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Aus dem Tagebuch meiner Enkeltochter Eva-Lotta – Wie das Arbeitsamt meiner Mutter Hippi einen Job verschaffte – ein modernes deutsches Märchen aus einem teutschen Arbeitsamte nach einer wahren Begebenheit

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Es konnte immer mal passieren, dass jeder in der Familie ab und zu fix und fertig war, besonders wenn es Mama Hippi betraf, und Papa Malte daraufhin in seiner plastischen, bildhaften Sprache uns anhielt, im Leben immer fleißig zu lernen und zu arbeiten wie Mutter Hippi, die augenblicklich arbeitslos zu Hause rumhockte und alle nervte, weil ihr das viele Arbeiten und Lernen im Leben als Überqualifizierte bisher in diesem Staate nichts einbrachte. Und wenn ihr die Leute im Hause begegneten, die noch eine Arbeit hatten, in diesem Lande, in dem das Recht auf Arbeit als Menschenrecht gilt, schaute sie immer auf die andere Seite der Treppe, auf der sie zwar nichts sah, aber trotzdem hinschaute, so lange bis die Arme abstarben und die Beine zitterten.

Das Arbeitsamt hat also einen Sieg über Mama Hippi errungen und sie arbeitslos gemacht. So wurde sie in die minderwertige, gedankenlos-leichtfertige Masse geworfen, und ihr geistiges Niveau ließ laufend nach, wie wir merkten. Unsere Erneuerungsbewegung an und bei ihr in Form von Hausaufgabenbetreuung war zwecklos. Denn ohne Arbeit sein bedeutet – wie unser Sozialkundelehrer sagte – die unvermeidliche Fixierung des geistigen Niveaus auf der niedrigsten zur Existenz nötigen Stufe.

Wenn wir mit Mama Hippi im Arbeitsamtflur wie im Fernsehen in der ersten Reihe sitzen und auf Arbeit für Mama warten, wenn die Arbeitsamtsmitarbeiter sich errötend und ungelenk verbeugen mit der Kaffeetasse in der Hand, bevor sie ihr Werk mit Mutter Hippi beginnen, was höchst langsam oder gar nicht vorwärts geht, weil dort zu viele Mitarbeiter sitzen oder stehen oder gehen, dann ist ‚Scheiße’ nur der normale Ausdruck unserer Missbilligung. Bei dieser Gelegenheit fragt Mama Hippi, die dann auf uns Kinder zeigt, ob sie nicht mal drankommen könne. Jedes Mal sagt dann das Männchen mit dem unerfüllten Sehnsuchtsgesicht, dass es heute nicht so schnell gehe. Aber dann versetzt er Mama Hippi doch in eine Traum- und Rauschwelt, weil er sagt, sie solle in ein paar Tagen ein Wunder erwarten.

Aber bevor sie das Wunder erleben darf, muss sie immer ihr ganzes Drum und Dran auf diesem Amte vorzeigen, was sie so als brave Bäckersfrau vorzuzeigen hat, und das ist oben herum nicht wenig. Anders sah das auf dem Sklavenmarkt des alten Roms auch nicht aus. Und zufrieden schaut das Männchen an ihr herum, sagt dann aber, dass Bäcker zurzeit nicht gebraucht werden. Da meint Mutter Hippi, gut, ich bin auch bereit, was anderes zu machen, zum Beispiel für meine Kinder gut zu kochen, worauf wir uns bei diesem Satz besonders über das Wort ‚gut’ freuen und das Mittagessen gar nicht mehr erwarten können. Bei diesem Satz verstummen wir Kinder also und sehen sehr ernst auf Mama Hippi und auf den Arbeitsmenschen, der uns nicht kennt; das macht aber nichts, denn hier sind wir ja keine Menschen, sondern bloß Nummern, und deshalb danken wir jetzt schon Mutter Hippi für das gute Essen nummernbewegt. (Leider hat die Geschichte aber einen Haken: Wenn das Essen schmeckt, kocht immer Oma Regula.) Da aber fährt dieser Arbeitsberater erschrocken zurück, sieht wieder uns Kinder an und denkt sich seinen Teil, denn wir sehen mal wieder wohlgenährt aus, nicht wie Hartz-IV-Kinder auszusehen haben. Endlich sagt er, dass er vielleicht doch etwas habe, aber das müsse er sich erst noch überlegen.

Dann ging es Schlag auf Schlag, denn das Überlegen dauerte nur ein halbes Jahr. In dieser Zeit hielt sich Mama Hippi mit Schwarzarbeiten zu Hause über Wasser wie Staub wischen, Teller abwaschen, Kartoffeln schälen, Kinder erziehen und Betten machen. Schließlich konnte sie sich zu Hause vor lauter Schwarzarbeit gar nicht mehr retten.

Doch das Allerschönste: Vom Amt bekam sie einen Brief. Gleich machte sie sich ans Lesen, schrie aber auf und stand mit einem Male vor dem bis auf den Boden reichenden Spiegel und musterte ihre bäckerlich abgerundete Mädchengestalt. Wir sollten gefälligst ihren Leib beschauen, befahl sie eindringlich. Wir taten ihr den Gefallen, ihren massiven Körper zu begucken, der unruhig vor dem großen Spiegel wiegte.

Zur Bundeskanzlerin würde dieser Leib reichen, sagte Papa Malte spitzig. Denn mit diesem Posten erreicht ein solcher mütterlicher Leib eine große Popularität. Wer mit so einem Leib durch die Gegend rennt, wirbelt immer viel Staub hinter sich auf.

Hoffentlich liest sie nun endlich mal den Brief vom Arbeitsamt vor und sieht nicht immer so schief auf ihren Körper, rumorte Opa. Aber Oma Regula sagte gleich, dass man einen Amtsbrief mit Bedacht erwartet und liest, und ihre Tochter solle endlich mal sagen, was drin steht! Dann schälte sie weiter Kartoffeln, denn sie machte gerade einen guten deutschen Eintopf.

Mama Hippi begann vorzulesen – sie freuen sich, mir eine Beschäftigungsmöglichkeit vorschlagen zu können. Bruder Friedbert dachte sofort an die Erhöhung seines Taschengeldes. Fotomodell soll sie machen, das heißt, wenn jemand kommt, soll sie sich diesem sofort anbieten! Für Aktfotos, und als Lohn und Gehalt kriegt sie 20 Euro. Ob denn das wirklich drin steht im Amtsbrief der Bundesregierung, wollte Oma Regula wissen, der gleich der Schweiß auf der Stirn stand.

Ich saß auf meinem Stuhl und suchte schon die Seite in der BRAVO heraus, auf der Mutter Hippis Leib mit Kurven gedruckt werden sollte, gleich zwischen Britney und Paris!

Und gleich morgen solle sie sich beim Nacktfotografen angezogen vorstellen. Es dauerte lange, bis Mutter Hippis Schock zu Ende war und sie auf einen Stuhl fiel, der unter ihrem Gewicht knarrte. Selbst das Bild im Fernsehen flackerte. Dann rannte sie wieder vor dem Spiegel hin und her. Sie würde gleich das Bewusstsein und die Menschenwürde verlieren, kreischte sie. Das würde er nicht glauben, sagte Papa Malte und musterte ihren vollen Oberkörper; so verherrlichte er unsere Bäckerin. Dieses Lob von Papa Malte brachte Mama Hippi dazu, wieder vor den Spiegel zu rennen und wie trunken zu behaupten, dass sie für ein Nacktmodell doch viel zu dick sei. Eine Frau mit reiner Weste brauche sich vor keinem Fotografen zu verstecken, säuselte unser Bekenner. Und sie würde höchst interessante Wege betreten, die mit einer Bäckerin nun wirklich nichts gemein haben!

Und was wäre mit ihrer Unschuld? Natürlich wusste zu dieser Unschuld niemand etwas zu sagen, nicht einmal Oma Regula, die ihre Tochter gleich an ihre Trümmerfraubrust heftete, als ob sie ihr ein bisschen Fett wegdrücken wollte, damit sie doch noch als Fotomodell beim Arbeitsamt und vielleicht bei dieser Klum auftreten könnte.

Schade, dass es nicht in allen deutschen Arbeitsämtern solche Jobs gibt. Aber wer kennt schon die Bewegungsgesetze dieser Ämter, die immer so tun als hätten sie richtige Berufe zu vergeben, nur solche, die die Menschenrechte fördern, zum Beispiel Straßenfeger oder Schornsteinfeger in ihrer Kluft – wie sollte denn Mama Hippi in ihrer Nacktmodellkluft auf der Straße aussehen! Obwohl, bei dieser Klum sagte mal einer: Nacktmodell am Abend – erquickend und labend!

Trotzdem können wir dieses Land noch einigermaßen gut ertragen, und Opa und Papa Malte müssen nicht gleich zum Arbeitsminister nach Berlin fahren, zu diesem Scholze oder wie das Ding heißt, und sich dort über die Behandlung dicklicher deutscher mittelalterlicher Bäckersfrauen und Mütter beschweren und ihm Mutter Hippis körperliche Breite vorführen, damit die Bundeselse Frau Merkel weiter sagen kann, dass die Arbeitslosigkeit verschwindet und der Aufschwung bei Mutter Hippi endlich angekommen ist.

Wir sind ja schließlich keine Schovinisten, und manchmal bestimmt nämlich auch die Art der Geschichte ihren Menschenrechtsstandort!

Veilchen im Oktober 2008, Ausgabe 23

Holger Hartenstein

Veilchen-Anthologie Band 2

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