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2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens
ОглавлениеSchulentwicklung und insbesondere Expansionen des Bildungssystems sind meist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann Bildung zu Emanzipation und sozialem Aufstieg bislang unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen sowie zur Verbreitung demokratischer Werte beitragen. Andererseits bilden Schulsysteme die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen ab und verstetigen bestehende Hierarchien. Während sowohl Comenius’ Credo „Alle alles zu lehren“ und auch die Humboldtschen Reformen in Preußen das pädagogische Ziel hatten, durch Bildung die Lebensverhältnisse des Einzelnen zu verbessern, zeigen u.a. Foucaults Analysen (z. B. 1994 [1976]), wie der Ausbau des Schulsystems mit der Schaffung einer Haltung der Gouvernementalität dazu führt, dass aus durch Androhung äußerlicher Züchtigung beherrschten Untertanen durch verinnerlichte Verhaltensimperative sich selbst disziplinierende Bürger*innen werden. Bis in die 1960er Jahre hinein war in den westlichen Industriestaaten außerdem die Unterscheidung zwischen einer elitär-akademischen Gymnasialbildung für wenige und einer grundständigen, auf das Arbeitsleben vorbereitenden Volksschulbildung für die breite Masse zementiert. Gesellschaftliche Hierarchien verstetigten sich schon allein dadurch, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht über die Mittel für einen kostspieligen gymnasialen Bildungsgang ihrer Kinder verfügte. Im Volksschulbereich und auch in den Bildungsinitiativen der Arbeiterbewegung in den industriellen Zentren war Bildung aufgrund der zu bewältigenden Schülerzahlen außerdem stets Frontalunterricht, um mit begrenzten Mitteln möglichst viele Kinder zu erreichen.
Nach im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgebrachten Zweifeln an der bestehenden Schulpraxis, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Phänomene zusammen, die diese Praxis grundlegend kritisierten. Zum einen stellten Pädagog*innen aus unterschiedlichen Richtungen in Frage, dass das auf frontale Instruktion im geistigen Gleichschritt ausgerichtete Schulsystem funktional ist. So kritisiert Dewey (z. B. 2008 [1916]) in seinen bildungstheoretischen Überlegungen, dass das existierende System seiner Aufgabe nicht gerecht werde, die für die Fortentwicklung des Gemeinwesens notwendigen Wissensbestände sowie demokratische Normen und Handlungsweisen angemessen weiterzugeben. Die Reformpädagogik entwickelte daher in dieser Zeit in unterschiedlichen Ländern alternative Schul- und Unterrichtsformen, die unter Nutzung von Konzepten wie Erfahrungslernen, Ganzheitlichkeit oder auch Naturnähe das hauptsächlich autoritär strukturierte Schulwesen ihrer Zeit zu verändern suchten. Zum zweiten lenkten politische Massenbewegungen und die von ihnen entwickelte gesellschaftliche Dynamik, wie die Revolutionen und Systemwechsel nach dem ersten Weltkrieg oder auch der aufziehende Faschismus in Italien oder Deutschland, das Interesse auf das Verhalten von Menschen in Gruppen. Soziologen wie Mannheim (z. B. 1995 [1929]) fragten sich, in welcher Weise die, im Verlauf ihrer Biographie in sozialen Gruppen, von Menschen erworbenen Wissensbestände ihr Handeln beeinflussen. Psychologen wie Allport (1924) untersuchten, wie das situative Handeln von Menschen davon abhängt, ob sie allein sind oder in einer Gruppe agieren. Zum dritten versucht die entstehende Lernforschung zu verstehen, welche Rolle Interaktion als Anlass von Perturbationen zur Auslösung kognitiver Konflikte (z. B. Piaget 1953 [1936]) bzw. als Quelle eines unterstützenden scaffoldings beim kollaborativen Erwerb von Wissen (z. B. Vygotsky 1988 [1934]) spielt.
Es sind die im Anschluss an diese Entwicklungen entstehenden Ansätze der Forschung zur Gruppendynamik (z. B. May/Doob 1937; Deutsch 1949), die erstmals den unterschiedlichen Einfluss kompetitiver und kooperativer Zielstrukturen auf menschliches Handeln herausarbeiten, die als Geburtsstunde des KL, so wie wir es heute kennen, betrachtet werden (vgl. Gillies 2015; Johnson/Johnson 1994). Gillies/Ashman (2003, 5) sehen dieses Interesse in den 1950er Jahren durch eine intensive Hinwendung zum Individuum in der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung abflauen. Erst in den 1970er Jahren sei dieses wieder stärker geworden, weil mehrere Untersuchungen zum peer-tutoring in den USA zeigten, dass die Interaktion von Lernenden miteinander zu erheblichen Lernzuwächsen führen kann. Die im Anschluss daran zahlreich durchgeführten Untersuchungen zu kollaborativen Lernformen sind dann in den 1980er Jahren in mehreren großen Meta-Studien zusammengefasst worden:
The studies and reviews by Johnson et al. (1983), Johnson and Johnson (1985), Slavin (1989) and Sharan (1980) confirm co-operative learning as an effective teaching strategy that can be used to enhance achievement and socialization among students and contribute to enhance achievement towards learning and working with others, including developing a better understanding of children from diverse cultural backgrounds (Gillies/Ashman 2003, 8).
Die Forschung wendet sich in der Folge verstärkt der Frage zu, durch welche Variablen, z. B. Vorwissen oder auch Art und Weise der kooperativen Interaktion die Effekte des KL beeinflusst werden. In Deutschland wird die Diskussion von KL im Anschluss an die erste PISA-Untersuchung enorm intensiviert. Gemeinsam mit Individualisierung als sogenannte „Neue Unterrichtsformen“ – die sie nun wirklich nicht waren (s.o.) – betrachtet und bezeichnet (vgl. Rabenstein/Reh 2007), wurde KL als wirksames Mittel der Unterrichtsentwicklung propagiert und als Herzstück zahlreicher Reformvorhaben implementiert (z. B. Brüning/Saum 2009). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht, für den sowohl praxisorientierte Handbücher (z. B. Wysocki 2010; Grieser-Kindel/Henseler/Möller 2006, 2009), als auch zahlreiche Unterrichtsvorschläge in Aufsatzform (vgl. Kap. 2.3) vorliegen.
Mittlerweile hat sich der Hype gelegt, und selbst dort, wo es beinahe flächendeckend einzuführen versucht wurde, hat es nicht den Anschein, als sei die Schule neu erfunden worden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass auch KL mit grundlegenden Zielkonflikten und Spannungsverhältnissen konfrontiert wird, die für Schule konstitutiv zu sein scheinen. Zugespitzt lassen sich vielleicht folgende drei Positionen ausmachen. (1) Von der gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeit her denkende Ansätze mit einer umfassenden Bildungs- und Demokratieorientierung (z. B. Dewey 2008 [1916]) gehen davon aus, dass die Schule als community jene Werte lebt, durch die Schüler*innen zu partizipationsfähigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft werden. Dies hat sich auch in der strukturfunktionalistischen Schultheorie fortgeschrieben (Fend 2008, 79) und diese Position ist in der Fremdsprachenforschung als emanzipatives Verständnis von Lernerautonomie (z. B. Benson 2001) präsent. Kooperativität zielt darin nicht nur auf eine Optimierung individueller Lernprozesse, sondern auf Emanzipation der Einzelnen und Festigung demokratischer Strukturen des Kollektivs. (2) Auf das Individuum fokussierte Ansätze stellen das lernende Individuum ins Zentrum und fragen nach den dieses individuelle Lernen optimierenden Faktoren ohne dabei die Wirkungen dieser Lernprozesse für die Gesellschaft zu thematisieren. (3) In einer neoliberalen Ausdeutung schließlich werden die neuen Unterrichtsformen als Mittel dazu gesehen, zukünftigen Arbeitnehmer*innen die in einer postindustriellen Wirtschaft notwendigen Schlüsselqualifikationen mit auf den Weg zu geben (vgl. z. B. die kritische Analyse bei Rabenstein 2007). Dadurch sollen die Chancen des Individuums im Kampf um Arbeitsplätze und die Chancen eines Landes im Kampf um Anteile am globalen Wirtschaftsaufkommen optimiert werden. Emanzipation und Demokratieorientierung sind hier nur insofern legitime Ziele, als sie dem Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen dienen.
Dies ist der Stand der Diskussion, auf dem die Darstellung des aktuellen Theorie- und Forschungsstands ansetzt (vgl. Kap. 2.4). Die angedeuteten Spannungsverhältnisse werden sich durch die gesamte Untersuchung ziehen. Sie werden im theoretischen Teil (2.3) vertieft und auch wesentlich in den Perspektiven der Lehrer*innen wiederzufinden sein. Um all dies aber differenziert ausarbeiten zu können, ist zunächst Begriffsarbeit notwendig.