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1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen

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Als erstes sollen aber nun die Lehrer*innen zu Wort kommen. Wie stellt sich der Projektstart aus ihrer Sicht dar? Welche Ziele hatten sie zu Beginn? Was verstanden sie am Anfang unter Kooperativem Lernen? Zuallererst ist das Projekt für sie der Versuch, dem alltäglichen ‚Zirkus‘ ein Ende zu machen. Zirkus aber nicht einfach so, im Sinne der Redensart, alles trubelig und durcheinander. Silke Borg und Yvonne Kuse sind da sehr viel klarer in ihrer Auffassung1: Ihre Auftritte vollziehen sich in zwei verschiedenen Rollen. Vor allem Silke Borg sieht sich oft als „Pausenclown“, der auf der Bühne „herumturnt“, um „Lerninhalte zu vermitteln“. Und beide sind auch im Raubtierkäfig tätig, denn sie sehen sich als „Dompteure“. Das ist insofern schon besser als der Pausenclown, da ein Dompteur wenigstens zum Hauptprogramm gehört und nicht versuchen muss, die Zuschauer*innen zu unterhalten, während sie sich mit Getränken und Popcorn versorgen oder zur Toilette gehen. Aber auch die Dompteurstätigkeit ist extrem anstrengend. In der Manege selbst lauert dauernd die Gefahr, dass ein Raubtier (auch im Rücken des Dompteurs) zum Sprung ansetzt, so dass die Lehrer*innen dauernd unter hoher Anspannung stehen. Zum anderen wollen die Tiere permanent „gefüttert werden“ und machen keine Anstalten, sich selbst um ihr Fressen zu kümmern.

Was genau ist mit diesen Metaphern gemeint? Das Bild des Pausenclowns steht bei beiden Lehrerinnen in Zusammenhang mit einem Gefühl des Ausgesetztseins und der Notwendigkeit, ein Publikum – also die Schüler*innen – dauerhauft begeistern zu müssen. Silke Borg verwendet dazu auch das Bild des „Entertainers“. Dessen Arbeitsplatz ist die „Bühne“ und auf ihn sind die Scheinwerfer des „Rampenlichts“ gerichtet, wodurch er die Menschen im Publikum eigentlich gar nicht einzeln sehen kann. Dieser Aspekt wird bei der näheren Analyse (vgl. Kap. 5) noch zu betrachten sein, denn dieser Effekt wird nicht – wie im Bild des „Entertainers“ impliziert – von außen, sondern eher durch Silke Borgs Unterrichtsbild, und damit von innen, verursacht. Die Aufgabe einer Lehrer*in als „Entertainer“ ist es, die Schüler*innen permanent zu „begeistern“ und „mitzureißen“. Das ist anstrengend, auslaugend und verlangt dauernde Kreativität.

Und der Dompteur? Was hat er mit Unterricht zu tun? Zum einen sehen sich die Lehrer*innen tatsächlich mit Wildheit bis hin zu Gewalt konfrontiert, so wie sie im Bild des Dompteurs mit seinen Raubtieren enthalten sind. Yvonne Kuse beschreibt dazu Situationen, in denen ein Schüler in der Klasse immer wieder „geschlagen, getreten, gespuckt und geschimpft“ hat. Zum anderen drückt sich darin auch eine dauernde Anspannung aus, in der die Lehrer*innen mit einem unkontrollierbaren Ausbruch oder Angriff rechnen. Dies ist das genaue Gegenteil von Autonomie, die ja eigentlich zum Kernbestand professionalisierter Berufe (vgl. Kap. 2.2) gehört. Im Unterricht verlieren Yvonne Kuse und Silke Borg also genau jene Selbstbestimmung, die sie eigentlich für die Ausübung ihres Berufs brauchen.

Und die Schüler*innen? Die haben ihre Autonomie auch verloren. Sie lassen sich mit Lernstoff füttern und verhalten sich weitgehend passiv – von den beschriebenen Einzelausbrüchen abgesehen. Die Metapher des Fütterns ist in Bezug auf die Schüler*innen keinesfalls nur harmlos oder niedlich. Gefüttert werden Babys, Greise und Schwerkranke. Im positiven Sinne ist darin enthalten, dass die Lehrer*innen eine große Verantwortung für Ihre Schützlinge übernehmen, dass sie sich um sie kümmern und sich ihnen zuwenden. Das Bild drückt aber auch aus, dass die Schüler*innen von den Lehrer*innen nicht nur als geistig und körperlich unterlegen gesehen werden, sondern dass sie aus Sicht der Lehrer*innen auch keine Selbständigkeit besitzen. Und das was da verabreicht wird, sind auch keine anspruchsvollen Inhalte, sondern „Informationen“. Es gibt also auch nichts zu kauen, sondern es wird Brei geschluckt: memorieren statt denken.

Bemerkenswert ist dabei, dass anscheinend niemand durch äußere Anweisungen zur Dompteurstätigkeit gezwungen wird. Weit und breit ist kein Zirkusdirektor zu sehen, der zum Peitschenschwingen antreibt. Silke Borg sagt vielmehr, dass sie das „Gefühl [hat] ich muss irgendwie Dompteur sein und immer Input geben“. Der Zirkusdirektor ist also schon vor langer Zeit zum inneren Feind geworden. Innere Notwendigkeit statt äußerer Zwang. All dies wird den Lehrer*innen erst im Projekt ansatzweise bewusst. So führt Silke Borg aus, dass die Fütterhaltung der Schüler*innen ihr im Projekt besonders auffalle. Die in dieser Art von Unterricht enthaltene Verachtung der Schüler*innen karikiert sie in einem fiktiven Lehrerstatement: „So, habt ihr verstanden? Ja? Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht: Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens: Wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit.“

Die von den Lehrer*innen formulierten Einsichten bleiben in gewisser Weise noch äußerlich. Zwar machen Yvonne Kuse und Silke Borg die mögliche Verantwortung der Schule für die Passivität der Schüler*innen explizit. Aber die Einsicht, dass die Schule sich ihre Raubtiere, Dompteure und Pausenclowns selbst macht, wirft natürlich die Frage auf, wie das genau vonstatten geht und welche Rolle Silke Borg und Yvonne Kuse dabei spielen. Denn zwischen den Zeilen deuten sie an2, dass sie auch selbst das präsentierende Lehren, das Verfüttern und Abprüfen von Informationen, das Voranschreiten im Stoff und die dauernde Ergebnissicherung verinnerlicht haben.

Im Laufe des Projekts hat sich dies verändert. Zug um Zug ist den Lehrer*innen deutlicher geworden, in welchen Abhängigkeiten sie stehen, von welchen Überzeugungen und verinnerlichten Zwängen ihr Handeln beeinflusst wird, welche Werte sie verfolgen und an welche Grenzen sie stoßen. Das hat ihnen niemand erklärt, sondern zu diesen Einsichten sind sie selbst gekommen. Und noch eine Geschichte wird dort erzählt. Zusammen mit dem Verständnis ist nämlich auch eine teilweise neue Praxis entstanden. In welchem Verhältnis die beiden Seiten – neues Verständnis und neue Praxis – zueinander stehen, ist erst im Laufe der Zeit deutlich geworden. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, wurde aber gleich zu Anfang klar. Es zeigte sich nämlich, dass Yvonne Kuse die von ihr kritisierte gymnasiale Normalität derart tief verinnerlicht hatte, dass sie davon bei ihrer Unterrichtsplanung, trotz explizit anderer Ziele, zunächst nicht abweichen konnte.

Ihren Berichten zufolge hat sich Folgendes mehrfach zugetragen: Nach ihrem Schultag und womöglich noch nach einer Konferenz setzt sich Yvonne Kuse (zum Kummer ihres Mannes) an ihren Schreibtisch und plant die Englischstunde für den folgenden Tag. Die Stunde nimmt Gestalt an, ein Ablaufplan und Material entstehen. Als die Stunde beinahe fertig ist, realisiert Yvonne Kuse, dass sie weder kooperativ noch individualisierend ist. Obwohl dies doch ihre erklärte Absicht war. Sie blickt zur Uhr, sie holt tief Luft, und beginnt von vorn. Sysiphos! Im Laufe des Projekts wird Silke Borg etwas ganz ähnliches widerfahren – allerdings im Unterricht selbst. Aus beidem zusammen werden sich Einsichten zur Frage ergeben, wie das eigene Unterrichtsbild, und somit die eigenen Überzeugungen, mit dem Unterrichtshandeln zusammen hängt, oder eben auch nicht. Auch dazu mehr im Kapitel, das die Entwicklungen der beiden Gymnasial-Lehrerinnen über die gesamten drei Jahre rekonstruiert (Kap. 5).

Die Ziele der Lehrer*innen für das Projekt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der dargestellten Situation, mit der sie ganz und gar nicht zufrieden sind. Ein zentrales Ziel der beiden Gymnsial-Lehrerinnen ist es daher, ihre Klassenzimmer zu Orten zu machen, an denen Schüler*innen und Lehrer*innen selbstbestimmt aktiv sein können. Yvonne Kuse betont dabei besonders den Aspekt, dass die Schüler*innen Verantwortung übernehmen sollen: sich selbst anleiten, sich selbst prüfen, ihren Lernstand reflektieren. Dazu möchte sie den Schüler*innen die Kontrolle über ihr Arbeitstempo geben. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Schüler*innen sich gegenseitig helfen. Silke Borg hat dieselben Ziele und macht deutlich, dass sie ihren Schüler*innen zukünftig das Recht geben möchte, in individualisierten Lernphasen selbst über ihr Arbeitstempo zu bestimmen. Auch sie meint, dass dazu die Schüler*innen selbst prüfen sollen, ob sie die bearbeiteten Inhalte verstanden haben. Dieses Verstehen ist das Kriterium dafür, sich anschließend einen neuen Inhalt vorzunehmen. In Bezug auf ihre eigene Rolle sind sich die Lehrer*innen ebenfalls einig: runter von der Bühne, weg mit Peitsche und Clownskostüm, raus aus dem Rampenlicht. Sie wünschen sich außerdem, nicht länger einziger Bezugspunkt bei Schwierigkeiten aller Art, sondern Moderator*in und Lernhilfe zu sein. Für Silke Borg steht über allem das Ziel, Schüler*innen und Lehrer*innen vom Druck zu befreien, der auf ihnen lastet. Insgesamt könnte man daher zusammenfassend sagen, dass sie sich nicht weniger vom Projekt verspricht, als dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Dass die Schule als Urheberin benannt wird, legt nahe, dass der Weg zu dieser Befreiung nur über eine Veränderung der Schule selbst vonstatten gehen kann.

Welche Veränderungen haben die Lehrer*innen dazu im Sinn? Wie stellen sie sich ihren Unterricht zukünftig vor und was ist ihr Konzept von Kooperativem Lernen? Bei beiden Gymnasial-Lehrerinnen ist das beschriebene Ziel ein unmittelbarer Bestandteil des Konzepts. Im Zentrum steht die Übertragung von Verantwortung an die Lernenden. Beide sind sich außerdem darin ähnlich, dass ihre Unterrichtsbilder und auch ihr Unterricht kooperative, individualisierende und instruktivistisch-frontale Elemente enthalten. Explizit nennt Yvonne Kuse ihre Vorstellung „selbstgesteuertes Lernen“, und Silke Borg möchte, dass „eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“. Darüber hinaus ist aber auch die von beiden Lehrerinnen so beschriebene frontale Normalität des gymnasialen Englischunterrichts präsent; sie betrachten sich als für die Sicherung von Inhalten und das stete Fortschreiten im Unterrichtsstoff zuständig. Bei beiden findet sich außerdem die Überzeugung, dass zu erfolgreichem Lernen im Englischunterricht ein gewisses Maß an frontaler Instruktion gehört.

Unterricht in der Gesamtgruppe spielt daher bei beiden nach wie vor eine wichtige Rolle – allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse Bestandteil und erster Bezugspunkt ihres Konzepts von Kooperativem Lernen. Deren Miteinander wird durch die Metapher „Klasse als Team“ ausgedrückt. Damit möchte sie sagen, dass Kooperatives Lernen dann gelingt, wenn die Vielzahl der unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler*innen füreinander verfügbar gemacht wird. Dementsprechend nennt sie auch die von ihr angestrebte Form des Unterrichts „selbstgesteuertes Lernen“ und betont damit den Pol der Lernerautonomie viel stärker als den der Kooperation. Gleichzeitig spielt frontal organisierter Unterricht mit der gesamten Klasse für sie eine wichtige Rolle. Silke Borg hingegen spricht von Beginn an davon, dass sie ihren Unterricht in Hinblick auf Vierergruppen organisieren möchte. Diese Gruppen sollen zusammen sitzen und arbeiten. Auch sie aber hält frontale Phasen mit der gesamten Lerngruppe für notwendig und sucht nach einer Sitzordnung, in der beides möglich ist. Diese differenzierten und komplexen Vorstellungen der Lehrer*innen gehen eindeutig über kleine Mikromethoden zur situativen Herstellung von Kooperativität hinaus. Im Theorieteil erfolgt daher eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kooperativen Lernens, um der zu erwartenden Komplexität auch konzeptuell gerecht zu werden.

Damit sind Ausgangssituation, Ziele und Vorstellungen der Lehrer*innen erörtert. Das Projekt kann also beginnen. Der erste Akt, der eigentliche Projektbeginn, erfolgt im Winter 2007. Silke Borg als Initiatorin an ihrer Schule knüpft an die positiven Erfahrungen mit einer zuvor existierenden Gruppe zur Unterrichtsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe an und macht sich Gedanken dazu, wie dies auf die Mittelstufe übertragen werden könnte. Thomas Gaber, Lehrer einer Hauptschule, beschäftigt die Frage, wie er seine Schüler*innen für die bildungsadministrativ vorgesehene neue Kompetenzprüfung in Klasse 9 zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fit machen könnte, in der die Schüler*innen in vorgebenen Rollen (z. B. als Tourist, der sich über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt informiert) auf Englisch kommunizieren müssen. Über die jeweils involvierten Hochschullehrer*innen einer Universität und einer Pädagogischen Hochschule kommt es rasch zu einer Vernetzung der zunächst unabhängig voneinander begonnenen Projekte. Alle Seiten erkennen schnell, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden und beschließen, daraus ein Projekt der Unterrichtsentwicklung und Forschung zu machen. Es läge sicherlich nahe, Aktionsforschung zu betreiben. Es wäre auch möglich, es in die fachdidaktische Entwicklungsforschung einzubringen. Beide Ansätze aber würden das Lehr-Lern-Geschehen selbst und damit die systemische Mikroebene (Fend 2006) in den Vordergrund rücken. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass damit keine Brille für die Wechselwirkungen der Unterrichtsentwicklung mit den schulischen Strukturen und für die Entwicklung der Lehrer*innen vorhanden gewesen wäre. Und darum geht es allen am allermeisten.

Zu Beginn des Projekts greifen die Lehrer*innen jeweils auf Vorerfahrungen mit Unterrichtsentwicklung zurück, denn an ihren Schulen hatte es bereits punktuelle Entwicklungsvorhaben gegeben, z. B. zur Entwicklung jahrgangsbezogener Curricula. Nach intensiven Gesprächen über diversen Tassen Tee und Kaffee werden Lehrer*innen und Forscher*innen sich einig, dass im Zentrum des Projekts die Entwicklung von Unterrichtsmaterial für das Fach Englisch stehen müsse. Auch kommt man schnell überein, dass es sinnvoll wäre, zunächst eine Pilotphase in Klasse 5 von wenigen Wochen Dauer zu planen und danach zu überlegen, ob das Ganze tragfähig sei. Die Lehrer*innen würden den didaktisch-methodischen Rahmen stecken und ihre Wünsche äußern. Die Hochschullehrer*innen würden diese Vorstellungen im Rahmen von Seminaren zu Kooperativem Lernen aus Sicht der Englischdidaktik bzw. Schulpädagogik gemeinsam mit ihren Studierenden in Material in Form von Arbeitsblättern umsetzen, die die Lehrer*innen dann in ihrem Unterricht verwenden oder noch verändern könnten. Organisatorisch ist die Sache also schnell in trockenen Tüchern.

Aber wie steht es um die Inhalte? Es wird rasch klar, dass Silke Borg durch Gespräche mit einer befreundeten Lehrerin ein Konzept von Individualisierung im Kopf hat. Besonders fasziniert ist sie von der Idee, dass die Schüler*innen in diesem Konzept selbst bestimmen dürfen, wann sie sich Leistungskontrollen unterziehen wollen. Thomas Gaber möchte mit Hinblick auf die Kompetenzprüfung vor allem, dass die Schüler*innen in seinem Unterricht höhere eigenständige Sprechanteile in der Fremdsprache erhalten. Die Forscher*innen hingegen haben stärker kooperative Vorstellungen im Kopf: Also Gruppenarbeit als routinisierte Arbeitsform in verschiedener Gestalt von Think-Pair-Share bis Projektarbeit. Schon hier ist aber vollkommen klar, dass die am Projekt beteiligten Lehrer*innen ihren Weg letztlich selbst finden und gehen sollen. Es kommt allen darauf an, zu einem für die Lerngruppen und die Schule im Alltag umsetzbaren Konzept zu gelangen und nicht ein methodisches Raumschiff zu landen. Am Ende der zahlreichen Gespräche kommen alle überein, das Projekt anzugehen. Thomas Gaber wird seinen Kollegen Christoph Schiers, Silke Borg ihre Kolleginnen Yvonne Kuse und Anke Rolffs anfragen, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Die Forscher*innen würden nach weiteren Mitstreiter*innen an der Universität bzw. Hochschule suchen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass beide Seiten Lernende sein werden, denn die Forscher*innen nahmen den Impuls der Lehrer*innen auf, auch Individualisierung zu berücksichtigen und fanden in der Forschungsliteratur einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen wieder (vgl. Kap. 2.2).

Der zweite Akt findet in der Schule statt. An dem am Projekt beteiligten Gymnasium hat Anke Rolffs in der Zwischenzeit deutlich gemacht, dass sie inhaltlich zwar interessiert sei, in ihren letzten beiden Berufsjahren jedoch nicht mehr aktiv mitmachen wolle. Gern wolle sie aber auf dem Laufenden gehalten werden. Silke Borgs Kollegin Yvonne Kuse bekundet hingegen großes Interesse, sich zu beteiligen, und ist vom ersten Treffen in der Schule an dabei. In Bezug darauf sagt sie später, dass sie sich vor Beginn der Gespräche noch wie eine „Seiteneinsteigerin“ vorgekommen wäre. Die Art und Weise, wie sie dann im Interview über diese Gesprächsrunden spricht, lässt aber erkennen, dass sie sich hier bereits als vollwertiges Mitglied der Projektgruppe wahrgenommen hat. So spricht sie von Silke Borg und sich selbst als „wir“, und die universitären Vertreter*innen sind aus ihrer Sicht „die andere Seite“. In diesen Gesprächen werden gemäß der Vorüberlegungen nicht einzelne Stunden abgesprochen, sondern die Lehrer*innen äußern ihre Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich des zu entwickelnden Unterrichtsmaterials. Die eigentliche Materialerstellung erfolgt dann im Rahmen eines Seminars zu „Kooperativem Lernen und Individualisierung“ an der Universität. Der in Tabelle 1 dargestellte Zeitplan dokumentiert die Arbeitsschritte in der gymnasialen Teilgruppe des Projekts.

Zeitraum Projektabschnitt
Sommer 2007 Vorüberlegungen
Herbst 2007 Gemeinsame Gespräche zur Festlegung der Grundsätze Materialerstellung im Seminar
Februar 2008 Zweiwöchiger Pilotunterricht, Hospitationen
Frühjahr 2008 Reflexion der Pilotphase und Vereinbarung über Fortführung Lehrerinnen führen Unterricht eigenständig weiter Diskussion und Revision der Grundsätze
Sommer 2008 Materialerstellung für erstes Halbjahr 6 in Universität
Herbst 2008 Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (1. Halbjahr) Materialerstellung für zweites Halbjahr 6 in Universität
Frühjahr 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (2. Halbjahr) Materialerstellung für erstes Halbjahr 7 in Universität
Herbst 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (1. Halbjahr) Materialerstellung für zweites Halbjahr 7 in Universität
Frühjahr 2009 Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (2. Halbjahr)

Tab. 1:

Übersicht über Materialerstellung und Erteilung des Unterrichts. Exemplarisch für beide beteiligten Schulen ist der Verlauf an dem am Projekt beteiligten Gymnasium dargestellt.

In der zweiten, hauptschulbezogenen Teilgruppe beginnt das Projekt damit, dass sich Thomas Gaber und Christoph Schiers vom Schulleiter als Klassenlehrer im neuen fünften Jahrgang einsetzen lassen. Die Schulleitung ist also von Anfang an in das Projekt involviert und unterstützt es durch eine gezielte schulorganisatorische Maßnahme. Das Unterrichtsmaterial für die kooperativen Lernphasen wird im Rahmen eines schulpädagogischen Forschungsseminars im Wintersemester 2008/09 erstellt. Drei durch persönliche Ansprache gewonnene, sehr engagierte Anglistikstudentinnen erproben und begleiten den Einsatz des Materials, indem sie das Forschungsseminar mit dem obligatorischen Fachpraktikum Englisch verbinden. Das Projekt wurde demnach auch durch die Hochschule, insbesondere durch deren englische Abteilung, organisatorisch und curricular unterstützt.

Insgesamt ergibt sich daraus ein Bild, in dem Lehrer*innen und universitäre Akteure durch punktuellen Austausch sich gegenseitig ihre Vorstellungen erläutern, die Lehrer*innen dann aber erst wieder das fertige Material zu Gesicht bekommen, um es für ihren Unterricht anzupassen. Und das tun sie im dritten Akt dann auch reichlich. In diesem Akt findet innerhalb der verabredeten Pilotphase der neu gestaltete Unterricht statt. Und schon die erste an den Hochschulen geplante Stunde wird von den Lehrer*innen verworfen. Dies zeigt, dass sie das Material nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen verwenden. Es ist daher anzunehmen, dass der über die folgenden drei Jahre sich tatsächlich ereignende Unterricht in Hinblick auf Kooperatives Lernen und Individualisierung die unterschiedlichen Orientierungen sowohl der schulischen als auch der universitären Seite enthält und dass die Lehrer*innen nur jene Planungen umsetzen, die sie auch für sinnvoll halten. In der Umsetzung an der Hauptschule zeigt sich insbesondere, dass die erstellten Materialien von ihrem sprachlichen und methodischen Anspruchsniveau stellenweise deutlich zu komplex angelegt sind. Während Thomas Gaber dieser Problematik mit einer offenen, experimentellen Haltung begegnet und die Materialien gemeinsam mit den Studierenden sukzessive anpasst und modifiziert, zieht sich Christoph Schiers in der Folgezeit mehr und mehr aus dem Projekt zurück. Trotz dieser partiellen Zurücknahme seines Engagements bleibt er aber weiterhin Teil der gesamten Projektgruppe. Dass sich die Studie am Ende auf das gymnasiale Teilprojekt fokussiert, liegt nicht an Entscheidungen der beiden Hauptschul-Lehrer, sondern daran, dass die beiden Gymnasial-Lehrerinnen in auffallender Weise voneinander verschieden an das Kooperative Lernen herangegangen sind. Außerdem haben sich die beiden im Laufe der Professionsstudie – und damit in ihrem Sprechen über Unterricht – in einem umfassenderen Sinne als stark kontrastierende Fälle erwiesen.

Im Unterricht dieser ersten Pilotphase finden sich alle oben genannten Elemente der Unterrichtsbilder der beiden Gymnasial-Lehrerinnen wieder. Kooperatives Lernen spielt vor allem als Partnerarbeit eine wichtige Rolle und in den Unterrichtsschilderungen lassen sich eingeführte kooperative Arbeitsformen wie das Lerntempoduett entdecken – ohne dass die Lehrer*innen selbst die entsprechenden Fachbegriffe verwenden würden. Individualisierung wiederum wird von den Lehrer*innen eigenständig betrieben, indem zum Beispiel Silke Borg eigene Wochenpläne erstellt, nach denen die Lernenden immer dann arbeiten, wenn sie die kooperativen Aufgaben erledigt haben. Yvonne Kuses Orientierung an der Gesamtgruppe im Rahmen ihres Konzepts von „Klasse als Team“ zeigt sich deutlich darin, dass sie sogar in der im Rahmen der Pilotphase videographierten Stunde über lange Strecken mit der gesamten Gruppe frontal im Plenum arbeitet. Und Silke Borg hat für die Pilotphase eine Lösung für ihr Problem einer flexiblen Sitzordnung gefunden, die Gruppen- und Plenumsarbeit gleichermaßen unterstützt: Jeweils zwei Tische sind zu einem V-förmigen Keil mit offener Seite zur Tafel aufgestellt. Für den frontalen Rahmen sind sie aufgeklappt, für die kooperativen Phasen werden sie zusammen geschoben.

Während die Lehrer*innen also einerseits ihre eigenen Vorstellungen umsetzen, sind sie andererseits sehr wohl zum Experimentieren bereit und lassen sich auf universitäre Vorschläge in einem für sie plausiblen Maß ein. Dabei werden zum Beispiel die instruktivistischen Elemente ihrer Unterrichtstheorien in Frage gestellt. So erlebt Yvonne Kuse, dass die Schüler*innen in kooperativen Settings in Bezug auf die Erstellung von Präsentationen und der Aneignung der englischen Formen für Uhrzeiten eigenständig arbeiten. Von beidem ist sie nachhaltig beeindruckt und nennt ihre Erfahrung einen „eyeopener“. Sie sagt auch sehr klar, dass sie vor der Stunde große Sorge gehabt hätte, ob das Arrangement funktionieren würde. Sie begründet dies ganz offen damit, dass sie es ihren Schüler*innen nicht zugetraut hätte, das Thema in nur einer Stunde – mehr war dafür nicht vorgesehen – zu erledigen. Es gelingt. Sie ist überrascht und beeindruckt. Und sie zieht die Schlussfolgerung, dass sie die Schüler*innen viel öfter allein arbeiten lassen müsste. Beeindruckt und überrascht sind auch die Forscher*innen. Sie wollen keine Planer*innen und Erklärer*innen sein, sondern begleiten und rekonstruieren. Aufgrund der von den Lehrer*innen buchstäblich von der ersten Stunde an gezeigten Eigenständigkeit fassen die Forscher*innen Vertrauen, dass die Rollenverteilung funktionieren könnte. Sie merken aber auch, dass dies eine große Herausforderung darstellen wird.

Kooperatives Lernen im Englischunterricht

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