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Versuch über das Müsli

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Als Alfred Tepetuschnig eines Morgens erwachte, war er ein Protagonist in einem Roman von Peter Handke.

Das war schlecht, denn als er in die Küche gehen wollte, um wie stets sein allmorgendliches Müsli zu verzehren, schien es ihm plötzlich wichtig, aus dem Fenster zu blicken. Was er aber dort sah, war nicht anders als sonst, doch schien es ihm nun als etwas ganz Inniges, als etwas nur für ihn. Er hatte Lust hinauszugehen, aber auch, mit dem Kopf gegen eine Mauer zu rennen, aber nicht aus Überzeugung. Also schlug er sich dreimal mit der Faust ins Gesicht, bis er weinte, und zerriss sein T-Shirt.

Unabsichtlich las er fünfzehn Seiten aus dem Telefonbuch, das auf der Kommode lag. Die Namen auf diesen Seiten schienen ihn plötzlich persönlich zu betreffen, als wären sie Bekannte, die, einmal kennengelernt, sofort zu alten Bekannten würden. Das empfand er als so widerwärtig, dass er schnaubte, wobei ihm der Schleim aus der Nase sprang, worauf er gierig die ganzen fünfzehn Seiten noch einmal las. Er spielte Munterkeit, indem er pfiff und summte und war doch bereit, den nächsten Menschen zu ermorden, der seinen Weg kreuzte.

Dann wurde ihm die Vorstellung verhasst, wie er hier im Flur vor der Küche stand, wissend, dass er bald in der Küche sein würde, nicht anders als all die vielen Male, all die vielen Tage zuvor. Wer sich da eine Zukunft vorstellen konnte, der musste ja wahnsinnig sein! Er wollte einschlafen. Nein, sich rasieren. Stattdessen beschloss er, sich nicht zu rasieren, und dieser Entschluss erleichterte ihn. Dann rasierte er sich auf der Stelle und seine erschreckend feuchte Unterlippe im Spiegel verfolgte ihn noch stundenlang.

Auf einmal erlebte er sich wie die Figur einer längst zu Ende erzählten Geschichte. Ratlos roch er an der Tapete. Indem er sich geräuschvoll räusperte, machte er sich vor sich selbst bemerkbar. Da sonst niemand in der Wohnung war, hatte er eine fixe Idee: Ein Ausnahmezustand war erklärt, auf unabsehbare Zeit war es nunmehr unmöglich, sich in menschlicher Gesellschaft zu befinden. Er setzte sich auf den Boden und putzte alle erreichbaren Schuhe, wobei er ein ruckhaftes Glück erlebte, wann immer er mit der Hand probeweise ins warme dunkle Innere eines Schuhs fuhr.

Er ging im Flur hin und her, hob Sachen auf, um sie wegzuräumen und legte sie dann an dieselbe Stelle zurück. Ich tanze wirklich!, dachte er. Wie hatte er sich einbilden können, gerade in seiner Wohnung sicher zu sein? Es gab keinen Ort mehr, an dem er aus der Welt sein konnte.

Er stand vor der Küchentür, und weil er nicht wusste, wie er sich nun verhalten sollte, und in welcher Reihenfolge, wurde ihm übel. Er packte das Telefon und warf es gegen die Wand. Ich muss erst in Gedanken proben, was ich gleich zu tun habe, dachte er: Zuerst jedenfalls das Müsli in die Schüssel füllen. Dann war zu hoffen (statt wie im Märchen zu fürchten), dass auch Milch im Kühlschrank war. Traf das ein, so würde er möglichst schnell sein Ich-bin-in-der-Küche-greife-in-den-Kühlschrank-und-nehme-die-Milch-Gesicht machen und also in den Kühlschrank greifen und die Milch nehmen. Er erwartete nichts, freute sich auch auf nichts, schon gar nicht auf die Milch, deren Vorhandensein ohnehin zu bezweifeln war! Während er die Hand auf die Türklinke legte und sie absichtlich nach oben zog statt nach unten drückte, war ihm, als bewege er sich schon seit langem innerhalb eines Systems aus in Stein geschlagenen Hieroglyphen. Was brauchte er also? Nach was war ihm? Nach nichts, antwortete er: MIR IST NACH NICHTS. Außer Milch. Und Müsli. Verdammt. Fast die ganze Zeit bis jetzt hatte er nur Lust gehabt auf sein Müsli, jetzt aber wurde es ihm zum Bedürfnis. Warum tarnte er sich immer noch? Er zitterte. Gleichzeitig wurde sein Gesicht leer vor ängstlicher Selbstbeherrschung. Ich bin definiert!, dachte er – und das schmeichelte ihm. Definiert zu sein machte ihn schließlich unauffällig, auch vor sich selbst. Er war ein Mann, der morgens in seiner Wohnung vor der Küche stand. Aber wie gefährdet war dieser Status! Schon ein Schritt weiter, dann würde er ein Mann sein, der IN seiner Küche stand. Jetzt wusste Tepetuschnig, was ihn störte: dass dieser Akt, dieses In-der-Küche-sein für alle da war, nicht für ihn allein. Jeder konnte in der Küche sein! Jeder konnte die Milch aus dem Kühlschrank nehmen! Jeder Müsli essen!

Er flüchtete sich, wie früher bei den Vorlesungen an der Universität, in einen erneuten Blick zum Fenster hinaus: Da bemerkte er, dass im Nachbarhaus noch jemand am Fenster stand: ein Mädchen. Ohne ihn zu beachten, goss sie die Blumen auf ihrem Fensterbrett. Es wurde ihm heiß und schwindlig, aber er konnte nicht wegschauen. Sein Glied wurde steif, und er hatte Blutgeschmack im Mund. Im selben Moment fing er fürchterlich zu lachen an und hatte plötzlich eine schreckliche Angst, die Katze mit einem Faustschlag zu töten, die er gar nicht hatte. Der Mörtel an den Wänden erschien ihm glitschig, würde gleich in Fladen zu Boden fallen. Auf der Stelle kehrte er um, leerte alle Aschenbecher aus, machte das Bett, las die Zeitung, klopfte die Teppiche aus, stellte den Mülleimer vor die Tür, strich sein Schlafzimmer chamoisfarben, wobei er diesen Begriff im Geist unablässig wiederholte, als wäre es eine geheime Formel zur Formalisierung seiner Einsamkeit, führte ein zweistündiges Telefongespräch mit seinem Bruder in Niederösterreich, lernte eine Fremdsprache, studierte den Ulysses, schrieb einer Frau, mit der er letztes Jahr zwei Mal geschlafen hatte, einen langen Brief, spürte eine Wimper im Mundwinkel, übersetzte Henry James ins Deutsche, umarmte den Garderobenständer und schlug mit einer Axt die Badewanne in Trümmer, bis er schließlich, fast ohne es gewollt zu haben, in der Küche stand, wo er sogleich das Licht vierundzwanzig Mal ein- und wieder ausschaltete und das Wasser rinnen ließ, ohne zu wissen warum.

So ging das noch viele, viele, viele Stunden, liebe Kinder, respektive Seiten, und was geschah, als Alfred Tepetuschnig endlich das Müsli in der Schüssel hatte und am Kühlschrank stehend feststellte, dass natürlich WIRKLICH keine Milch mehr da war, weswegen er zum Laden an die Ecke musste, um welche zu kaufen; also das übersteigt das begrenzte Vermögen meiner Beschreibung, ich kann nur zart andeuten: Leo Blooms längster Tag in Dublin war ein Lercherlschas dagegen.

Veilchen im April 2008, Ausgabe 21

Johannes Witek

Veilchen-Anthologie Band 2

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