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Kapitel 3

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Wie vermutet fuhr um diese Zeit noch kein ICE oder EC Richtung Dortmund und so stellte Catrin ihr Gepäck neben einen der gemütlichen Lounge-Sessel und ging zur Servicestation, um sich einen Espresso zu holen.

Außer ihr nutzten nur wenige Passagiere die Lounge: ein älteres Ehepaar, das sich am Fenster in einen großformatigen Prospekt vertiefte, ein junger Inder, der zu schlafen schien, und ein Typ im Hugo Boss Anzug, der sich gerade erhob und den Raum verließ. Catrin nahm ihren Espresso und begab sich zurück zu ihrem Platz.

Die ältere Dame blickte auf und warf ihr einen freundlichen Blick zu. Catrin lächelte ihr Ich-bin-erfolgreich-Lächeln, auch wenn sie sich gerade fühlte wie jemand, der heimatlos geworden war. Ganz verkehrt war das schließlich nicht. Sie durfte nun keinen Fehler machen, was die Planung ihres zukünftigen Lebens betraf. Des Lebens, das sie sich neu aufbauen musste. Für sich, für Diva und für deren Babys, die irgendwann Ende der Woche geboren werden würden.

Diva und sie hatten einander gesucht und gefunden. Beide waren sie so einsam gewesen, als sie einander begegneten. Die junge Hündin, der traurigste Welpe, der ihr je unter die Augen gekommen war, und sie selbst noch unter ihrer Fehlgeburt leidend. Sie hatte es genau gesehen, das irritierte Aufmerken im Blick des jungen Tieres, als ihre Freundin Linda ihr den Welpen in den Arm drückte.

„Die anderen sind alle weg, diese hier wollte niemand haben“, sagte Linda und klang entsetzlich erschöpft.

„Warum nicht?“, fragte Catrin fassungslos und drückte das braunschwarze Fellknäuel an ihre Brust.

„Keine Ahnung“, meinte Linda. „Vielleicht, weil sie so zurückhaltend und still ist? Die Leute sagten, sie wirkt apathisch.“ Linda schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn. Sie ist nur etwas vorsichtiger, wenn du mich fragst.“

Catrin verkniff sich ihren Kommentar. Traurig traf es sicher eher. Oder resigniert. Der Mutter entrissen, weit vor der Zeit, weil Linda einfach nicht mehr konnte. Weil das Aufziehen der Welpen mehr Kraft forderte, als ihr anstrengender Vollzeitjob ihr ließ.

Catrin führte den Espresso an ihren Mund und verbrannte sich die Lippen, was sie zurück ins Hier und Jetzt riss. Verdammt! Sie blies so lange in die kleine Tasse, bis das dunkle Gebräu Trinktemperatur erreichte, dann trank sie es in einem Zug aus. Das sollte reichen, sie noch ein wenig wachzuhalten, bis der Zug ging.

Die Tür öffnete sich und der Anzugträger kam zurück.

Männer wie er ließen Catrins Fantasie Kapriolen schlagen. In Sekundenschnelle füllte sich der Raum mit imaginären Romanfiguren, eine verwegener als die andere. Sie konnte ihren Blick kaum von dem großen, kräftig gebauten Fremden mit dem dichten dunklen Haar und dem attraktiven und gut gepflegten Dreitagebart reißen. Playboy, tippte sie. Verwegen. Herzensbrecher. Sicher steinreich.

Langsam schlenderte der mutmaßliche Multimillionär zu einem Platz ihr genau gegenüber und setzte sich.

Ein unauffälliger Rucksack neben seinem Sessel ließ sie die Stirn runzeln. Seit wann reisten Männer wie dieser mit Rucksäcken?

Sie setzte sich ein wenig auf und sah genauer hin, als er eine Zeitung ergriff und sich dahinter verbarg. Seine Hände waren gewaltig und wirkten, wenn sie sich nicht mächtig täuschte, als könnten sie nicht nur Bäume ausreißen, sondern als würden sie das auch gelegentlich tun. Die Nägel waren sauber, aber seine Finger waren rau, als wären sie Anpacken gewohnt.

In dem Moment, als er die Zeitung ein wenig sinken ließ, um umzublättern, schaute Catrin schnell in eine andere Richtung, aber nicht schnell genug. Der Blick aus leuchtend blauen Augen, der sie für einen winzigen Moment traf, fuhr ihr durch Mark und Bein. Himmel! Alleine für seine Augen benötigte dieser Typ einen Waffenschein.

Reiß dich bloß zusammen, du bist schließlich verheiratet, rief sie sich selbst zur Räson, aber schlau war das nicht, weil mit dem Gedanken an Felix ihre Wut zurückkehrte und ihre Galle drohte, überzulaufen. Na, wenigstens heule ich nicht direkt los, dachte sie erleichtert.

Genervt erhob sie sich und ging zu einer Tür, die auf eine kleine Terrasse führte. Naja, Terrasse war vielleicht zu viel gesagt, eher ein Balkon oder Teil des Fluchtweges. Egal, ein Weg raus aus diesem Raum.

Sie drückte gegen die Glastür, aber der Ausgang schien verschlossen. Mist. Alleine in den Bahnhof hinauszugehen, das erschien ihr doch ein wenig riskant. Frustriert rappelte sie an dem Türgriff.

„Darf ich?“ Die tiefe Stimme hinter ihr fuhr ihr so unter die Haut, dass ihre Hände begannen zu zittern, als sie sie von der eisernen Verriegelung zurückzog.

Mit einem kräftigen Ruck öffnete der Fremde die Tür und hielt sie auf. Wortlos und nur mit einer leichten Kopfbewegung forderte er sie auf, hinauszugehen.

„Komme ich denn nachher wieder rein?“, fragte Catrin unsicher.

„Natürlich.“

Lachte er sie aus oder an?

„Notfalls können uns die beiden dort drüben wieder hereinlassen.“ Er nickte dem älteren Ehepaar zu, das sie aufmerksam beobachtete, und lächelte die beiden an. Die Frau erwiderte sein Lächeln sofort, über das ganze alte Gesicht strahlend, was Catrin nicht im Geringsten überraschte.

Sie schmunzelte. Wahrscheinlich überlegte der konsterniert dreinblickende Ehemann gerade, wann er diese Wirkung auf seine Frau verloren hatte.

„Na gut, dann will ich Ihnen mal vertrauen“, sagte Catrin und ging hinaus. „Danke.“

„Gerne. Rauchen Sie?“

Sie sah, wie sein Blick sie aufmerksam streifte, wie er sie blitzschnell von oben bis unten taxierte.

„Nicht mehr.“ Dass sie während ihrer Schwangerschaft aufgehört und nie wieder mit dem Rauchen begonnen hatte, ging ihn nichts an.

Flackerte etwas wie ein Schatten des Bedauerns über seine Züge? Galt er der Tatsache, dass er nun alleine rauchen musste? Oder, dass sie einen Ehering trug? Schweigend steckte er sich eine Zigarette an.

„Wohin geht die Reise?“, fragte er plötzlich und Catrin erschrak, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass das Gespräch weitergehen könnte.

„Ins Sauerland. Und selbst?“

„Auch.“

Sie legte normalerweise Wert darauf, zu betonen, dass der Ort, in dem sie lebte, streng genommen nicht im Sauerland lag, sondern eher kurz davor. Wenn die Leute Sauerland hörten, dachten die meisten nämlich sofort an Wälder, Wiesen und „Woll?“ Manchmal war ihr das peinlich. Manchmal nicht.

Ihr Gesprächspartner blies gedankenverloren filigrane Rauchkringel in die Nacht. „Ich könnte nicht mehr in der Stadt leben.“

Ach du je, noch so einer, dachte Catrin und seufzte.

Felix und sie hatten jahrelang im Ruhrgebiet gelebt, er arbeitete dort bei einem großen Energiekonzern. Und dann legte einer ihrer Sauerlandurlaube plötzlich einen Hebel in seinem Kopf um. Fortan redete er nur noch davon, aufs Land zu ziehen. Er entwickelte einen regelrechten Hass auf die Großstadt und trug ihn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zur Schau. Bis er schließlich kündigte und sich einen neuen Job suchte, hinter ihrem Rücken.

„Nichts kann man dir recht machen!“, sagte er wütend. „Jede Überraschung machst du einem kaputt.“ Er packte seine Jacke und wollte hinausgehen, an der Tür drehte er sich dann aber noch einmal zu ihr um. „Du kannst deine blöden Schnulzen überall schreiben“, sagte er. „Stell dich also nicht so an!“

Mein Gott, war ich naiv, dachte Catrin bitter.

Hatte sie Felix eigentlich jemals wirklich geliebt? Vermutlich. Nur wann war ihnen die Liebe abhandengekommen? Als sie das Kind verlor und er sie anherrschte, sie solle sich nicht so anstellen?

Catrin fand einen Weg, ihren Schmerz zu überwinden. Sie stürzte sich in die Arbeit, schrieb einen Roman nach dem anderen. Wer glaubte, das Leben halte Liebe pur für einen bereit, der musste sich auf eine Überraschung gefasst machen. Der musste dringend begreifen, dass es die nur in der Fiktion gab. Das richtige Leben war nicht farbenfroh und voller Leidenschaft, es war grau.

Und grausam. Wer eine heile Welt suchte, der musste sie sich erträumen. Dem blieb nichts anderes übrig, als sich die Mühe zu machen, ein Buch aufzuschlagen.

Felix lebte sich im Gegensatz zu ihr schnell in der Dorfgemeinschaft ein. Dort fand er alles, was sein Herz begehrte: seinen heißgeliebten Schützenverein und eine Aufgabe, nämlich die vergammelte feuchte Schützenhalle am See mit seinen Schützenbrüdern zu renovieren, in jeder freien Minute. Und unbeobachtet Sabrina zu bespringen, wann immer ihm danach war.

Für sie, Catrin, war es nicht so einfach gewesen. Heimat war eben mehr als eine Ansammlung von Häusern, die idyllisch lagen.

Nun war es zu spät. Wie sollte sie je wieder diesen Menschen vertrauen, unter denen sie und ihr Mann lebten? Die Felix’ schäbige Affäre mit Sabrina stillschweigend hinnahmen und vermutlich auch deckten?

Catrin spürte, wie ihr nun doch wieder die Tränen in die Augen schossen.

„Ist Ihnen nicht gut?“

Sie fuhr erschrocken zusammen, als sie angesprochen wurde. Mein Gott, sie war so in Gedanken gewesen!

„Geht schon.“ Sie wandte sich um, um wieder in die Lounge zu gehen.

„Bis Dortmund fahren wir offenbar zusammen.“ Der Fremde öffnete ihr die Tür.

„Ja, kann sein“, sagte Catrin leise und wollte hineingehen, als er sie unvermutet am Arm berührte.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn Sie mögen, dann suchen wir uns gleich Plätze, die nebeneinanderliegen. Ich habe das Gefühl, ich sollte ein wenig auf Sie aufpassen.“

Erstaunt blickte Catrin ihn an.

Sie standen so nah beieinander, dass sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen musste, was ein ungewohntes Gefühl war. Felix war nur wenige Zentimeter größer als sie, also ziemlich genau eins achtzig. Der Unbekannte, der sich ihr gerade als Reisebegleiter anbot, war sicher gut eins neunzig.

„Ich weiß nicht …“, stammelte sie.

„Wir Sauerländer müssen zusammenhalten, woll?“, sagte er und betonte das woll? so übertrieben, dass sie lachen musste.

Er blickte auf seine Armbanduhr. „Wir sollten zum Gleis gehen, der Zug müsste gleich einfahren.“

Catrin nickte langsam. Warum eigentlich nicht, dachte sie.

ROCK IM WALD - Ein Norbert-Roman

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