Читать книгу ROCK IM WALD - Ein Norbert-Roman - Andrea Reichart - Страница 16
Kapitel 11
ОглавлениеWenn der Anlass nicht so entsetzlich gewesen wäre, sie hätte die Fahrt beinahe genießen können. Die Landschaft war wirklich wunderschön, die Nachmittagssonne, die zwischen dichten Wolken immer wieder hervorblitzte, ließ die grünen, dicht bewaldeten Hügel wie gemalt erscheinen.
Mit einem Seufzer zwang sich Catrin, all ihre Aufmerksamkeit dem Verkehr zu widmen. Ihr Navi führte sie über kurvenreiche Straßen durch Ortschaften, die noch viel kleiner waren als die, in der sie lebte. Meine Güte, wer zog denn hier freiwillig hin? Sicher nur radikale Aussteiger, die von selbstgeerntetem Gemüse träumten.
Inzwischen fuhr sie längst nicht mehr so schnell, wie es vielleicht erlaubt gewesen wäre, sondern versuchte, links und rechts der Fahrbahn Ausschau zu halten nach einem schwarz-braunen Hund mit weißer Blässe auf der Brust. Konnte es sein, dass Diva hier in der Nähe umherirrte?
Die Straße, auf der Catrin nun schon seit einigen Kilometern fuhr, führte relativ steil bergauf. Sobald sie oben auf der Kuppe angekommen war, suchte sie einen Platz, an dem sie anhalten konnte. Ihr Navi sagte ihr, dass sie bald am Unfallort sein musste. Wenn Diva lebend aus dem Wrack entkommen und nicht zu schwer verletzt war, dann war nicht auszuschließen, dass sie sie von hier oben aus vielleicht sehen konnte.
Ihr Handy ignorierte sie. Sie hatte es so eingestellt, dass jede Nachricht, die über Facebook kam, nun mit einem Signal angekündigt wurde, aber das war keine gute Idee gewesen. Als sie von der Autobahn fuhr, hatte sie zum ersten Mal angehalten und die Nachrichten gelesen. Es konnte ja sein, dass jemand Diva bereits entdeckt hatte. Dann begriff sie jedoch, dass sie sich mit ihrem Hilfeschrei keinen Gefallen getan hatte. Ihre Fans waren vollkommen außer sich, ihre Seite wurde mit gut gemeinten aber belanglosen Postings überflutet.
„Wir lieben dich und sind bei dir!“
„Hier, ein Schutzengel für die liebe Fellnase!“
„Wir drücken dir so die Daumen!“
„Wie kann ich helfen?“
„Oh, du Arme! Ich sende dir alle Kraft, die ich habe!“
So ging es weiter und weiter. Hundertfach. Tausendfach. Unmöglich, aus all den Nachrichten vielleicht die eine herauszufiltern, die helfen konnte! Verdammt! Und wie oft ihr Aufruf geteilt worden war! Mehr als vierzig Mal!
Inzwischen ignorierte sie das ständige Klingeln.
Langsam drehte sich Catrin um die eigene Achse und ließ den Blick schweifen. Wälder, Wälder und noch mal Wälder, die bergauf und bergab nahtlos ineinander überzugehen schienen. Buchstäblich. Soweit das Auge reichte.
Eine bodenlose Verzweiflung wallte in ihr auf. Angesichts der endlosen Weite, in der ihre schwangere Hündin verlorengegangen war, überfiel sie tiefste Mutlosigkeit. Wie in Gottes Namen sollte sie, sollte überhaupt irgendjemand in diesem Meer aus endlosen Verstecken Diva finden?
Catrin lehnte sich an ihren Wagen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Wenn Diva verletzt war und sich irgendwo in ein dichtes Gestrüpp zurückgezogen hatte, um sich die Wunden zu lecken, dann würden hundert, nein, tausend Menschen sie hier nicht aufspüren. Niemals! Und was, wenn der Schock des Unfalls die Wehen ausgelöst hatte?
Diese endlosen Felder! Erst jetzt fiel ihr auf, dass auf den Äckern dort unten im Tal die Hölle los war. Es wurde gemäht oder geerntet oder weiß der Geier was gemacht – und zwar mit riesigen Maschinen. Oh nein! Sie hatte schon so viel darüber gelesen, wie viele Kitze Jahr für Jahr starben, weil sie von den Mähdreschern gehäckselt wurden! Junge Rehe, oft erst wenige Tage alt, die ihre Mütter in dem Glauben, im hohen Gras seien sie in Sicherheit, dort ablegten, während sie Futter suchten.
Diva war zwar kein Rehkitz, aber sie war sicher völlig verwirrt und verängstigt. Unter Garantie spazierte sie nicht an einer Landstraße entlang, wenn sie überhaupt noch laufen konnte, sondern hatte sich versteckt. In einem der Wälder oder in einem der Felder. Beides wäre ihr Todesurteil.
Was sollte sie bloß tun?
Catrin stieg wieder in ihren Wagen, obwohl ihr das völlig verrückt vorkam. Wenn sie jetzt zur Unfallstelle fuhr, dann war sie an dem Ort, zu dem Diva niemals zurückkehren würde. Nicht nach dem Schock. Wie sollte sie bloß ihre Spur finden? In welche Richtung war sie gelaufen? Die Rettungskräfte hatten nicht einmal einen Hund am Unfallort gesehen und die waren sicher nur wenige Minuten nach dem Crash dort erschienen. Da war Diva wahrscheinlich schon weiß Gott wo!
Vielleicht hatte sich über Facebook längst jemand gemeldet, der hier in der Nähe wohnte und vielleicht sogar einen Hund hatte, der auf das Suchen anderer Hunde spezialisiert war? Catrin wusste, dass es solche Leute gab, und dass Suchhunde tolle Dinge hinbekamen, jedenfalls mit Menschen. Aber sie wusste auch, dass es viele Schwätzer gab, die sich zwar damit brüsteten, einen Suchhund an der Leine zu führen, vor Ort aber dann mehr Schaden anrichteten, als dass sie halfen. Erst letztens hatte sie irgendwo gelesen, wie so eine angebliche Suchhundestaffel einen entlaufenen Rüden verfolgte, bis dieser in seiner Not auf eine Autobahn rannte, wo er nach wenigen Sekunden überfahren wurde.
Und sie hatte den Leuten auch noch genau gesagt, wo sie hin sollten! Ihr wurde siedend heiß bei dem Gedanken, was alles schon an sicher gut gemeinten Aktionen angelaufen war und was sie jetzt nicht mehr bremsen konnte, weil sie einfach keine Zeit hatte, sich einzuloggen und das zu steuern. Nein, sie musste zum Unfallort, so schnell wie möglich. Vor allem aber musste sie vor irgendwelchen Helfern dort eintreffen. Ach, hätte sie doch eben nur mal kurz überlegt und nicht schon wieder so impulsiv gehandelt! Würde sie das denn nie lernen?
Sie startete den Wagen und nahm die Fahrt wieder auf, überließ es dem Navi, Entscheidungen für sie zu treffen, und zermarterte sich das Hirn. Verdammt, wen kannte sie hier? Außer Norbert niemanden und den hatte sie ja bereits informiert. Es musste doch noch jemanden geben, sie hatte doch erst letztens noch …
Die Vollbremsung, die sie machte, ließ ihren Wagen ausbrechen, nur mit Mühe konnte Catrin ihn abfangen.
Sie kannte jemanden, der hier lebte. Jemanden, der ihr seinen Vorrat an Papiertaschentüchern überlassen hatte, als ihr die Tränen kamen. Jemanden, der ihr mit leiser Stimme einen Kaffee gebracht und dann kilometerweit mit ihr geschwiegen hatte. Jemanden, dem sie zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder eine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte, weil etwas in ihr hoffte, ihn wiederzusehen. Irgendwann.
Und der ihr seine gegeben hatte, ehe er aus ihrem Leben verschwand.