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KAPITEL 10

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In der Folgezeit in unserem Atelier und auf den Straßen und Plätzen Berlins. Ich bin ich nur noch am Ackern und komme endlich mit meiner Arbeit voran.

Bettys Anwesenheit gibt mir Sicherheit. Ich fühle mich nicht mehr so labil und getrieben. Meine Gedanken sind klarer, neue Bilder oder Ideen verunsichern mich nicht, sondern fügen sich nahtlos in Vorhandenes ein. Auch auf kurzfristige Erfolgserlebnisse bin ich nicht mehr so stark angewiesen wie sonst. Ich schaffe es, auf Drogen und schnellen Sex zu verzichten, selbst mein Begehren nach dem Toulouser hat sich verflüchtigt.

Die Bande zwischen Betty und mir ist stärker als der trügerische Zauber meines Schwarms oder die künstlich von mir provozierten Hormonausschüttungen. Endlich führe ich das Leben eines asketischen Künstlers, der ausschließlich auf seine Arbeit fokussiert ist. Tagsüber tigere ich durch die Stadt, nehme an Straßenkreuzungen, auf Märkten und in Fabrikenhallen O-Töne auf. Nachts bereite ich die eingefangenen Atmosphären auf, mische ab und archiviere. Mein erstes Ziel ist es, einen unendlichen Pool an Tönen und Bildern zu erstellen, um später aus dem Vollen schöpfen zu können.

Ich experimentiere mit diversen Motiven herum, versuche mich an neuen Kompositionen oder improvisiere einfach ins Blaue hinein. Auch meine Freunde beziehe ich in meine Arbeit mit ein. Jeder, der mich am Abend im Atelier besuchen kommt, darf mitmachen. Eddy und Luca spielen mit Bass und Keyboard eine Elektro-Hymne aus den frühen Neunzigern ein. Betty und ihre Mitbewohnerin Daria lassen es auf einer selbstgebauten Trommel krachen, und Lale und ihre kleine Schwester decken mich mit türkischen Popsongs und farbenfrohen Super-8-Aufnahmen aus ihrer Kindheit ein.

Das stetig wachsende Material wird von mir digitalisiert und neu arrangiert. Ich bastele und probiere, kombiniere Altes mit Neuem, mische die so modellierten Sequenzen ab, verändere ihren Dynamikverlauf und jage Halbfertiges probehalber durch meinen Kompressor. Überzeugt mich eine meiner Ideen nicht, variiere ich den Entstehungsprozess und untersuche, wie sich Teile meiner Klangfragmente zu den von mir an Eddys Schnittprogramm vormontierten Bilderwelten verhalten.

Mitunter bin ich so von meiner Arbeit begeistert, dass ich mich in selbstverliebten Schwärmereien verliere. In solchen Momenten tritt meine neue Muse auf den Plan. Ihr geschultes Gehör und ihr kritisches Auge holen mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Bettys Einwände und Fragen lassen mich besser verstehen, klarer hören und schärfer sehen. Dabei geht es Betty nie darum, mich zu demontieren oder mir zu zeigen, was sie besser kann. Im Gegenteil, immer wieder versichert sie mir, wie sehr sie meine Arbeit schätzt. Dabei achtet Betty darauf, dass mir mein Mut und meine Zuversicht nicht verloren gehen. Auch ich bin um Bettys Wohl bedacht, störe sie tagsüber nicht bei ihrer Arbeit im Atelier. Am Abend verwöhne ich sie mit Kreationen aus Lucas Küche und erlesenen Weinen aus Lales Lagerbeständen. Gemeinsam spazieren Betty und ich durch das nächtliche Berlin, diskutieren über die Macht der Musik und die Unendlichkeit menschlicher Fantasie.

Betty und ich sitzen auf den Stufen des Schauspielhauses und trinken Wein. Vom Osten her weht ein warmer Wind. Der Mond scheint und taucht das Dach des Französischen Doms in ein weiches, silbriges Licht.

„Ich habe als kleines Kind immer nur allem zugesehen oder zugehört. Worte und Wortgebilde waren für mich wie kleine Melodien. Ich hätte sie durchaus auch wiederholen können, aber irgendwas in mir war wie blockiert. Als ich im Alter von fünf Jahren noch immer kein Wort sagte, bekamen meine Eltern allmählich Angst.“

„Du hast mit fünf Jahren noch kein Wort gesprochen?“, frage ich. Betty zuckt mit den Schultern und nickt.

„So ist es. Meine Eltern waren völlig fertig. Sie hatten mich zu den verschiedensten Ärzten und Spezialisten geschleift, aber das Problem blieb bestehen.“

Ich nicke und sehe Betty aufmerksam und gespannt an.

„Nun, eines schönen Tages machte ich Urlaub bei meiner deutschen Oma. Das Radio lief, und da hörte ich ein wunderschönes Lied. Ich mochte es sofort. Es hatte eine verwegene, aber auch melancholische Melodie.“

„Was für ein Lied war das?“, hake ich nach und frage: „Ich meine, welches Genre?“

Betty zuckt wieder mit den Schultern, tut so, als wüsste sie es nicht.

„Ich hatte mir lediglich die Melodie gemerkt. Und da ich das Lied wieder hören wollte, summte ich es meinen Eltern tagein, tagaus vor. Ich summte es am Morgen, am Mittag nach dem Essen, am Nachmittag beim Spielen und auch am Abend vor dem Schlafengehen. Irgendwann fiel bei meiner Mutter der Groschen. Sie wusste, wo sie suchen musste, und sie besorgte mir eine Schallplatte mit einer Aufnahme meines Liedes.“

Betty sieht zu mir, ihre Augen glänzen.

„Nun konnte ich mein Lied täglich hören. Ich hörte verträumt den Worten der Sängerin zu, summte fröhlich mit und eines Tages sang ich die erste Strophe. Als meine Eltern das hörten, waren sie sprachlos, denn meine ersten Worte sang ich auf Deutsch.“

„Aber wie hieß denn das Lied nun?“

Betty sieht zu mir, fast mich an der Schulter und singt: „Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, / ​denn er spricht nur immer von Moral. / ​Und was er auch denkt und tut, / ​man merkt ihm leider an, / ​dass er niemand glücklich sehen kann.“

„Das ist doch von Zarah Leander. Mensch, da wäre ich aber auch nicht ohne weiteres drauf gekommen.“

„Meine Eltern begriffen zumindest, dass mit mir alles in Ordnung war und das, obwohl ich so spät angefangen hatte, die Sprache als Kommunikationsmittel zu akzeptieren.“

Ich nehme die Weinflasche zur Hand und schenke Betty in ihren Pappbecher nach. Wir stoßen an und trinken. Ich sehe zu Betty und lächle verschmitzt.

„Als ich fünf Jahre alt war, hatten meine Eltern ein Grundstück in einer Datschen-Siedlung unweit von Strausberg zugewiesen bekommen. Die meisten der Pächter waren ranghohe Armeeoffiziere. Mein Vater arbeitete damals an der Bauakademie, wie er zu seinem Grundstück gekommen war, kann ich nicht genau sagen.“

„War dein Vater Kommunist? Also, war er in der Partei?“

„Ja, mein Vater war in der Partei, anfangs sogar aus Überzeugung. Er hatte den Krieg miterlebt. Sein großer Bruder war kurz vor Kriegsende von den Nazis eingezogen worden und kam nicht wieder. Mein Vater musste seiner Mutter beim Postaustragen helfen und sich als Bauhelfer verdingen, damit er und seine Geschwister halbwegs über die Runden kamen. Dann wurde ein neuer Staat gegründet. Mein Vater erhielt die Möglichkeit, die Schule zu beenden und sein Abitur zu machen. Kurz darauf bot man ihm an, im Ausland zu studieren und das, obwohl er aus einer armen Familie stammte. Ich denke, dass sich mein Vater von den damals propagierten Idealen sehr stark angesprochen gefühlt hat. Und er empfand gegenüber den Leuten, die ihm all das ermöglicht hatten, eine Verpflichtung. Aber ob man ihm deswegen ein Grundstück hinterhergeschmissen hat, wage ich zu bezweifeln.“

„Verstehe, dein Vater hat an die Ideale einer kommunistischen Gesellschaft geglaubt.“

„Tja, das haben wohl viele ein Stück weit. Insofern ist es schon bitter, wie sehr man diesen Demagogen, die ihre eigenen Ideale verraten haben, auf den Leim gegangen ist.“

„Das ist sicher keine einfache Einsicht. Aber ich wollte dich nicht unterbrechen. Ihr hattet also eine kleine Datsche in der Nähe von Strausberg bekommen.“

„Genau, ein Grundstück. Das Häuschen mit ihrer winzigen Terrasse haben meine Eltern an diversen Wochenendeinsätzen selbst gebaut. Ein Raum und eine Kochnische, mehr gab es damals nicht. Dafür war das Grundstück sehr schön gelegen. Direkt am Ufer mit Blick auf den See. Ich fühlte mich in dieser Welt pudelwohl, baute im Wald Buden, spielte mit anderen Kinder ‚Räuber und Gendarm‘ oder fuhr mit Schlauchboot über den See. Auch zu unseren Nachbarn hatte ich ein ausgezeichnetes Verhältnis. Kaum, dass unsere Familie das Wochenende eingeläutet hatte, seilte ich mich ab und ließ es mir bei den Frauen der Offiziere gut gehen. Selbstgebackene Waffeln, Obstkuchen mit extragroßen Streuseln und Sahne oder eine hausgemachte Mischung aus Kakao und Zucker als Schokoladenersatz, mein Leben war ein zuckersüßer Traum.“

Betty nickt mir lächelnd zu und nimmt sich meinen Tabak.

„Nun, eines schönen Tages lief ich mit meinem Vater zum Strand. Mein Vater lief zu Fuß, ich fuhr neben ihm auf meinem neuen Kinderrad hin und her. Kurz vor dem See gesellte sich ein fremder Mann aus der Nachbarsiedlung zu uns. Er war in etwa so alt wie mein Vater und hatte ein Badehandtuch dabei.“

Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche und fahre fort: „Der Mann schaute zu mir und sagte plötzlich mit spöttischem Unterton: ‚Wetten, du schaffst es nicht, mit deinem Rad in den See zu fahren.‘ Ich war völlig durcheinander und sah den Mann verdutzt an. Wie sollte ich mich verhalten? Immerhin hatte mich dieser Erwachsene gerade herausgefordert. Ich sah also hilfesuchend zu meinem Vater, doch der sagte nichts. Also sah ich wieder zu dem fremden Mann, nahm seine Herausforderung an, schrie laut los und trat wie ein Bekloppter in die Pedalen.“

Betty zündet sich die selbstgedrehte Zigarette an und sieht mich überrascht an.

„Du bist aber nicht in den See gefahren? Sag nicht, dass du in den See gefahren bist?“

„Nun, ich mobilisierte alle Kräfte, überholte jeden, der gerade auf dem Weg zum Strand war, umkurvte mehrere ausgelegte Badedecken, nahm noch einmal richtig Tempo auf, hielt auf einen kleinen Sandhügel zu, flog gute drei Meter durch die Luft, überschlug mich und krachte kopfüber mit meinem neuen Rad in den See. Die Leute am Strand sahen mir perplex nach. Sie müssen sich wohl ziemlich erschrocken haben. Als ich wieder auftauchte und allen klar wurde, dass mir nichts passiert war, lachte die Menge los. Der ganze Strand lachte mich aus. Da begriff ich, dass mich der fremde Mann verarscht hatte. Er hatte sich einen Spaß auf meine Kosten gemacht, und mein Vater hatte es nicht verhindert. Ich heulte los und schwor bittere Tränen vergießend Rache. Natürlich kam mir mein Vater zu Hilfe. Er nahm mich in den Arm, versuchte mich zu trösten. Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte, mein Vertrauen gegenüber der Welt der Erwachsenen war beschädigt worden.“

„Du Ärmster, da hat dir der Mann aber übel mitgespielt.“

„Ja, aber er hat auch dafür bezahlt“, antworte ich und lehne mich zurück.

„Wie, du hast du dich an ihm gerächt? Wie denn das? Hast du ihm in seine Blumenrabatten gepinkelt oder auf die Terrasse gekackt?“, fragt Betty.

„Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe ihn nur jeden Abend beobachtet. Zwei Wochen später hat er sich dann beim Holzmachen ins Bein gehackt. Wäre seine Nachbarin, eine völlig verlotterte Sufftante, nicht rechtzeitig aus ihrer Bude gekommen, er wäre wohl jämmerlich auf seinem Grundstück verblutet.“

Betty sieht mich mit großen Augen an und fragt: „Du hast zugesehen, wie er sich ins Bein gehackt hat und hast keine Hilfe geholt?“ „Natürlich habe ich keine Hilfe geholt. Damals gab es ja noch keine Handys oder Notrufsäulen. Außerdem durfte ja niemand wissen, dass ich da war und ihn beobachtet hatte. Am Ende hätte meine Vater noch geglaubt, ich hätte etwas mit der Sache zu tun gehabt.“

Betty nimmt mir die Weinflasche ab, steht auf und fragt: „Und wie alt warst du da?“

„Fünf oder sechs Jahre alt“, antworte ich.

Betty schüttelt sich vor Lachen.

„Meine Güte, du bist ja ein richtiger Psychopath.“

„Findest du?“

Ich nehme mir meinen Tabak und fange an, mir eine zu drehen. Betty nimmt einen großen Schluck aus der Flasche, sie reicht mir den Wein und sagt: „Du hast ihm nicht geholfen und er wäre deswegen fast verblutet. Klar, du warst enttäuscht, weil er dich vor all diesen Leuten am Strand verarscht hatte. Das hat dir sicher wehgetan. Aber Erwachsene handeln nun mal oft unverantwortlich. Sie sind unfair, verlogen und einige sind sogar bösartig. Unsere ganze verdammte Gesellschaft ist so. Und ehe du dich versiehst, bist du selbst erwachsen und lügst fleißig mit.“

Ich stelle den Wein beiseite, zünde mir meine Zigarette an, sehe zu Betty und antworte: „Auf Lügen und Selbstbetrug fahre ich nicht so ab. Was hat man denn davon, wenn man sich selbst betrügt?“

„Aber wenn du in den Zoo gehst, machst du dir da nicht auch etwas vor? Diese Bühne hat doch nicht wirklich was mit der realen Welt zu tun. Sie ist ein künstlich erschaffenes Biotop, ein trügerisches Theater voller geliehener Emotionen.“

„Aber die Menschen, die in den Zoo gehen, und die Musik, die dort gespielt wird, beides ist doch tatsächlich existent“, halte ich dagegen.

„Vieles ist tatsächlich existent und dennoch nichts weiter als ein wackliges Konstrukt.“

„Das klingt alles so abgeklärt“, stelle ich ernüchtert fest.

Betty zuckt mit den Schultern, greift wieder nach der Weinflasche und sagt: „Der Drang, sich was vorzumachen, ist in jedem von uns. Dieser Drang schützt uns. Ohne ihn gäbe es keinen Club, keine Musik, keine Wissenschaften und womöglich auch keine Liebe. Letztlich steht doch alles, was sich der Mensch erdacht hat, auf sehr dünnen Beinchen.“

Ich inhaliere den Rauch meiner Zigarette.

„Findest du wirklich, dass ich mir was vormache?“

Betty sieht mich einen Moment lang an, sie zuckt mit den Schultern und antwortet: „Diese Frage kann sich jeder nur selbst beantworten.“

Wieder reicht Betty mir die Weinflasche. Ich nehme einen kräftigen Schluck und parke die Flasche zwischen meinen Beinen.

„Und Liebe ist deiner Meinung auch nur ein Konstrukt?“

Betty nickt. Ich sehe sie fasziniert an und beiße mir auf die Lippen. Betty nimmt ihre Arme zur Seite hoch, dreht sich ein paarmal um sich selbst und trällert: „Kann denn Liebe Sünde sein? / ​Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst, / ​wenn man einmal alles vergisst vor Glück?“

Affentanz

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