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Der Dieb
ОглавлениеEs klingelt an meiner Tür. Ein Mann mit einer Tasche steht draußen, der von seiner Kleidung her einen etwas altmodischen Eindruck macht.
„Guten Tag“, sagt er. „Ich bin Herr Frei, ein Dieb.“
Es folgt ein warmer Händedruck.
„Ist bei Ihnen momentan jemand zu Hause?“
Ich verneine und bitte ihn herein, worauf er sich sehr höflich bedankt.
„Setzen Sie sich doch erst einmal“, sage ich und biete ihm einen Tee an. Herr Frei setzt sich, stellt seine Tasche ab und nimmt den Tee. Er lässt seine Blicke schweifen.
„Bestimmt möchten Sie meine Wohnung inspizieren?“, sage ich.
„Selbstverständlich“, betont Herr Frei.
„Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie mir sagen, wonach Sie genau suchen?“
„Nun“, sagt er, „die Sache ist ein wenig delikat. Ich suche in erster Linie – Walderdbeeren.“
„Oh“, sage ich, „damit kann ich ausnahmsweise nicht dienen.“
„In zweiter Linie suche ich Zahnstocher.“
„Da sind Sie hier richtig“, antworte ich und biete ihm an, selbst nach ihnen zu suchen.
Mit Könnergriff öffnet er so gut wie lautlos einige Schubladen und Regaltüren in der Küche und wird nach nicht einer Minute schon fündig. Er öffnet die kleine Schachtel, nimmt sich drei heraus, verschließt das Behältnis wieder und stellt es an Ort und Stelle zurück.
„Wissen Sie“, sagt Herr Frei und setzt sich wieder, „am köstlichsten sind Walderdbeeren dann, wenn man sie von der Spitze eines Zahnstochers verspeist.“
Aus seiner Tasche holt er beschwingt ein weißes Tuch, das er auffaltet und vor sich legt, danach eine kleine Tüte, in die er mit einem der Zahnstocher hineinsticht. Er zieht daraus eine große Erdbeere hervor. Diese legt er, elegant am Stäbchen gefasst, auf das kleine Tuch. Nach kurzer Zeit liegen drei aufgespießte Erdbeeren vor ihm.
„Notration!“, sagt er.
„Verstehe“, sage ich.
Nachdem er die drei Erdbeeren genüsslich verspeist hat, dreht er jeden Zahnstocher um und spießt zu meinem Erstaunen drei weitere Erdbeeren auf. Diese legt er auf sein Tüchlein, das er zu mir herüberschiebt. „Bitte“, sagt er, „kosten Sie einmal!“
Ich zögere ein wenig, doch dann nehme ich eine, dann eine zweite und zuletzt die dritte.
„Köstlich!“, sage ich und lecke mir die Lippen. Durch das Fenster sehe ich den Himmel strahlen.
„Ich suche manchmal Plätze zum Beten“, sagt Herr Frei überraschend in die entstandene Ruhe hinein. „Am besten sind leere Wohnungen für ein Gebet.“ Er steht auf und geht im Zimmer umher. Ich nehme meinen Schlüssel und verlasse leise die Wohnung, um Herrn Frei nicht zu stören.
Als ich zurückkomme, ist er verschwunden, ebenso das Tüchlein und die Zahnstocher. Alles ist wie vorher. Sogar sein Gebet hat er mitgenommen.
Veilchen im Oktober 2004, Ausgabe 7
Armin Steigenberger