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KAPITEL 1

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An einem lauen Sommerabend im Gartenbereich des Berliner Techno-Clubs Zoo, einem mehrgeschossigen, neoklassizistischen Industriebau aus den 50ern.

Die untergehende Sonne spiegelt sich in den Fenstern der Fassade. Der letzte Tag der Woche neigt sich dem Ende zu. Doch im Garten des Clubs ist die herkömmliche Zeitrechnung außer Kraft gesetzt. Begriffe wie Wochentag oder Monat wirken hier wie Relikte einer mir fremden, von banalen Verpflichtungen dominierten Welt. Einer Welt, die ich nicht vermisse.

„Bist du öfter hier?“ Ihr südfranzösischer Dialekt reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich versuche, scharf zu stellen. Die Sitzelemente aus Beton und die dort abhängenden üblichen Verdächtigen sind noch immer da. Auf der winzigen Tanzfläche wippen fünf halbtote Touris vor sich hin. Wer hinter dem DJ-Pult steht und für den holprigen Sound verantwortlich ist, kann ich von meinem Stück Wiese aus nicht erkennen. Das attraktive Pärchen mir gegenüber ist hingegen nicht zu übersehen. Sie, groß, apart, mit unendlich langen Wimpern. Er, blass, halblanges, zotteliges Haar, faszinierend dunkle Augen.

„Wir waren erst zwei Mal hier, aber der Laden ist echt genial“, springt er seiner Freundin bei, womöglich weil ich noch immer nicht geantwortet habe.

Menschen, die nicht reden, werden von ihrer Umwelt ja oft als Bedrohung wahrgenommen und das, obwohl Stille gern mit Harmonie gleichgesetzt wird.

„Ja, der Club ist ganz ordentlich. Gute Musik, kreative Künstler. Ich überlege selbst, hier zu spielen. Hatte ich dir meiner neuen Klanginstallation erzählt?“

Er nickt interessiert, während sie weiter meinen Stoff auf ihrem Flyer zerkleinert.

„Das Untergeschoss ist eigentlich zu verbaut, als dass man einen wirklich guten Sound kreieren könnte“, erkläre ich und wackle wichtigtuerisch mit dem Kopf.

„Bei uns in Toulouse gibt’s nichts Vergleichbares. Also zumindest nicht so was.“

Er breitet ehrfürchtig die Arme aus und deutet auf das imposante Gebäude des Zoo.

„Stimmt“, pflichtet sie ihm bei und reicht mir Flyer und Ziehröhrchen.

„Südfrankreich hat aber auch was für sich“, antworte ich, taxiere die drei aufgebauten Lines und ziehe die größte.

„Warst du schon mal in Toulouse?“, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich gebe ihr den Flyer zurück und lächle ihn an. Seine mandelförmigen Augen sind in der Mitte dunkelbraun, umfasst von einem bernsteinfarbenen Kranz. Ich muss an einen altaischen Esel denken. Altaische Esel haben riesige, melancholische Augen.

„Ich mag Esel“, blubbere ich.

Er sieht mich irritiert an. Die von mir unbedacht vorgetragene Sympathiebekundung scheint ihm vor seiner Freundin unangenehm zu sein.

„Nun, ich wollte sagen, ich meine …“, mein Hirn schaltet einen Gang höher, „… also der Punkt ist, ich hatte mal einen Studienkollegen, der kam aus einem Dorf in der Nähe von Toulouse, und dessen Vater … der hatte eine altaische Eselzucht.“

Das Mädchen sieht erstaunt zu mir.

„Echt? Altaische Esel?“

„Ja, bemerkenswert, oder? Aber jetzt wohnt der Typ in München. Berlin war, glaube ich, nicht so sein Fall, jobtechnisch jedenfalls nicht.“

„Dafür sind die Partys besser“, mischt er sich ein und lächelt versöhnlich.

Sie zieht ihre Line, wischt sich die Nase ab und gibt ihm den Rest, sie sieht zu mir und fragt: „Und was ist mit den Eseln passiert?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung, der alte Mann wird sie wohl geschlachtet haben.“

„Oha“, entfährt es ihr.

Ich nicke zufrieden und freue mich, dass das Gespräch wieder in geordneten Bahnen verläuft. Er legt sich den Flyer auf die Knie und zieht sich den Stoff bis in die Stirnhöhlen hoch. Langsam richtet er sich auf und streckt sich ein paar Mal. Eine seltsam erotische Spannung legt sich über unseren Teil der Wiese.

„Im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien, da gibt es noch immer Bauern, die Esel als Lastentiere halten“, erklärt er und leckt sich über die taub gewordenen Lippen.

„Das wusste ich gar nicht“, antworte ich und versuche, interessiert zu gucken.

Sie bietet mir eine Zigarette an. Ich greife zu. Wir geben uns gegenseitig Feuer. Er legt sich auf die Seite und schließt die Augen. Ich kreise mit dem Kopf hin und her und starre Löcher in die Luft. Sie spielt an ihrem Nasen-Piercing herum. Das Gespräch droht zu versiegen.

Erneut gibt er sich einen Ruck und sagt: „Wir wohnen übrigens in Weißensee.“

„Also faktisch um die Ecke“, witzele ich und sehe zu ihr.

„Mit der Straßenbahn ist es ein Katzensprung“, antwortet sie und lächelt einladend.

Zweieinhalb Stunden später sitze ich mit einem Kater namens Henri auf dem Schoß auf einer dreiteiligen Couch in Weißensee.

Sie wirtschaftet in der Küche herum, kocht Kaffee. Er sitzt neben mir und präsentiert stolz seine Bewerbungsmappe für die hiesige Kunsthochschule.

„Die habe ich selbstgemacht. Erst im Park gesammelt, dann getrocknet und anschließend mit Acryl und Öl aufgearbeitet.“

Ich sehe nur ein paar bunte Laubblätter, deren Ränder in unterschiedlichen Farben schillern.

„Das Projekt ist in mehreren Phasen entstanden, von denen jede an eine kunstgeschichtliche Epoche angelehnt ist“, erklärt er und blättert weiter.

Ich halte mir eine kalte Flasche Wasser an den Kopf und versuche, mich an meine Schulzeit und das Fach Kunst zu erinnern.

„Kommt gut, irgendwie expressiv“, quäle ich mir eine Stellungnahme heraus.

„Findest du? Aber eigentlich ist das Projekt als Post-Impressionisten-Zitat angelegt.“

„Ach so? Nun, der einzige Post-Impressionist, den ich kenne, ist Toulouse-Lautrec.“

„Du kennst Henri de Toulouse-Lautrec?“

Ich nicke. Er sieht mich fasziniert an. Unsere Ellenbogen berühren sich leicht.

„Der Kaffee ist fertig!“, brüllt es aus der Küche.

Ich zucke vor Schreck zusammen, schubse versehentlich den Kater von der Couch und greife mir eine der herumliegenden Zigaretten. Henri huscht fauchend unter den Tisch.

„Mit Milch und Zucker?“, fragt sie und sieht mich an, als hätte sie vor, mich zu vernaschen.

„Ich nehme ohne alles“, antworte ich.

Die beiden prusten los.

„Was ist denn?“, frage ich verunsichert.

„Wenn man den Satz eins zu eins ins Französische übersetzt, klingt er etwas …“

Das Mädchen stockt.

„Anzüglich?“, frage ich.

„Ja, genau“, antwortet sie und reicht mir eine große Tasse.

„Die Unterhaltung über Toulouse-Lautrec hat meine Gedanken in die Welt des Unmoralischen gelenkt“, versuche ich mich zu rechtfertigen.

Sie setzt sich neben mich und sieht mich forschend an. Ich nippe verlegen an meinem Getränk. Er beugt sich nach vorne, sieht an mir vorbei und sagt: „Er spielt sicher auf dessen wilde Zeit in Paris an.“

„Nun, eigentlich auf die inzestuöse Beziehung seiner Eltern“, verbessere ich altklug.

„Stimmt, die Mütter seiner Eltern sollen angeblich Schwestern gewesen sein“, springt er mir wieder mal bei und grinst spitzbübisch.

„Nur gut, dass wir keine Geschwister sind“, ergänzt sie und lacht hell auf.

„Was seid ihr denn?“, frage ich unsicher.

„Spielt das denn eine Rolle für dich?“, fragt sie und streicht mir mit der Hand über die Innenseite meines Oberschenkels.

Ich spucke den Kaffee in hohem Bogen über den Tisch. Die bunten Laubblätter der Collage färben sich braun. Er nimmt ein Taschentuch zur Hand und wischt das entstellte Kunstwerk sauber. Er sieht mich gespielt vorwurfsvoll an und fragt: „Kann es sein, dass du meine Arbeiten nicht magst?“

„Mann, das war ein Versehen. Nein wirklich, ich finde deine Arbeiten sehr spannend“, antworte ich und wundere mich, wieso mir plötzlich heiß wird.

„Willst du noch eine Mappe von mir sehen?“, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich wedle mir Luft zu. Vergeblich, ein eigenartiger Druck legt sich auf meinen Kopf.

„Na ja, wenn du noch etwas Interessantes von dir zeigen magst …“

„Trink deinen Kaffee aus!“, herrscht mich das Mädchen unvermittelt an.

Ihre Stimme überschlägt sich im Raum und knallt mir um die Ohren. Ohne nachzudenken, komme ich ihrer Aufforderung nach, stelle die leere Kaffeetasse ab und atme durch. Die Hitzewallungen werden stärker. Er deutet auf meinen Pullover.

„Zieh dich doch aus, wenn dir zu warm ist!“

Auch seine Stimme hallt merkwürdig nach. Ich versuche, mich meines Oberteils zu entledigen. Aus irgendeinem Grund schaffe ich es jedoch nicht mehr, beide Arme gleichzeitig anzuheben. Erst als er mir hilft, gelingt es mir, den Pullover auszuziehen. Ich fühle mich seltsam erschöpft und lehne mich zurück. Meine Gastgeber sehen mich prüfend an. Ihre Gesichter haben sonderbar farbige Flecken. Es kommt mir vor, als wären die beiden ganz nah und weit weg zugleich. Auch das, was sie sagen, ist sonderbar verzerrt.

„Der Kaffee war ganz schön stark …“, versuche ich meinen Ausfall zu erklären.

„Schon gut … das lässt wieder … nach …“, ruft er mir aus der Ferne zu. Sie fasst mich an den Schultern und setzt sich unvermittelt auf mich.

Ihre Haare fallen auf meinen Bauchnabel. Ich spüre ihre warmen Hände auf meinem Körper. Er nimmt hinter ihr Platz und zieht dem Mädchen das T-Shirt aus. Seine Lippen liebkosen ihren Hals. Seine Hände lassen ihre kleinen, weißen Brüste über mir auf und ab tanzen. Ich fühle eine starke Erregung in mir aufkommen. Mein ganzer Körper mutiert zu einer erogenen Zone. Die Haut kribbelt. Die Hose fühlt sich an, als hätte sie jemand mit Beton ausgegossen. Ich taste nach meinem Reißverschluss. Sie lässt von mir ab. Er zieht sich das Hemd aus. Ich zerre, fummle und hebele, lasse mir erst von ihr, dann auch von ihm helfen. Vergeblich, der Reißverschluss meiner Hose lässt sich nicht öffnen.

Verzweifelt sehe ich zu ihr auf und stottere: „Habt ihr … vielleicht … eine Zange?“

Sie deutet kichernd zur Küche hinüber.

„Unter der Spüle … da müsste … ein roter Werkzeugkasten sein.“

Ich drehe mich in die angezeigte Richtung um und falle kopfüber von der Couch. Über mir geht es derweil ohne mich weiter.

Er hält sie von hinten am Becken fest, flüstert ihr Formeln und Beschwörungen ins Ohr und dringt langsam ihn sie ein. Dass ich ihnen dabei zusehe, scheint die beiden nicht zu stören. Im Gegenteil, es kommt mir vor, als würde es sie antörnen. Doch noch habe ich die sich mir bietende Chance auf einen Dreier nicht aufgeben.

Ich rappele mich hoch, halte mich an der mir entgegenkommenden Stehlampe fest, verliere das Gleichgewicht und krache mit der Schulter gegen den Türrahmen. Diesmal gelingt es mir jedoch, auf den Beinen zu bleiben, was ich als kleinen, aber wichtigen Zwischenerfolg werte.

„Ich bin … gleich … wieder da“, erkläre ich feierlich, reiße mich vom Anblick der sich Liebenden los und stürze wankend in den mit Punktstrahlern erleuchteten Korridor. Auch hier schreien mir selbstgemachte Holzdrucke und farbenfrohe Aquarelle von den Wänden entgegen. Mit halbgeschlossenen Augen kämpfe ich mich bis zur Küche durch. Buntbemalte Kacheln und hochkopierte Fotocollagen springen mich ohne Vorwarnung an. Ich richte meinen Blick zum Boden und taste mich bis zur Spüle vor. Hektisch wühle ich mich durch den Hausrat der Franzosen.

Noch immer bin ich fest entschlossen, den Hebel Richtung Orgie umzulegen. Doch weder unter der Spüle noch in einem der zahlreichen Regale ist so etwas wie ein Werkzeugkasten zu finden. Mein Magen zieht sich zusammen. Mir wird übel. Ich setze mich auf einen der Hocker. Um nicht vornüberzukippen, halte ich mich an der Tischkante fest.

Wieso in aller Welt war mir nur derart schlecht? Hatte ich zu viel genommen? Oder war es die Gesamtsituation, die mir derart zu schaffen machte?

Unter mir schnurrt es. Der Kater bewegt sich zwischen meinen Beinen hindurch und sieht mich verführerisch an. Ich atme ein paarmal kontrolliert aus und versuche erneut aufzustehen. Doch diesmal versagen meine Beine. Henri ist es recht. Er reibt sich weiter an meinen Waden. Dann macht er einen Buckel, streckt sich zweimal und scharwenzelt zum Balkon hinüber. Plötzlich erfasst mich ein unwiderstehlicher Drang, dem Tier zu folgen. Ich lasse mich auf den klebrigen Fußboden plumpsen, ziehe meine Socken aus und krieche dem Kater auf allen Vieren hinterher.

„Nur eine kurze Auszeit, eine ganz, ganz kurze Auszeit“, beruhige ich mich selbst.

Tatsächlich, die kühle Luft tut mir gut. Alle Anspannung fällt von mir ab. Ich lege mich neben Henri, umfasse seinen warmen, gleichmäßig atmenden Körper, schließe für ein paar Sekunden die Augen und schlafe zufrieden ein.

Affentanz

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