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Zeitlos
ОглавлениеDer Vormittag des 29. Februar 1997 war ein sehr sonderbarer. In der Nacht davor sollen Nordlichter sowie eine Sternschnuppe zu sehen gewesen sein. Manch einer aber bringt diese Himmelszeichen mit den eigenartigen Vorkommnissen des letzten Februartags in Verbindung.
Gegen drei Uhr morgens wachte ich ohne erkennbaren Grund auf. Ich ging, obwohl sehr müde, und ohne dass ich recht wusste, warum, ins Wohnzimmer, wo ich Licht machte. Eben in dem Moment raschelte die Zimmerpflanze mit den langen grünen Blättern, die wie ein kleiner Palmenbaum aussah, und die in der linken Ecke neben dem Kamin aus ihrem Topf wuchs. Wahrscheinlich hatte sie jemand im Laufe des Tages berührt, und erst jetzt lösten sich die länglichen gewellten Blätter voneinander, durch das schwache Pulsieren pflanzlicher Säfte in leichteste Bewegung gebracht. Mir war, als sei ich nur dafür ins Wohnzimmer gekommen, um Zeuge dieses beinahe lächerlichen floristischen Spektakels zu sein.
Nach dieser seltsamen Episode schlief ich wieder ein, nur um mehrere Stunden später erneut aufzuwachen. Doch die Uhr zeigte mir, dass nur fünfzehn Minuten verstrichen waren. Als ich schließlich zum dritten Mal aufwachte, war es noch immer viertel nach drei. Das fand ich merkwürdig, zumal Tageslicht durch die Rollläden schien. Ich dachte, meine Uhr sei stehengeblieben und öffnete die Jalousien. Doch nachdem ich das getan hatte, sah ich, dass die anderen Uhren meines Zimmers – ich besitze drei Stück, da ich in zeitlichen Dingen immer recht verschwenderisch gewesen bin – ebenfalls 3:15 zeigten.
Was sollte ich davon halten? Ich wusch mich, zog mich an, rasierte mich und ging in die Küche, um Frühstück zuzubereiten. – Aber siehe, auf der Küchenuhr dieselbe Nachtzeit! Ebenso auf der Standuhr im Flur, der Uhr im Wohnzimmer, im Gästezimmer. Mir war inzwischen etwas unheimlich, und ich rannte in all diese Räume, um die dort befindlichen Zeitmesser zu vergleichen. Ich fand es sehr merkwürdig, dass alle Chronographen meiner Wohnung – um ein anderes Wort für ‚Uhr‘ zu verwenden – zur selben Zeit stehengeblieben sein sollten – sogar die namhafter Hersteller.
Freilich hätte ich neben der Lösung des Rätsels gerne gewusst, wieviel Uhr es denn im Augenblick wirklich war, denn ich hatte Termine einzuhalten. Das Wetter, diese trübe Helligkeit da draußen, konnte keinen Aufschluss darüber geben. Wann stand ich denn gewöhnlicherweise auf? Zwischen sieben und acht, also war es mit etwas Glück noch früh. Allerdings pflege ich nach einer unruhigen Nacht am nächsten Morgen ohne Wecker länger zu schlafen. –
Eben dann läutete das Telefon. Verwandtschaft aus Süddeutschland, ältere Verwandtschaft, wollte genau das von mir wissen: Ob ich ihnen die Uhrzeit sagen könne? Sie entschuldigten sich vielmals für die dumme Frage, die eigentlich keines Anrufs wert sei. Aber neben allen anderen Uhren sei auch der von Braunschweig aus gesteuerte Funkwecker um viertel nach drei stehengeblieben, und die Zeitung habe man auch noch nicht ausgetragen.
Ich riet ihnen, sich nach dem Frühstück mit den Nachbarn zu verständigen und auch zum Rathaus oder zur Polizei zu gehen, denn diese Störung schien sich nicht auf das Taunusdorf zu beschränken, in dem ich wohnte, sondern sich auf einen beachtlichen Teil des Bundesgebietes auszudehnen.
Darauf rief ich einen Freund in Düsseldorf und einen früheren Kommilitonen in Tübingen an, welche mir dasselbe mysteriöse Problem beschrieben: Auch ihre Uhren, ob batteriebetrieben, digital, sonnen-, funkgesteuert, ja sogar die mit solidem handwerklichem Uhrwerk waren um 3:15 stehengeblieben.
Ich dachte mir etwas, was sich wohl in den Köpfen aller Bundesbürger von Schleswig bis nach Garmisch eingeschlichen hatte. Diesen einen gleichen Gedanken in allen deutschen Köpfen – gleich ob Ost, ob West – hatte es wohl seit 1990 nicht mehr gegeben, nachdem die erste Euphorie über die Wiedervereinigung verflogen war: „Ja, was nun?“
Wie sollte unsere mit so viel präziser und fortschrittlichster Technologie sorgfältig errichtete Welt funktionieren, wenn die Zeit stehenblieb? Wie der Journalismus, das Fernsehen, wie internationale Verhältnisse, wie der Tagesablauf? Sollte dieser letztere allein durch die menschlichen Urempfindungen Hunger und Schlaf bestimmt werden, und sich somit die Sehnsucht des modernen Menschen nach ursprünglicher, primitiver Natürlichkeit erfüllen? Einen Stromausfall, auch einen großen, kann man kurieren – aber die Zeit?
Ich für meinen Teil hatte auch nach dem bescheidenen Frühstück noch Hunger – wahrscheinlich äußerte sich die Unsicherheit, die Angst über diese ungewöhnliche Situation auf diese Weise. So beschloss ich, das Lebensmittelgeschäft an der Ecke Pionierweg-Landwehrallee aufzusuchen. In leichtem Nebel lagen die hohen Tannen der Straße, und ähnlich diesen waren meine Gedanken auch ziemlich schleierhaft, als ich den Bürgersteig entlanglief. Kein Auto fuhr auf der Straße, auch nicht über die Kreuzung, an welcher der Laden stand. Es war ein sonderbares, sonntägliches Gefühl, aber so recht wohl war mir nicht dabei.
Die Ampeln schalteten, ohne dass Passanten irgendwo zu sehen gewesen wären. Manche Jalousien waren noch nicht hochgezogen, und weiter hinten, wo ich wusste, dass die Landwehrallee einspurig wurde und in einem Kreisel vor dem Stadtpark endete, verlor sie sich in grauem Dunst.
Das Geschäft war geschlossen, und ich trat den Heimweg an, auf dem mir wieder kein Mensch begegnete.
Wann wird man der Bevölkerung Meldungen machen, fragte ich mich, und welche Behörden, welches Ministerium wird es sein? Gibt es etwa Krieg – einen modernen, heimtückischen, leisen Krieg, von dem man zunächst nicht das Geringste spürt, bevor plötzlich ein biologischer oder elektronischer Totalschlag gegen den Feind ausgeführt wird? Aber das in Europa, in der so einträchtig funktionierenden Europäischen Union? Ein Krieg, redete ich mir mit meinem angeborenen Optimismus ein, war doch eher unwahrscheinlich.
Wären nur die Funkuhren betroffen, könnte man auf einen Defekt in Braunschweig schließen. Aber dass so viele unterschiedliche, voneinander völlig unabhängig tickende Apparate zeitgleich den Atem anhalten und die Welt in eine zeitlose Schwebe bannen sollten, das war doch unheimlich. Ich konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie es sein konnte, dass gerade auch die nicht-elektronischen, die mechanischen Uhren stehengeblieben waren.
Ich fasste den Entschluss, bei ausgewählten Nachbarn zu klopfen, einfach um in der Krise menschliche Solidarität zu spüren und um etwas von der Redseligkeit, die ‚im gleichen Boot Sitzende‘ in Ausnahmesituationen an den Tag legen, zu profitieren. Dann würde ich zur Polizei fahren, so unwohl mir auch dabei sein würde, der einzige Fahrer auf den nebligen Straßen zu sein. Danach – ja danach hätte ich unter den gegebenen Umständen mein Möglichstes getan und meine Bürgerpflicht erfüllt; ich würde dann ein Buch zur Hand nehmen und darauf warten, dass mich jemand anruft, um zu erklären, was passiert ist.
Ich hatte die Nachbarn schon vergessen und schloss die Haustür in der Vorfreude auf, mich in ein Buch, welches ich schon längere Zeit zu lesen vorgehabt hatte, zu vertiefen – etwas über das Leben einer Josephine Mutzenbacher. Doch was zeigte die unheilvolle Standuhr im Flur? 3:32, und der Sekundenzeiger tickte. Der Zeitstrom floss erneut, und eine offizielle Zeitansage wurde später am Tage durch das Radio gemacht.
So hatte die Börse, Politik, jeder für sich persönlich wieder eine einheitliche Uhrzeit, von der ausgehend man mit gerade dem weitermachen konnte, was man die Tage davor auch schon getan hatte. Doch ich fand es, um ehrlich zu sein, ohne Zeit gar nicht so schlecht. Und genau wie viele Stunden, Minuten und Sekunden an jenem 29. Februar verlorengegangen sind, weiß bis heute niemand.
Veilchen im Januar 2009, Ausgabe 24
Max Haberich