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KAPITEL 4
ОглавлениеStunden später auf dem Dach des Suicide Circus. Es ist windig und unangenehm nasskalt. Ich stehe frierend vor meinem aufgebauten Technikturm und checke das neu installierte Aufnahmeprogramm.
Unter mir ist die Völkerwanderung in vollem Gange. Aufgetakelte Russinnen in Miniröcken, volltrunkene Engländer in Chelsea-Trikots, grölende, hahnenkammgeschmückte Holländer in Hortklassenstärke – halb Europa strömt von der Warschauer Brücke kommend Richtung RAW-Gelände zu den vor Ort ansässigen Clubs. Ich fahre mein Aufnahmeprogramm hoch, aktiviere die Funkstrecken der von mir links und rechts der Ausgehmeile platzierten Mikrofone, setze meine Kopfhörer auf und schalte den Aufnahmemodus ein. Statt der zu erwartenden, bunten Geräuschkulisse höre ich nur ein kratzendes Rauschen. Ich schalte noch einmal alles aus, überprüfe den Ladestand der Akkus und die Geräteverbindungen. Dann fahre ich alles ein zweites Mal hoch. Doch auch dieser Versuch bringt wenig Zählbares. Einzig das Rauschen ist stärker geworden. Im Hintergrund höre ich zwei Personen auf Türkisch streiten. Möglicherweise, weil eines meiner Mikrofone die Kebab-Bude unterhalb der Warschauer Straße eingefangen hat.
„Verdammter Mist“, fluche ich ungehalten.
Auch ein dritter Versuch, mein Aufnahmeprogramm hochzufahren, scheitert kläglich. Ich nehme mein Handy zur Hand und wähle Mischas Nummer. Der Russe nimmt ab.
„Kann es sein, dass du mir wieder mal ausrangierte Ware angedreht hast?“, brülle ich in mein Telefon und trete wütend mit dem Fuß gegen einen der stillgelegten Schornsteine.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, echauffiert sich mein russischer Freund, um so meiner Attacke auszuweichen.
„Es ist gerade mal null Uhr, und wir beide wissen, dass du noch nicht schläfst. Also, hast du mir ausrangierte Ware angedreht oder nicht? Ja oder nein?“
„Wieso regst du dich denn so auf? Hauptsache ist doch, dass die Technik funktioniert“, quakt es vom anderen Ende der Leitung.
„Sag mal, hast du was mit den Ohren? Genau das tut sie nicht! Die Mikros funktionieren nicht! Das Einzige, was ich höre, ist das Geschrei türkischer Kebab-Verkäufer, die sich lautstark über die Zubereitung ihrer Gerichte auseinandersetzen.“
„Reden die zufällig auch über Feigenkompott? Die Mutter meines neuen Kindermädchens kommt doch aus dem Süden von Aserbaidschan. Sie spricht ein ganz seltsames Türkisch. Was nicht schlimm ist, weil sie ein exzellentes Feigenkompott macht. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass sie in ihrer Rezeptur zu wenig Zimt verwendet. Mit zu wenig Zimt schmeckt das Kompott wie eine fade Ansammlung von Fallobst, ohne jeden Biss.“
„Keine Ahnung, mein Türkisch ist zu übersichtlich, als dass ich dir in dem Punkt weiterhelfen könnte. Aber vielleicht bist du ja so nett und beantwortest mir endlich meine Frage. Hast du die Technik auf dem Trödelmarkt eingesammelt?“
Für einen Moment ist es verdammt still. Nur der nasskalte Wind pfeift mir um die Ohren.
„Mischa, ich frage dich genau noch einmal und sollte dir nichts dazu einfallen, demoliere ich dir deinen Mercedes. Also, woher stammt der Schrott, den du mir angedreht hast?“
„Schade, dass du kein Türkisch verstehst. Der alte Mann versicherte mir übrigens, dass die Technik noch bis vor wenigen Wochen ihren vollen Dienst tat. Er hat sie sich aus den Restbeständen des Offenen Kanals organisiert.“
„Der alte Mann? Mischa, welcher alte Mann?“, frage ich, während mir der Nacken steif wird.
„Na der Typ, der neben dem Radioverkäufer, rechts hinter dem Teppichhändler sitzt. Du kennst doch die Hallen am stillgelegten Omnibusbahnhof …“
Ich halte mich kopfschüttelnd an meinem Technikturm fest und schnappe nach Luft. In meinem Hals bildet sich ein Wutkloß.
„Sag mal, hat dir euer Kindermädchen den letzten Rest Hirn rausgevögelt? Ich bin auf diese Aufnahmen angewiesen!“
Mischa zieht es vor zu schweigen.
Ich aber schreie weiter in mein Handy: „In ein paar Wochen will ich meinen neuen Entwurf präsentieren, und du vermietest mir Technik vom Trödelmann? Wie gestört muss man denn sein, dass man so einen Risikokauf kommentarlos weitergibt? Ist das bei dir pathologisch? Musst du deine Mitmenschen abziehen? Kannst du sonst nicht einschlafen?“
„Vielleicht hast du die Mikrofone ja nicht richtig ausgerichtet“, antwortet Mischa und tut so, als wäre alles in Butter.
„Wieso denn Plural? Es ist nur eins dabei, das überhaupt funktioniert. Da muss ich nichts mehr richtig oder falsch ausrichten!“
Mischa aber bleibt weiter entspannt.
„Es tut mir wirklich leid, dass du so schlecht mit deinem Projekt vorankommst und darüber hinaus derart unter Zeitdruck stehst. Aber ich hatte dir ja schon gesagt, dass es Sinn machen würde, sich mit jemandem zusammenzutun. Dieser Jemand hätte auch deine Technik vorab checken können. Möglichweise wäre dir dann schon vorher aufgefallen, dass ein Teil leicht überholungsbedürftig ist.“
Ich hole ein letztes Mal Luft: „Deinen Rat kannst du dir sonstwohin schieben!“
„Hör zu, mein Lieber, ich mache dir einen Vorschlag. Du kannst die Mikrofone inklusive Kabelage gern noch eine Woche länger behalten. Ich lege noch mein neues Mikrofonset oben drauf und mache dir einen wirklich fairen Preis“, schlägt Mischa vor.
Ich bin ob seiner Ignoranz sprachlos, drücke den Russen aus der Leitung und werfe mein Handy schreiend gegen den Schornstein.
Über mir haben sich dunkle Wolken zusammengezogen. Es donnert.
Ich sehe zum Himmel hoch und brülle: „Wenn es dich gäbe, würdest du mir das nicht antun! Oder würdest du? Na, komm schon, gib mir ein Zeichen, du Popanz!“
Es fängt an zu regnen.
„Haha! Mehr hast du nicht drauf? Das kann doch nicht wirklich dein Ernst sein!“
Der Regen wird stärker.
„Gut, verstehe. Ich bin also da, damit du was zu lachen hast? Ist das so? Denkst du, ich bin ein Komiker, der deiner Unterhaltung dient? Weißt du was, ich mag keine Komiker und Regen mag ich noch weniger! Ja, genau, ich hasse Regen!“
Jenseits des Ostbahnhofs schlägt ein Blitz ein, kleine Hagelkörner prasseln auf das morsche Dach des Clubs nieder.
Ich ziehe mir die Jacke über den Kopf und versuche meinen Technikturm in Sicherheit zu bringen. Das Problem ist, dass ich nicht alles auf einmal über das in die Jahre gekommene Dach schieben darf. Die Bretter unter mir könnten nachgeben. Mit viel Mühe und noch mehr Geduld schaffe ich es, die Technik unter das Vordach des angrenzenden Nachbargebäudes zu evakuieren. Ich decke alles mit Hilfe einer Plane ab, laufe zurück und bücke mich nach ein paar liegengebliebenen Kabeln. Als ich das letzte Kabel zu fassen bekomme, rutsche ich auf einem Stück Dachpappe aus. Ich drehe eine astreine Pirouette und setze zu einem unfreiwilligen „doppelten Lutz“ an. Mit einem mächtigen Krachen packe ich mich auf meinen Arsch. Warum mein Steißbein plötzlich höllisch brennt und mir das kalte Wasser direkt in die Hose läuft, verstehe ich nicht sofort. Erst als meine Versuche aufzustehen, ein ums andere Mal scheitern, begreife ich, was passiert ist. Ich bin mit meinem Arsch an einem überstehenden Nagel hängengeblieben.