zu Dierolf.
„Erzähl deinem zukünftigen Ausbilder, welche Regeln du gebrochen hast.“
Dierolf schnaufte ärgerlich. „Nur, dass ich meine Familie nicht in ein Rudel gesperrt habe. Alles andere ist erstunken und erlogen.“
„Wölfe lügen nicht“, wandte Morgan ein.
„Habe ich gerade die Unwahrheit gesagt?“, kam sofort die Gegenfrage. Morgan runzelte die Stirn. Die Antwort war klar. Dierolf hatte die Wahrheit ausgesprochen. Wölfe konnten das problemlos erkennen.
„Geh davon aus, dass der Ex-Rudelführer aus Deutschland, Albin Bolender, eine Menge Zeit investiert hat, um Bernart Dierolf schlecht dastehen zu lassen. Beinahe hätte es geklappt“, erklärte Bryan. „Abgesehen davon ist es die einzige Möglichkeit, unseren Wolf hier im Auge zu behalten.“
Er schenkte Dierolf ein wölfisches Grinsen.
„Und zufällig weiß ich in etwa, was für Potenziale in ihm schlummern. Er mag nicht die körperlichen Fähigkeiten eines Kriegers haben, aber allein sein sturer Dickschädel wird ihn mithalten lassen.“
Morgan zuckte die Schultern. „Wie du meinst. Also Komplett-Ausbildung?“
„Die Grundkenntnisse hat er. Ich schätze, ein wenig Auffrischung und Fitnesstraining werden erst einmal reichen.“
Dierolf verkniff sich ein Aufatmen. Noch wusste er nicht, was Auffrischung und Fitness bei nordamerikanischen Kriegerwölfen bedeutete.
Er sollte es schnell herausfinden.
Nachdem er seine kleine Wohnung im dritten Untergeschoss bezogen hatte, orderte Morgan ihn auch schon in die Trainingsebene.
Und Dierolf erfuhr, dass seine derzeitige Fitness bei Weitem nicht ausreichte, um diesen Krieger zufrieden zu stellen.
Unter den Augen einiger anderer Ranger wurde er dermaßen zusammengefaltet, dass er abends wie tot ins Bett fiel und den kommenden Tagen nur mit einem ganz miesen Gefühl entgegensah.
Zum ersten Mal verfluchte er seine Entscheidung, Europa den Rücken zuzukehren. Möglicherweise wäre eine Hinrichtung besser gewesen. Andererseits, er ballte die Fäuste, dann hätte er auch keine Zeit mehr mit Hannah verbringen können und sein Tod hätte sehr viel Leid in ihr geweckt.
Nein, er hatte sich entschieden und würde den Mist hier durchstehen.
In einem hatte Bryan recht. Er trug in sich den Willen zu überleben. Egal in welcher Situation. Und so ein paar verdammte Kriegerwölfe würden ihm das nicht ausreden!
Am nächsten Morgen stand ein grimmig blickender Wolf vor Morgan. Und er gab alles.
Abends nickte der Trainer ihm anerkennend zu.
„Ich revidiere meine Meinung. Der Boss hat wohl recht. Du bist ein Kämpfer. Morgen wirst du beim Training der Jungs mitmachen. Mal sehen, wie lange du durchhältst.“
Dierolf biss die Zähne zusammen.
Und wie er durchhalten würde!