Читать книгу Veilchen-Anthologie Band 2 - Andrea Herrmann (Hrsg.) - Страница 7
„Die Königin ist tot!“
ОглавлениеNoch fünf Minuten. Jetzt fängt das Kribbeln an. Pünktlich wie immer, dachte Bruno, während er dem Treiben auf der Bühne folgte.
Bis hierhin hatte Klostermann zweimal den Text durcheinandergebracht und war einmal falsch abgegangen. Er wäre für jede Rolle eine glatte Fehlbesetzung gewesen, aber hier durfte er den König spielen. Auch hinter der Bühne, denn zusammen mit dem Regisseur hatte er eine ganz eigene Vision dieses Stückes, das Bruno schon hunderte Male gespielt hatte. Beide hatten wilde Ideen, den alten Plot aufzupeppen und keiner merkte, wie der Geschichte so nach und nach der Zauber genommen wurde. Wenn Bruno nicht die Hoffnung auf Besserung gehabt hätte, wäre er noch während der Proben ausgestiegen. Er merkte schnell, dass seine Erfahrung bei keinem der Verantwortlichen gefragt war. Er war bei weitem der Älteste in der Truppe und wurde behandelt als sei sein Haltbarkeitsdatum als Schauspieler und als Mensch bereits überschritten. Vor allen Dingen Klostermann ließ ihn das spüren. Und sein gesamter Hofstaat, sprich das Ensemble zog mit, da man es sich nicht mit dem König verscherzen wollte.
Schließlich tröstete sich Bruno damit, dass seine Rolle recht klein war. Ein paar Sätze im vierten und fünften Akt. Darunter aber ein sehr wichtiger. Er lautete:
„Die Königin, Herr, ist tot.“
Allerdings führte Bruno schon seit der Premieren-Vorstellung eine äußerst unsinnige Diskussion über die Interpretation eben dieses Satzes. Klostermann, der als König diese unerfreuliche Nachricht erhielt, war der Meinung, Brunos Darstellung würde dem Satz nicht die nötige Tragik verleihen. Bruno wäre so manches zu der stümperhaften Darstellung seines Kollegen eingefallen, aber er wollte keinen Ärger. Er war mittlerweile zu alt, um sich auf diese Art Diskussionen einzulassen und so würde er die Szene auch heute Abend in einer Art Kompromiss spielen, mit dem er ohne Weiteres leben konnte. Es würde Klostermann natürlich nicht gefallen. Es würde wieder eine Zurechtweisung geben.
Bruno musste er an den heutigen Tag denken. Er hätte auch an die gesamten letzten zwei Monate denken können, aber es war genau das, was heute passiert war.
Er war wie immer einer der Ersten im Theater und das, obwohl es noch gute zwei Stunden bis zum ersten Vorhang und mindestens vier bis zu seinem ersten Auftritt dauerte. Er brauchte diesen Vorlauf, um die Atmosphäre der Bühne und des Theaters aufzunehmen. Während er mit verschränkten Armen langsam über die Bühne wanderte, kam einer der Techniker auf ihn zugelaufen.
„He, wie sind Sie hier reingekommen? Sie können hier nicht bleiben.“
Bruno kannte den Mann nicht. Er schien neu zu sein.
„Lass´ mal, der Alte spielt bei dem Stück mit. Hat so ´ne kleine Rolle“, rief ein anderer Techniker, der gerade einen Scheinwerfer wechselte und nickte Bruno zu als wolle er sagen: „Keine Ursache, gern geschehen.“
Eine Stunde später saß Bruno zusammen mit dem Hofstaat in der Garderobe, um sich zu schminken, als die Tür ohne Klopfen aufflog und Klostermann in vollem Kostüm eintrat.
„O. K., Bruno, lass uns das noch mal durchgehen. Also ich, der König, frage dich, den Offizier: ‚Wie steht es um die Königin?‘ Und du antwortest mit der gesamten Tragik, die dir nach all den Jahren auf der Bühne geblieben ist ...“
Bruno, der gerade dabei war, mit Spiegelbild und Stift graue Augenbrauen wieder in schwarze zu verwandeln, merkte wie Klostermann ihn mit gespielter Erwartung ansah. Nach einer extra langen Pause antwortete er gelangweilt: „Die Königin, Herr, ist tot.“
„Ich sehe schon, Bruno. Du bist eben zu lange dabei, um noch etwas Neues zu lernen. Wahrscheinlich bist du froh, dass dir die paar Worte, die du aufzusagen hast, nicht auch noch verloren gehen. Reiß dich wenigstens heute Abend zusammen.“ Klostermann gab sich keine Mühe, die ausgefahrenen Ohren der übrigen Schauspieler in der Garderobe mit seiner Meinung über Bruno zu verschonen. Einige Zofen kicherten, als er demonstrativ seinen falschen Hermelin-Mantel dicht vor Brunos Gesicht zurückwarf und majestätisch den Raum verließ. Bruno fand, er war schon zu sehr in seiner Rolle.
Fertig geschminkt und kostümiert wartete Bruno dann hinter der Bühne auf den Beginn der Vorstellung, als der Regisseur ihn zur Seite nahm.
„Hör mal, Bruno. Ich habe eben noch mal mit Klostermann geredet und er macht sich wirklich Sorgen wegen deiner Szene. Ich weiß, du hast das schon oft gespielt, aber er und ich wir haben da unsere ganz bestimmten Vorstellungen. Wir wollen doch alle das Beste für das Stück. Du doch auch. Ich kann den Klostermann ja auch ein bisschen verstehen“, fuhr der Regisseur fort. „Er hat nun mal eine Vision für die Szene. Und die will er sich von einer Nebenrolle nicht kaputtmachen lassen. Als Vollblutschauspieler verstehst du das doch, oder?“
Bruno fand, er redete mit ihm wie mit einem alten Pferd, das bereits auf dem Hinterhof einer Metzgerei stand. Vollblutschauspieler, Vollbluthengst – wo ist da der Unterschied, wenn beide alt geworden sind?
„Ich lasse mich aber nicht abschlachten“, dachte Bruno jetzt bei sich, während er in seinem schweren Kostüm langsam auf seine Auftrittsposition ging. „Ich habe schon den König in diesem Stück gespielt, da wussten eure Eltern noch nicht mal was voneinander.“ Er merkte, dass irgendwas in ihm vorging. Er konnte es nicht genau beschreiben, aber hatte mehr und mehr das Gefühl, dass es Wut war. „Ihr wollt also das Stück aufpeppen – dann kommt jetzt der Pfeffer!“
Er bekam das Zeichen zum Auftritt.
Sein Stichwort war laut Drehbuch „Weiberschrei hinter den Kulissen.“ Bruno betrat die Bühne. Das Scheinwerferlicht umarmte ihn, sein Pulsschlag wurde normal. So war es seit fast 50 Jahren.
Klostermann überzog die Darstellung des besorgten Königs um einiges. Als er schließlich fragte: „Wie steht es um die Königin?“, antwortete Bruno ohne zu zögern. „Die Königin, Herr, ist wohlauf. Es ging ihr nie besser.“
Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging Bruno von der Bühne ab. Vorbei an den weit aufgerissenen Mündern der Kollegen und des Regisseurs verließ er das Theater.
Das Zuschlagen der Garderobentür war bis in die letzte Zuschauerreihe gut zu hören.
Veilchen im April 2005, Ausgabe 9
Mario Siegesmund