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Aufgeflogen

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Ende Juli 2021


Morton, Illinois

Die Nacht war angenehm warm, trotz einer leichten Brise, die durch die Straßen von Morton wehte. Dennoch schloss Karina ihre Strickjacke, während sie auf den Bürgersteig trat. Um diese Zeit fiel man als Frau besser nicht mit weiblichen Reizen auf, wenn man nicht dumm angequatscht werden wollte.

Nicht dass sie oft nachts unterwegs war. Normalerweise vermied sie so späte Wanderungen durch die Stadt. Doch heute hatte sie sich nicht davor drücken können.

Es war Kolleginnenabend gewesen. Und wer nicht außen vor bleiben wollte, der besuchte diesen Stammtisch ab und zu. Es gab den neuesten Klatsch über Kollegen, neue Storys von einschlägigen Schülern und nicht zuletzt jede Menge Alkohol. Von Letzterem hielt sie sich üblicherweise fern. Alkohol setzte ihre Selbstkontrolle außer Kraft, und das war etwas, was sie sich nicht leisten konnte.

Doch heute hatte sie zwei Bier zu sich genommen. Der Schultag hatte sich frustrierend in die Länge gezogen. Morgens der übliche Unterrichtsbetrieb und nachmittags Elterngespräche. Und diese waren, wie so häufig, anstrengend gewesen. Die meisten Gespräche drehten sich um Problemschüler und leider ging der Trend zurzeit dahin, dass die Eltern dieser Kinder die Schuld für das Fehlverhalten ihrer Sprösslinge nicht bei sich, sondern bei den Lehrern sahen. Also hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, sich zu rechtfertigen und, möglichst diplomatisch, besagten Eltern Tipps für den Umgang mit pubertierenden Jugendlichen zu geben. Leider fiel das selten auf fruchtbaren Boden und da Diplomatie nicht zu ihren Stärken gehörte, war sie entsprechend genervt.

Also hatte sie sich an dem Kolleginnenabend zwei Bier gegönnt, was nicht unbedingt viel war. Doch da sie selten trank und seit dem Mittag keine ordentliche Mahlzeit genossen hatte, spürte sie den Alkohol in ihren Adern kreisen. Ein Grund mehr, schnell nach Hause zu gehen, auch wenn sie wusste, dass die Wirkung von Alkohol bei ihr nie lange anhielt.

Ein Gähnen ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Es war Zeit, ins Bett zu kommen. Zwar war morgen keine Schule, doch sie war noch nie eine Langschläferin gewesen. Und den Samstag nutzte sie gewöhnlich, um ihre Wohnung auf Vordermann zu bringen, einzukaufen und den Unterricht für die kommende Woche vorzubereiten.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. Der nächste Bus ließ eine halbe Stunde auf sich warten. Trotzdem wurde sie nicht langsamer, sondern sperrte all ihre Sinne auf. Sie war nicht nur einmal belästigt worden, obwohl sie sicherlich nicht wie ein Opfertyp wirkte.

Mit knapp eins achtzig war sie groß für eine Frau. Schlank, aber nicht dürr. Eher athletisch. Und das war durchaus gewollt. Mehrmals in der Woche stemmte sie Gewichte und lief auf dem Laufband kilometerweit. Alles in ihrer Wohnung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit Sicherheit sah sie nicht aus wie ein schwaches, hilfloses Weibchen. Doch manche Männer waren blind, dämlich oder betrunken genug, um es trotzdem bei ihr zu versuchen.

Bisher hatte sie nur einmal unter Beweis stellen müssen, dass sie nicht an Männerbekanntschaften interessiert war. Es lag schon einige Jahre zurück und war ihr erster „Männerkontakt“ gewesen. Drei Kerle hatten sie verfolgt und waren handgreiflich geworden. Karina benötigte nur wenige Sekunden, um einem die Hand zu brechen, dem Zweiten die Kniescheibe zu zertrümmern und den Dritten quasi zu entmannen. Zumindest vermutete sie, dass er nach ihrem gezielten Tritt keine Kinder mehr zeugen würde.

Sie selbst war noch in der gleichen Nacht weitergezogen. Es schien ihr zu gefährlich in dieser Stadt zu bleiben, falls die Männer auf die Idee kamen sie anzuzeigen. Im Nachhinein war sie froh, dass alles so glimpflich ausgegangen war, auch wenn das schlechte Gewissen sie noch monatelang plagte.

Immerhin hatte sie daraus gelernt und sich einige Strategien zurechtgelegt, wie sie einer solchen Konfrontation zukünftig aus dem Weg gehen konnte. Am besten war es immer noch, so früh wie möglich potenzielle „Gefährder“ zu erkennen. Sie war deutlich schneller als alle, die ihr bisher hinterhergerannt waren, und hatte schon zweimal solche Verfolger mühelos abschütteln können, ohne auch nur ins Keuchen zu kommen.

Also sperrte sie auch heute all ihre Sinne auf. Und diese waren außergewöhnlich, das hatte sie inzwischen akzeptiert. Wenn sie es zuließ, hörte sie das Rascheln von Mäusen und das Trippeln der Kakerlaken in den Nebengassen. Schon vor einem Sichtkontakt roch sie, ob sich vor ihr ein Mann, eine Frau, ein Kind oder ein Tier befand. Sie wusste nicht, ob ihre Nase so gut wie die eines Hundes oder Wolfes war, aber sie vermutete, dass sie denen zumindest sehr nahekam.

Noch krasser war ihre Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Diese hatte sich nach und nach gezeigt und es dauerte etwa ein halbes Jahr, bis ihr klar war, dass sie im Infrarotbereich sehen konnte. Für Nächte wie heute war das natürlich sehr praktisch.

Doch dieses Mal war es nicht ihre Nachtsicht, die zuerst Alarm schlug, sondern ihr Gehör. Ihr Kopf ruckte automatisch in die Richtung des angstvollen Schreis. Irgendwo, einige Straßen weiter, schrie eine Frau, und sie klang nicht nur panisch. Auch Schmerz lag in ihrer Stimme.

Instinktiv rannte Karina los. Es ging nicht anders. Sie musste einfach helfen. So war es schon immer gewesen. Und genau deshalb geriet sie auch immer in Schwierigkeiten.

Die Frau in Not entpuppte sich als ein junges Mädchen, das von einem bulligen Mann bedrängt wurde. Er hielt sie mit der linken Hand am Hals gegen eine Hauswand gedrückt und erstickte so weitere Schreie, während die andere Hand ihre Jeans herunterzerrte.

Karina roch Schweiß, Blut, Angst und Erregung. Letzteres ging von dem Mann aus. Seine Absicht war völlig klar.

„Lass sie los!“ Karina trat neben ihn und legte ihre Hand mit einem festen Griff auf den Arm, der das Mädchen an die Wand drückte. Karina schätzte es auf höchstens siebzehn und sein bleiches Gesicht war vor Panik und Schmerz verzerrt.

Der Mann stieß ein überraschtes Grunzen aus und ließ sofort los. Doch anstatt zurückzuweichen, griff er an seinen Gürtel und schwang ein bedrohlich aussehendes Messer in Karinas Richtung.

Sie wich zurück, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Klinge über ihren Bauch ratschte. Der Schmerz war so heftig, dass ihr für einen Moment der Atem stockte.

„Miststück“, knurrte der Angreifer und wandte sich ihr ganz zu. Nur nebenbei registrierte sie einen verfilzten Vollbart, den schwammigen Bierbauch und einen unangenehmen Atem, der ihr entgegenwehte. Der ganze Kerl wirkte ungepflegt, doch trotz seines Schmerbauchs besaß er eine eindrucksvolle Armmuskulatur. Der nächsten Messerattacke entging sie durch eine geschickte Drehung, doch noch während sie ihm auswich, spürte sie schon, wie sich das Unausweichliche anbahnte.

„Ich mach dich fertig, Schlampe“, brüllte der Mann und hob erneut die Waffe. Dann weiteten sich seine Augen. „Was zum Teufel ... Fuck!“ Sein Schrei wurde abgewürgt, als sich Karinas Finger um seinen Hals krallten und ihn gegen die Wand drückten.

„Und? Fühlt sich das gut an?“, fauchte sie. Diesmal stand die Panik in seinen Augen. Seine Hände versuchten vergeblich, ihre Klaue zu lösen.

In Karina brodelte ein Cocktail aus unbändigem Zorn über diesen Vergewaltiger und dem Drang, das Mädchen zu schützen. Gleichzeitig stieg in ihr die Verzweiflung hoch versagt zu haben. Sie hatte sich nicht unter Kontrolle! Hätte sie nicht selbst ihre eigene Hand vor Augen gehabt, hätte spätestens die Furcht in seinem Gesicht ihr verraten, dass sie sich gewandelt hatte. Noch nicht ganz, doch mit Sicherheit glühten ihre Augen in einem unmenschlichen Gelb und ihre Krallenhand zeigte die typisch roten Farbmuster auf der Haut. Mit einem verzweifelten Laut schleuderte sie den Mann quer durch die Gasse. Er krachte gegen einen Müllcontainer und sank dann leblos zu Boden.

Karina wandte sich dem Mädchen zu. Es blickte mit einem glasigen Blick zu ihr hoch.

„Bist du ein Dämon?“, lallte seine Stimme, bevor es anfing zu husten. Karina brauchte lange Sekunden, bis sie sich so weit im Griff hatte, die Wandlung zu stoppen und umzukehren. Erst dann beugte sie sich nach unten.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie leise.

Die Kleine fing an zu kichern. Irritiert sog Karina ihren Duft durch die Nase. Erst jetzt registrierte sie den Alkoholgeruch und noch etwas anderes. Sie hatte es schon bei einigen ihrer Schüler wahrgenommen. Oh Herr im Himmel, dieses Kind stand eindeutig unter Drogen. Immerhin schien es bis auf ein paar Blutergüsse im Gesicht und an den Armen unverletzt zu sein.

„Wie heißt du?“, fragte sie, während sie gleichzeitig ihr weiteres Vorgehen überlegte.

„Fanny“, kam die kichernde Antwort. „Wie hast du das gemacht?“

Ein erneutes Husten.

„So glühende Augen sehen echt geil aus.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Karina beschloss spontan, es mit der Strategie der Verleugnung zu probieren. Da sie inzwischen wieder normal aussah, war es zumindest einen Versuch wert.

„Hast du irgendwas gebrochen? Hat er dich geschlagen?“

„Ich glaub schon“, murmelte Fanny. „Mein Gesicht tut weh. Und mein Hals. Und mein Bauch.“

Sie blinzelte. „Bist du Superwoman?“

„Um Himmels Willen“, entglitt es Karina. „Ganz sicher nicht. Warte kurz. Ich muss nachsehen, wie es diesem Schwein geht.“

Sie richtete sich auf und ging auf den Mann zu, der reglos neben dem Müllcontainer lag. Der Container hatte eine beachtlich tiefe Delle an der Seitenwand. Offenbar war dieser Widerling mit dem Kopf gegen das Metall geknallt, denn blutige Schlieren zogen sich durch seine Haare und über sein Gesicht hinweg. Karina tastete nach seinem Puls und war erleichtert, dass er noch lebte. Zumindest hatte sie kein Menschenleben auf dem Gewissen. Auch wenn das die Lage verkomplizierte.

Sie griff nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

In knappen Worten gab sie ihren Standort durch und erwähnte zwei Verletzte. Als nach ihrem Namen gefragt wurde, zögerte sie erst, doch dann gab sie ihn an. Es war sowieso nicht ihr richtiger. Seit Jahren lebte sie unter falschem Namen. Es wäre zwar ärgerlich, wenn sie wieder einen neuen annehmen müsste, vor allem teuer, aber Fanny alleine zu lassen, kam nicht in Frage. Das Mädchen war verletzt und stand unter Drogen. Wer wusste schon, was für Typen hier noch vorbeikamen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass niemand auf das Geschwätz einer Drogensüchtigen hörte.

Krankenwagen und Polizei waren erfreulich schnell vor Ort. Karina gab an, dass sie den Mann mit einem Schlag hatte überraschen können und er unglücklich gegen den Abfallcontainer gekracht war. Sein Messer hatte sie vorher in besagten Container geworfen und ihre Jacke um den Bauch gebunden, so dass der blutige Schnitt nicht zu sehen war. Sie hatte kein Interesse, ebenfalls im Krankenhaus zu landen. Die Ärzte hätten sich mit Sicherheit sehr gewundert, dass die Schnittwunde bereits zu heilen begann. Eine der wenigen ihrer unheimlichen Eigenschaften, die sie als positiv empfand.

Zu ihrer Erleichterung gaben sich die Cops mit einer kurzen Zusammenfassung zufrieden, notierten aber ihre Adresse und forderten sie auf, am nächsten Tag aufs Revier zu kommen, um eine genauere Zeugenaussage abzugeben.

Sie sagte natürlich zu. Normale Bürger taten so etwas. Und sie war seit sechs Jahren sehr bemüht, diesen Eindruck zu vermitteln. Bisher erfolgreich, doch sie war sich mehr als bewusst, dass sie dabei viel Glück gehabt hatte.

Auch dieses Mal würde sie welches benötigen. Alles hing davon ab, wie glaubwürdig die kleine Fanny war und was der verletzte Mann erzählte, wenn er wieder das Bewusstsein erlangte.

Vorsichtshalber würde sie ihre Notfalltasche bereitstellen. Auch wenn es ihr dieses Mal sehr schwerfallen würde, die Stadt zu verlassen. Seit vier Jahren lebte sie hier, hatte sich eine neue Existenz aufgebaut und liebenswürdige Bekannte gefunden, die ihr zumindest einen Hauch von Normalität in ihrem Leben schenkten. Das zu verlieren, würde sie tief treffen.

Wandlerin

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