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ÜBER DIE ENTWICKLUNG DES THEATERS.
ОглавлениеDie Entwicklung der dramatischen Kunst aufzuweisen, ist ein Gegenstand von eigentümlicher Schwierigkeit. Das dramatische Kunstwerk findet und kann seinen hinreichenden Zweck nicht in sich selber finden; der Dramatiker richtet es vielmehr sozusagen zwischen dem Zuschauer und dem Schauspieler auf, und so nehme ich mir vor, mich einmal auf den Standpunkt des Dichters, dann auf den des Schauspielers und schließlich auf den des Zuschauers zu stellen.
Eine andere Schwierigkeit, und keine geringe, kommt daher, daß zu dem Erfolg eines Stücks oder selbst einer ganzen Gattung von Stücken, manches in Betracht kommt, das mit der Literatur gar nichts zu tun hat. Ich meine damit nicht nur diese vielfachen Elemente, die das dramatische Kunstwerk zu seiner Darstellung und zu deren Erfolg braucht, wie Dekoration, Kostüm, Frauenschönheit, Talent und Berühmtheit der Schauspieler; ich meine damit vielmehr besonders die sozialen, patriotischen, pornographischen oder pseudokünstlerischen vorgefaßten Meinungen des Autors. Die erfolgreichen Stücke unserer heutigen Bühne sind zumeist in solchem Maße aus solchen vorgefaßten Meinungen fabriziert, daß man, läßt man eine nach der anderen fallen, fast vom ganzen Stück nichts übrig behält.
In den meisten Fällen dankt eben diesen vorgefaßten Meinungen und Anschauungen das Stück seinen Erfolg; und der Autor, der ihnen nicht gehorcht, dem bloß und nichts als die Kunst seine vorgefaßte Meinung ist, riskiert meistens, nicht nur nicht beliebt zu sein, sondern gar nicht aufgeführt zu werden.
Da aber das Drama nur virtuell im Buche, völlig nur auf der Szene lebt, sieht sich der Kritiker, der sich heute mit der Entwicklung des Theaters und der hierzu parallelen der Schauspieler und des Publikums beschäftigt, verpflichtet, von Werken zu sprechen, die nur eine sehr entfernte Beziehung zur Kunst haben, und Werke von rein künstlerischem Wert hinwider zu ignorieren oder von ihnen nicht anders zu sprechen, als von Buchdramen, deren Entwicklung weit verschieden von jener anderen des gespielten Dramas ist, zu dem sie außerdem in Opposition steht.
«Bei den in Gesellschaft lebenden Tieren, schreibt Darwin, ändert die natürliche Zuchtwahl die Formation eines jeden Individuums in der Richtung seines Nutzens für die Gemeinschaft, – immer unter der Bedingung, daß die Gemeinschaft von der Änderung profitiert.» – In unserm Falle profitiert die Gemeinschaft nicht … Der nicht aufgeführte Dramatiker schließt sich in seinem Werke ein, entzieht sich der allgemeinen Entwicklung und endet damit, sich ihr zu widersetzen. Diese Werke sind alles solche der Reaktion.
Reaktion gegen was? – Ich könnte sagen: gegen den Realismus, aber dieses bereits so vielsinnige Wort würde mich selbst sehr bald in große Verlegenheit bringen. Der schlimmste Sinn, den ich dem Worte gegen könnte, reichte nicht hin, die Werke des Herrn Rostand etwa des Realismus zu überführen, oder des Antirealismus die Komödien Molières oder die Dramen Ibsens. Ich möchte lieber von einer Reaktion gegen den Episodismus sprechen, in Mangel eines besseren Wortes. Denn die Kunst besteht nicht im Verbrauch heroischer, historischer oder legendärer Personen, wie es nicht notwendig unkünstlerisch ist, die Bourgeois von heute auf die Bühne zu bringen. Gleichwohl etwas Wahres in dem Worte ist, das ich in Racine's Vorrede zum «Bajazet» lese: «Die tragischen Helden wollen mit einem andern Auge angesehen sein als wir für gewöhnlich die Leute aus unserer Nähe betrachten. Man kann sagen, unser Respekt vor dem Helden wächst in dem Maße seiner Entfernung von uns.» Ich möchte noch hinzufügen, daß dieser Respekt vor den dargestellten Personen vielleicht nicht nötig ist. Daß der Künstler seine Wahl in einer ferneren Zeit trifft, kommt wohl daher, daß die Zeit zu uns nur ein Bild kommen läßt, das schon alles Episodische, Bizarre und Vorübergehende verloren und nichts sonst behalten hat als sein Teil der tiefen Wahrheit, auf der die Kunst schaffen kann. Und die Fremdhaftigkeit, die der Künstler hervorzubringen sucht, indem er seine Menschen von uns entfernt, zeigt eben dies sein Verlangen an: um sein Kunstwerk als ein Kunstwerk zu geben, als nichts sonst, und nicht hinter der Illusion einer Realität herzulaufen, die selbst wenn sie glückte nur eine Realität noch einmal wäre: ein Pleonasmus. Und ist es nicht, und fast mit Wissen dieses selbe Verlangen, das unsere Klassiker an den drei Einheiten festzuhalten trieb: aus dem Drama kühn und offensichtlich ein Kunstwerk zu machen?
Wenn immer die Kunst ermattet ist, verweist man sie auf die Natur, wie man einen Kranken ins Bad schickt. Aber die Natur kann da nichts – es ist ein Quiproquo. Ich gebe zu, daß es manchmal ganz gut ist, wenn sich die Kunst auf die Weide treibt und sie, blaß von Erschöpfung, auf freiem Feld, im Leben die Hoffnung auf neue Kraft sucht. Aber die Griechen, unsere Meister, wußten ganz gut, daß Aphrodite nicht aus einer natürlichen Befruchtung geboren ward. Die Schönheit wird niemals eine natürliche Schöpfung sein: man erreicht sie nur durch künstlichen Zwang. Kunst und Natur sind Rivalen auf der Erde. Gewiß: der Künstler umfaßt die Natur, die ganze Natur, drückt sie in seine Brust, aber er könnte in Erinnerung an den berühmten Vers sagen: «Ich umarme meinen Rivalen – um ihn zu erdrücken.»
Die Kunst ist immer das Resultat eines Zwanges. Glauben, daß sie sich um so höher erhebe je freier sie sei, das ist zu glauben, das was den Papierdrachen am Steigen verhindere, sei die Schnur. Aber ohne Schnur könnte er sich nicht erheben. Kant's Taube denkt, sie flöge besser ohne den Widerstand der Luft, der ihrem Flügel lästig ist, aber sie weiß nicht, daß ihrem Fliegen dieser Widerstand der Luft Bedingung ist, auf die sie ihren Flügel stützen kann. Auf gleichen Widerstand muß sich die Kunst stützen, um steigen zu können. Ich sprach von den drei dramatischen Einheiten, aber was ich nun sagen will, gilt ebenso für die Malerei als für die Plastik, für die Musik wie für das Gedicht. Die Kunst wirbt um die Freiheit nur in Zeiten der Krankheit: sie möchte mühelos sein. Aber wenn sie in starker Kraft ist, sucht sie den Kampf und das Hindernis. Sie liebt ihre Blattscheiden platzen zu machen, und deshalb wählt sie diese eng und knapp. Ist es nicht in Zeiten des starken Überschäumens von Leben, daß die pathetischesten Geister den Genuß der striktesten Form fühlen? Daher das Sonnet, aus der üppigen Renaissance heraus, bei Shakespeare, bei Ronsard, Petrarca, selbst bei Michel-Angelo; die Verwendung der Terzine durch Dante; die Liebe zur Fuge bei Bach; dieses unruhige Bedürfnis nach dem Zwang der Fuge in den letzten Werken Beethovens. Gibt es ein Staunen darüber, daß die Expansionskraft des lyrischen Atems im Verhältnis zu seiner Kompression steht, oder daß es die zu überwindende Schwere ist, welche die Architektur ermöglicht?
Der große Künstler ist der, den die Hinderung erregt, dem das Hindernis als Sprungbrett dient. Es wird erzählt, daß es ein fehlbehauener Marmorblock war, der den Michel-Angelo diese starke Geste seines Moses zu erfinden veranlaßte. Es ist die beschränkte Zahl von Stimmen, über die er gleichzeitig auf der Szene verfügen konnte, die dem Äschylos der Zwang war, das Schweigen des Prometheus zu erfinden, da man ihn an den Kaukasus kettet. Griechenland schickte den in die Verbannung, der der Lyra eine neue Saite gab. Die Kunst aus dem Zwang geboren, lebt vom Kampfe, stirbt an der Freiheit.
Der Künstler freute sich sonst darüber, das Drama an Ausdruck gewinnen zu lassen, was es alsbald an Schönheit verlor und er verminderte nach und nach den Raum, der Bühne und Theatersaal trennt. Eine verhängnisvolle Entwicklung, scheint es. Diese «Distanz» zwischen Zuschauer und dargestellter Person zu vermindern, den Helden zu vermenschlichen, daran arbeitete auch der Schauspieler nach Kräften. Eins nach dem andern gab er auf, Maske, Kothurn, alles was aus ihm etwas Fremdartiges machte und das man nach dem zitierten Wort Racine's «mit einem andern Auge betrachten solle als wie wir gewöhnlich die Personen betrachten, die wir aus nächster Nähe kennen.» Er unterdrückte alles, bis auf das konventionelle Kostüm sogar, das er sozusagen abstrakt machte und der Person nichts sonst ließ, als was ihr allgemein und menschlich war. Wenn es darin vielleicht einen Fortschritt gab, so war der doch gefährlich und nicht wenig. Unter dem Vorwande der Wahrheit suchte man die Exaktheit. Kostüme, Requisiten, Dekorationen strengten sich an, Ort und Zeit des Dramas zu präzisieren, unbekümmert darum, ob sich Racine nicht vielleicht um das direkte Gegenteil gekümmert hatte.
Bevor Talma den «Mahomet» des Voltaire spielte, glaubte er gut daran zu tun, zuvor den Mahomet der Geschichte einen ganzen Monat lang zu studieren. Er erzählte es selbst, wie er «zu große Verschiedenheiten zwischen seiner Auffassung des Mahomet und der des Voltaire gefunden und daher sofort die Rolle abgegeben habe, die zu spielen ihm unmöglich gewesen wäre ohne der Wahrheit Gewalt anzutun.» Der Fall zeigt besser als man es erfinden könnte, wie der Autor den Akteur gegen sich hat. Hier mag es ja hingehen, denn Voltaires «Mahomet» ist kein gutes Stück, aber … Nach einer Darstellung des «Britannicus» hielt man einem unserer größten Schauspieler vor, daß er seine Rolle nicht so auffasse, wie es Racine vielleicht verlangt habe. «Racine?… wer ist das?» antwortete er. «Ich, ich kenne nur Nero.»
Die unvermeidliche Mitarbeit des Schauspielers partikularisiert dort wo der Autor generalisiert. Ich kann darob den Schauspieler nicht anklagen; das Drama ist kein Abstraktes; die Charaktäre sind Vorwand für Generalisierung, aber immer Wesen von besonderer, partikularer Wahrheit; und das Drama ist wie der Roman der Schauplatz der Charaktäre.
Das Theater ist eine merkwürdige Sache. Wir Zuschauer kommen da des Abends zusammen, um von andern Leidenschaften gemimt zu sehen, die wir selbst zu haben kein Recht besitzen, – weil sich Gesetz und Sitte dem entgegenstellt. Ich möchte an ein außerordentliches Wort Balzac's erinnern; es steht in der «Physiologie der Ehe»: «Die Sitten, das ist die Hypokrisie der Nationen.» – Will er vielleicht damit sagen, daß diese Leidenschaften, die der Schauspieler darstellt, in uns nicht von der Sitte unterdrückt, sondern nur versteckt worden sind? Daß unsere gemessenen Bewegungen nur sind, um auf eine falsche Spur zu leiten? Daß wir die Komödianten sind – Hypokrites heißt im Griechischen der Schauspieler –, daß unsere Höflichkeit nur gemimt und die Tugend, diese «Höflichkeit der Seele», wie sie Balzac nennt, nur ein Dekorationsstück ist? Ist es daher, woher zum Teil unsere Lust am Theater kommt: da laut sagen zu hören, was die Wohlanständigkeit in uns erstickt? Manchmal wohl – doch häufiger noch sieht der Mensch die Leidenschaften auf der Bühne wie gebändigte wilde Bestien. Er hat die wundervolle Fähigkeit, das zu werden, was er zu sein prätendiert, und das ist was Condorcet schreiben ließ: «Die Hypokrisie der Sitte, das spezielle Laster der modernen europäischen Nationen hat mehr als man glaubt dazu beigetragen, die Energie des Charakters, welche die antiken Nationen auszeichnet, zu zerstören.» Die Hypokrisie der Sitte hat also nicht immer existiert.
Ja, der Mensch wird das, was er zu sein prätendiert; aber das zu sein prätendieren, was man nicht ist, das ist eine spezifisch moderne Prätention, deutlicher: die christliche. Ich sage nicht, daß die Intervention des Willens nichts in der Bildung oder Entbildung des Charakters vermag; aber der antike Mensch glaubte nicht anders sein zu müssen als er war. Der Mensch banalisierte sein Wesen nicht aus einem Zwang, sondern trieb es auf Äußerste aus Tugend; keiner verlangte von sich anderes als sich selbst und setzte sich neben den Gott ohne sich zu deformieren. Daher die große Zahl der Götter – so groß wie die Instinkte der Menschen. Das war nicht freie Wahl, die den Menschen sich diesem Gotte hingeben ließ; der Gott erkannte im Menschen sein Ebenbild. Oft kam es vor, daß er, der Mensch, sich dem Ebenbilde weigerte; und der so im Menschen verkannte Gott rächte sich, wie es so schrecklich dem Pentheus geschah in den Bacchen des Euripides.
Selten nahmen die antiken Menschen die Qualitäten der Seele als Güter, die man sich erwerben könnte, sondern nicht anders als die Güter des Leibes, wie einen natürlich zukommenden Besitz. Agathokles war gut, Charikles tapfer, so natürlich wie der eine ein blaues, der andere ein braunes Auge hatte. Die Religion steckte ihnen nicht auf eines Kreuzes Spitze dieses Bündel Tugenden, dieses moralische Phantom auf, dem gleich zu sein sie alle Wichtigkeit gab, unter Strafe anders für gottlos genommen zu werden. Der typische Mensch war nicht einer, sondern Legion und so gab es überhaupt keinen typischen Menschen. – So war die Maske da im Leben ohne Sinn und Brauch – und reserviert für den Schauspieler.
Spricht man über die Geschichte des Dramas, muß man sich vor allem dieses fragen: Wo ist die Maske? Im Saal oder auf der Bühne? Im Theater oder im Leben? – Sie kann nur hier oder dort sein. Die glänzendste Zeit des Theaters, jene, da die Maske auf der Bühne triumphiert, ist die Zeit, wo die sittliche Hypokrisie aus dem Leben verschwunden ist. Hinwider ist die Zeit, da siegte was Condorcet die «Hypocrisie des mœurs» nennt, jene, da man dem Schauspieler die Maske abreißt, wo man von ihm nicht mehr so sehr verlangt, daß er schön sondern daß er natürlich sei – was, wenn ich es recht verstehe, so viel heißt als: der Schauspieler soll sich ein Beispiel an den Realitäten oder mindest an deren Schein nehmen, das der Zuschauer ihm bietet, – das will sagen, ein Beispiel an einer einförmigen oder bereits maskierten Menschheit. Der Autor endlich, der gleichfalls in das Natürlichsein seinen Stolz setzt, soll sich zur Aufgabe machen, das Drama zu diesem Zustande zu liefern: ein monotones, maskiertes Drama, ein Drama, in dem das Tragische der Situationen – denn das Tragische braucht man immer – nach und nach das Tragische der Charaktere ersetzt. Diesen beunruhigenden totalen Mangel an Charakteren kann man im naturalistischen Drama beobachten, das die Wirklichkeit zu kopieren vorgibt. Das ist nicht erstaunlich. Unsere moderne Gesellschaft, unsere christliche Moral tun alles was sie können, Charaktere zu verhindern. «Die antike Religion, schrieb schon Macchiavel, sprach nur die Männer des weltlichen Ruhmes selig, die Heerführer, die Staatsgründer, unsere Religion glorifiziert eher die ergebenen und beschaulichen Menschen als die Tätigen. Unsere Religion will die Menschen stark, damit sie leiden können, nicht um große Taten zu vollbringen.» Mit solchen Charakteren – wenn es noch solche sind – was bleiben da noch für dramatische Aktionen möglich? – Wer aber Drama sagt, sagt Charaktere, und das Christentum widersetzt sich dem Charakter, indem es jedem Menschen ein allen gemeinsames Ideal aufstellt.
So gibt es auch kein rein christliches Drama. Der «Polyeucte» und der «Saint-Genest» können sich, wenn sie wollen, christliche Dramen nennen, und sie sind christlich durch dies und jenes christliche Element darin; aber Dramen sind sie nur durch ihr nichtchristliches Element, welches das christliche Element bekämpft.
Ein anderer Grund der Unmöglichkeit des christlichen Theaters ist der, daß sich der letzte Akt notwendigerweise in der Kulisse abspielen muß, ich meine im Jenseits. Im Himmel schließt der zweite «Faust», im Himmel schließt sicher der sechste Akt des «Polyeucte» und der sechste Akt des «Saint-Genest». Wenn ihn weder Corneille noch Rotrou schrieben, so nicht nur aus Respekt vor den drei Einheiten, sondern weil Polyeucte, Pauline, Saint-Genest an der Schwelle des Paradieses alle die Leidenschaft von sich fallen lassen, durch die das Drama Drama war und als vollendete, völlig entcharakterisierte Christen durchaus nichts mehr zu sagen haben.
Ich schlage keine Rückkehr zur Antike vor. Ich konstatiere einfach, woran unsere Tragödie stirbt: aus Mangel an Charakteren. Das Christentum ist nicht allein für diese Nivellierungsarbeit verantwortlich, von der Kierkegaard sagt: «Die Nivellierung ist nicht von Gott, und jeder gute Mensch dürfte Augenblicke kennen, da er über dieses Werk der Verwüstung weinen möchte.» – Für jene, über die die Begehrungen siegreich sind, ist es nicht schwierig an Götter zu glauben. Sie sind wahrhaft Götter, so lange sie herrschen; um sie der Gefälschtheit zu überführen, ist es schon nötig, daß die Einheit einer despotischen Vernunft sie verdrängt. Das ist die Erfindung einer Moralität, die aus dem Olymp eine Wüste machte. Der Monotheismus ist im Menschen, bevor außerhalb ihm ein Gott ist. In sich selber und bevor er seinen Glauben ins Blaue wirft, fühlt der Mensch Gott oder Götter. Antike oder Christentum – das ist zuerst eine Psychologie, dann erst eine Metaphysik. Die Antike war gleicherzeit der Triumph des Individualismus und der Glaube, daß der Mensch sich nicht anders machen kann, als er ist. Das war die gute Schule des Theaters.
Noch einmal: Ich schlage hier nicht die unmögliche Rückkehr zur Antike vor; ich kann auch nicht kühl Ende und Tod des Theaters konstatieren – aber es liegt mir daran, an dem, was heute das Theater tötet, zu erkennen, was es lebendig machen könnte, denn es ist nicht der Niedergang der dramatischen Kunst, an den ich glaube, sondern ihr Aufgang, den ich fast sehe.
Das Mittel, das Theater dem Episodismus zu entreißen, ist: ihm wieder Zwänge finden. Das Mittel, das Theater aufs Neue mit Charakteren zu beleben, ist: es wieder vom Leben entfernen.
Ich könnte leicht sagen, man solle uns die Freiheit der Sitten geben und der Zwang der Kunst würde folgen; man möge die Hypokrisie des Lebens unterdrücken, und die Maske stiege wieder auf die Bühne. Aber da nun schon die Sittlichkeiten und Moralen immer noch nicht hören wollen, so ist es am Künstler, den Anfang zu machen. Ich habe einige Hoffnung, daß die Moralen folgen; und deshalb:
Es ist klar, daß die neuen gesellschaftlichen Formen, die neuen Verteilungen des Besitzes, unvorhergesehene äußere Einschüsse viel für die Bildung der Charaktere bedeuten; doch glaube ich, daß man all dieser Dinge formgebende Bedeutung überschätzt: ich gebe ihnen nur die Bedeutung des Aufdeckens, Enthüllens. Alles ist immer im Menschen gewesen, mehr oder weniger offen oder verborgen – und was da die neue Zeit aufdeckt, wacht nur unter dem Blicke auf, doch war schlafend da in aller Zeit. Wie ich glaube, daß auch in unserer Zeit noch Prinzessinnen von Cleve und Celadone existieren, so bin ich überzeugt, daß es Adolphe, Rastignac und sogar Julien Sorel lange gab, bevor sie in den Büchern erschienen. Mehr noch: ich glaube, indem ich die Menschheit über die Rasse setze, daß man auch anderswo als in Petersburg, in Brüssel zum Beispiel oder in Paris Nedjanoff, Karamasoff und Anna Karenina finden kann. Aber so lange die Stimmen dieser nicht im Buch, auf der Bühne festgehalten, sind, sind sie verschlossen, erstickt unter dem Mantel der Sitten und warten auf ihre Stunde. Man horcht auf die Welt und hört diese Stimmen nicht, denn die Welt hört nur auf die, deren Stimme sie erkennt, und diese neuen Stimmen sind erstickt, unterdrückt. Man schaut auf den schwarzen Mantel der Sittlichkeiten und sieht nicht was darunter. Und: diese neuen Formen der Menschheit kennen sich selber nicht. Wie viele heimliche Werter kannten sich nicht und mußten erst auf die Kugel des Goethe'schen Werter warten, um sich zu töten! Wie viele verborgene Helden, die nur auf das Beispiel eines Helden in einem Buche warten, auf einen daraus zu ihrem Leben hin entsprungenen Funken um zu leben, auf sein Wort, um zu sprechen! Ist es nicht das, was wir vom Theater hoffen, daß es der Menschheit neue Formen des Heldentums gibt, neue Helden?
Und hier stoße ich auf eine letzte Schwierigkeit: unsere heutige Gesellschaft gestattet uns eine einzige Form des Heldentums (wenn das noch Heldentum ist): den Heroismus der Resignation, des Hinnehmens; deshalb ist es, daß wenn ein so mächtiger Schöpfer von Charakteren wie Ibsen über die Menschen seines Theaters den traurigen Mantel unserer Sittlichkeiten legt, er mit gleicher Hand seine heldenhaftesten Helden zum Bankerott verurteilt. Ganz notwendigerweise zeigt uns sein außerordentliches Theater Heldenbankerotte auf der ganzen Linie. Wie hätte er es anders gemacht, ohne sich von der Wirklichkeit zu entfernen – oder ebensogut, wenn nämlich die Wirklichkeit den Helden, den vortretenden dramatischen Helden erlaubte? Diese kühne Arbeit eines Prometheus, eines Pygmalion glaube ich jenen aufbewahrt, die beherzt einen tiefen weiten Graben vor der Rampe ziehn, die Bühne vom Saal, von der Wirklichkeit die Erfindung, vom Zuschauer den Schauspieler und vom Mantel der sittlichen Konvenienzen den Helden weit trennen.
«Die langsame und unendliche Zeit, sagt der Ajax des Sophokles, bringt ans Licht alles Verborgene und verbirgt was im Licht war, und nichts ist was nicht kommen kann.» Wir erwarten von der Menschheit neues, das ans Licht kommt. Oft behalten jene, die das Wort ergreifen, es schrecklich lang; die noch stummen Generationen sind ungeduldig in Schweigen. Die da sprechen und meinen, sie repräsentierten die Menschheit ihrer Zeit, sollen nicht vergessen, daß andere warten und daß sie es dann nicht mehr haben für lange, haben jene andern einmal das Wort genommen. Heute gehört jenen das Wort, die noch nicht gesprochen haben. Welche sind es? Das wird uns das Theater sagen.
Ich denke an das «offene Meer», von dem Nietzsche spricht, an das vom Menschen noch unentdeckte Land voll neuer Gefahren und Überraschungen für den kühnen Seefahrer. Ich denke was die Fahrten waren vor den Karten und ohne das genaue und begrenzte Repertoire des Gekannten. Und ich lese die Worte Sindbads wieder: «Nun schleuderte der Kapitän seinen Turban zu Boden, schlug sich ins Gesicht, raufte seinen Bart und warf sich in unsäglichem Schmerze auf dem Verdecke des Schiffes hin. Alle Reisenden und Kaufleute umringten ihn fragend, was all das bedeute. Der Kapitän sagte: Wir sind mit unserm Schiff vom rechten Wege ab, aus dem Meere, in dem wir waren, in eines gekommen, dessen Wege wir kaum kennen.» Ich denke an das Schiff des Sindbad – und daß unser Theater die Wirklichkeit verlasse und den Anker hebe.