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1.1.2 Die Perspektive der Forscher*innen1
ОглавлениеDie beteiligten Forscher*innen hatten sich bisher mit unterschiedlichen Forschungsbereichen beschäftigt, z. B. mit Bilingualem Unterricht und mit der Professionalisierung von Lehrer*innen. In diesen Bereichen hatten für sie auch kooperative Arbeitsformen immer eine Rolle gespielt. Ob nun die Bearbeitung von literarischen Texten und Filmen in Gruppenarbeit, die kooperative Durchführung von Experimenten im englischsprachigen Chemieunterricht oder die Anforderung an Lehrer*innen in der Berufseingangsphase, möglichst viel kooperative Methoden einzusetzen – in all diesen Bereichen waren die Forscher*innen in den letzten Jahren in zunehmendem Maße mit kooperativen Unterrichtsformen konfrontiert worden. Und dabei hatten sich Fragen angesammelt: Was genau geschieht in derartigen Gruppenarbeiten eigentlich? Was bringen sie für den sprachlichen Kompetenzerwerb der Schüler*innen? Welche Rolle spielen soziale Fähigkeiten dabei? Die Forscher*innen wussten aber auch, unter anderem aus der eigenen Tätigkeit als Lehrer, wie schwierig es sein kann, unter Alltagsbedingungen den eigenen Unterricht zu entwickeln. Sie kannten die Freude, gemeinsam mit Kolleg*innen gutes Material zu erarbeiten, die Frische, die dies in den eigenen Unterricht bringt. Sie erinnerten sich aber ebenso gut daran, wie neue Ideen in Konferenzen zerredet wurden, wie die Lust auf Neues im Laufe endloser Korrekturen und Alltagskonflikte stirbt und wie steigender Verwaltungs- und Organisationsaufwand kostbare Zeit frisst. Und deshalb wollten sie auch bei den Lehrer*innen genau hinschauen: Welche Vorstellungen, Hoffnungen, Ziele und Ängste haben sie? Wie gestalten und erleben sie die Veränderung ihres Unterrichts? Auf welche Schwierigkeiten treffen sie und welche Lösungen finden sie? Also: Wie gelingt ihnen die Entwicklung des eigenen Unterrichts unter normalen Alltagsbedingungen?
Um diese Normalität so weit wie möglich zu gewährleisten, erschien es den Forscher*innen notwendig, eine schwierige Balance zu halten. Einerseits sollten die Lehrer*innen Anregungen und Vorschläge zur Umsetzung Kooperativen Lernens in ihrem Unterricht erhalten. Andererseits war schon in den Vorgesprächen deutlich geworden, dass Silke Borg und Yvonne Kuse, Thomas Gaber und Christohp Schiers ganz eigene Überlegungen für die Weiterentwicklung ihres Unterrichts angestellt hatten, die nicht nur kooperativ, sondern auch sehr individualisierend waren. Daher sollten die Lehrer*innen didaktisch und methodisch sowohl das erste als auch das letzte Wort haben. Es erschien den Forscher*innen weiterhin notwendig, ihrerseits theoretisches Wissen nur dann einzubringen, wenn die Lehrer*innen eine damit zu beantwortende Frage formulierten. Die Forscher*innen verpflichteten sich selbst dazu, nicht von sich aus einzugreifen, auf Probleme hinzuweisen oder Lösungen anzubieten. Sie wollten soweit möglich Begleiter*innen sein und den Weg, den die Lehrer*innen mit ihren Lerngruppen beschritten, konsequent mitgehen. Die Entlastung für die Lehrer*innen bestand darin, dass auf der Basis der von ihnen geäußerten Ideen und Vorstellungen (s. u.) in Uni und PH Arbeitsblätter und Stundenvorschläge für sie erstellt wurden. Dieses Material konnten die Lehrer*innen dann entsprechend ihrer Bedürfnisse verändern und in ihrem Unterricht verwenden – oder eben auch nicht. Uni und PH stellten also das bereit, was ansonsten von unterrichtspraktisch ausgerichteten Zeitschriften oder Materialverlagen geliefert wird. Mit dem wichtigen Unterschied, dass das Material auf der Basis der Vorstellungen der Lehrer*innen erstellt wurde.
Diese Vorgehensweise brachte verschiedene Probleme mit sich. Das erste bestand in der Rückkopplung zwischen Materialgestalter*innen und Lehrer*innen. Aufgrund des großen Materialumfangs, der zeitlichen Belastung der Lehrer*innen und der räumlichen Distanz zwischen Lehrer*innen und Studierenden entstand keine kontinuierliche, z. B. wöchentliche Rückkopplung. Stattdessen traf sich eine Gruppe von vier Materialentwickler*innen mit den Lehrer*innen ca. ein halbes Jahr vor dem zu erteilenden Unterricht, ließ sich die Vorstellungen der Lehrer*innen erläutern und diskutierte mit ihnen darüber, mit welchen Unterrichtsmethoden diese Vorstellungen in Bezug auf die im Buch vorgesehenen Units umsetzbar erschienen. Die Diskussion wurde auf Video aufgenommen, damit auch die übrigen Materialiengestalter*innen einen möglichst umfassenden Einblick in die Ideen und den Gang der Diskussion erhielten. Dann wurde das Material erstellt und den Lehrer*innen zur Nutzung übergeben. Eine Schwierigkeit wurde dabei nie zufriedenstellend überwunden. Die Materialerstellung hatte einen notwendigen Vorlauf von drei bis sechs Monaten. Die Lehrer*innen hatten in diesen Perioden nie ausreichend Zeit, um sich schon vertieft mit den Entwürfen zu beschäftigen, da sie mit ihren jeweils aktuellen Aufgaben mehr als ausgelastet waren. So erwies es sich erst im Unterrichten selbst, wie tauglich die Gesamtplanung und Materialien tatsächlich waren. Durch die elektronisch erstellten Vorlagen konnten die Lehrer*innen in dieser Phase allerdings auch kurzfristig Änderungen an den Materialien vornehmen, wodurch sich diese an ihre Bedürfnisse und Vorstellungen anpassen ließen.
Dieser Ablauf der Materialentwicklung ergab sich erst im Laufe des Projekts. Zu Beginn wurden sogenannte Unit-Books erstellt – jeweils ein Din-A-4-Heft für jede*n Schüler*in mit gedruckten Arbeitsblättern zur jeweiligen Unit. Das verwendete Bild- und Textmaterial griff Themen der Unit auf, stammte aber nicht aus dem Lehrwerk. Dazu gab es Stundenblätter mit vollständigen Planungen für 45 bzw. 90 Minuten. Dies erwies sich als nicht praktikabel. Lehrer*innen und Schüler*innen klagten über zu viel Material und die Lehrer*innen hielten eine stärkere Einbindung des Lehrwerks für notwendig. Zum einen, weil sie gewährleisten wollten, dass die Schüler*innen den vorgesehenen grammatischen Phänomenen und dem Wortschatz begegneten, zum anderen deshalb, weil die Anschaffung des Workbooks für nicht wenige Familien mit, für ihr Einkommen, relativ hohen Kosten verbunden war. Für sie wäre es eine Zumutung gewesen, wenn das nun umsonst gewesen sein sollte. Im zweiten Schritt wurden daher die Unit-Books nur noch elektronisch geliefert, so dass die Lehrer*innen die Arbeitsblätter selbst umgestalten und auswählen konnten. Außerdem wurden in den Materialien die Texte und Bilder aus dem Lehrbuch verwendet. An der Planung kompletter Stunden wurde allerdings festgehalten. Auch dieses Vorgehen war aus Sicht der Lehrer*innen, die zugleich Klassenlehrer*innen waren, noch zu unflexibel: Die regelmäßig für Klassengeschäfte aufzuwendende Zeit brachte die Unterrichtsplanung immer wieder durcheinander. Im letzten Durchgang – also in Klasse 7 – wurden daher keine vollständigen Stunden mehr geplant. Vielmehr erhielten die Lehrer*innen elektronische Arbeitsblätter mit Aufgaben von ca. 20–30 Minuten bzw. 60–70 Minuten Dauer. Diese Aufgaben konnten sie mit Warm-ups und eigenen Stundenein- und -ausstiegen sowie anderen Aktivitäten kombinieren. Die Arbeitsblätter enthielten zumeist nur Aufgaben und ggf. Zusatzmaterial. Auf das von der Aufgabe verwendete Text- und Bildmaterial des Lehr- oder Arbeitsbuchs wurde nun nur noch mit Seitenangaben verwiesen. Zusätzlich gab es Methodenblätter, mit denen die Schüler*innen in neue Unterrichtsmethoden eingeführt wurden.
Mit dem im letzten Durchgang etablierten Vorgehen war eine im Ganzen alltagstaugliche Form gefunden, die sich als sparsam und flexibel handhabbar erwies. Die abschließenden Rückmeldungen der Lehrer*innen ergaben, dass sie die erstellten Materialien auch nach Projektende weiterhin einsetzten. Die fast vollständige Entlastung der Lehrer*innen von der Materialerstellung, von der die Beteiligten geträumt hatten, ließ sich nicht realisieren.
Das zweite Problem war eher ein Dilemma, für das es keine schnelle Antwort gab: Ist die bis auf die Materialerstellung ausschließlich beobachtende Rolle der Forscher*innen forschungsethisch überhaupt vertretbar? Ist es richtig, mit dem eigenen Wissen hinter dem Berg zu halten, sogar dort zu schweigen, wo man ein Problem sah, für das man eine Lösung zu haben glaubte? Im Laufe der dazu geführten Diskussionen stellten sich daher zwei Fragen. Zum einen ist es ja Grundbestand vieler Lerntheorien, dass Menschen Erkenntnisse nur dann zur Kenntnis nehmen, wenn diese auf Probleme antworten, die sie selbst sehen. Es ist also durchaus fraglich, ob die Lehrer*innen sich ein von den Forscher*innen formuliertes Problem überhaupt zu eigen gemacht hätten bzw. ob es für sie relevant gewesen wäre. Dies erschien umso unwahrscheinlicher, als schon eine vertieftere Arbeit an der Unterrichtsplanung aus Zeitgründen nicht stattfinden konnte. Darüber hinaus ist es zweitens fraglich, ob denn die Forscher*innen überhaupt passende Antworten gehabt hätten, ob ihr abstraktes Wissen sich überhaupt mit dem Erfahrungswissen der Lehrer*innen verbunden hätte. Trotz dieser nicht von der Hand zu weisenden Argumente blieb es jedoch die latente Sorge der Forscher*innen, die Lehrer*innen nicht genug zu unterstützen.
Auch das dritte Problem hat eher den Charakter eines unauflöslichen Dilemmas. Wo auch immer die Forscher*innen ihr Projekt vorstellten, wurden ihnen zwei Fragen gestellt. Die erste lautete: Wie konnten sie sicherstellen, dass es sich bei dem Unterricht wirklich um Kooperatives Lernen handelte? Diese Frage war noch relativ leicht zu beantworten, denn eine solche Sicherstellung hatten die Forscher*innen nie beabsichtigt. Hingegen interessierte sie von Anfang an, welche Form von Unterricht die Lehrer*innen gestalteten, um die von ihnen wahrgenommenen Defizite zu beheben. Schon bei der Diskussion der allerersten Idee war ja klar geworden, dass die Lehrer*innen zumindestens auch Individualisierung im Kopf hatten. Außerdem war die Frage vom Subjekt her falsch gestellt. Die Forscher*innen waren gar nicht in der Position, etwas sicherstellen zu können – und wollten das auch nicht. Die zweite Frage war deutlich problematischer: Woher wollten sie dann wissen, was sie da eigentlich beforschten? Und wie könnten sie am Ende sagen, welcher Effekt die Konsequenz aus welchem Charakteristikum des Unterrichts war? Die Antwort dazu blieb stets vorläufig und konnte auch die eigenen Zweifel nie ganz beruhigen. Was den Unterricht anging, so konnte der nicht einfach auf der Basis des bereitgestellten Materials beschrieben werden. Vielmehr mussten die Forscher*innen in einer eigenen Teilstudie (Kap. 3) rekonstruieren, welche Form von Unterricht tatsächlich zustande gekommen war. Außerdem haben die Lehrer*innen in den Interviews viel aus ihrem Unterricht erzählt und über ihn reflektiert. Diese verschiedenen Informationen werden im Diskussionsteil (Kap. 6) zusammengeführt, um ein verdichtetes Bild des Unterrichts der Lerngruppen zu zeichnen. Noch besser wäre es gewesen, die Schüler*innen selbst zu fragen und auch aus ihrer Perspektive zu hören, welche Unterrichtserfahrungen sie mit welchen Wirkungen in Verbindung bringen. Dieses aber hat sich aufgrund zeitlicher und finanzieller Beschränkungen als nicht realisierbar erwiesen.
Und das vierte Problem? Das Ziel war es, die Einführung von Kooperativem Lernen unter Normalbedingungen zu begleiten. Das wirft die Frage auf, was eigentlich normal ist. Für die Schule und andere Bildungsinstitutionen ist diese harmlose Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Auf Schulen scheinen derzeit zwei völlig unterschiedliche Kräfte einzuwirken. Zum einen bringen zentralisierende Maßnahmen wie Zentralabitur oder Vergleichsarbeiten Vereinheitlichungen und Standardisierungen mit sich. Zum anderen ist spätestens seit in Deutschland der Wettbewerbsföderalismus ausgerufen ist und Schulautonomie den Schulen erlaubt, ihren nicht selbst verschuldeten Mangel selbst zu verwalten, eine Bewegung zum Finden regionaler oder sogar lokaler Lösungen im Gange. Spätestens damit aber gibt es keine allgemein gültige schulische Normalität mehr. Selbst innerhalb einer Schule kann die Art, wie Kolleg*innen miteinander sprechen und arbeiten, von Fachgruppe zu Fachgruppe sehr unterschiedlich sein. Dementsprechend muss das, was an einer gegebenen Schule normal ist, erst einmal rekonstruiert werden. Da dies auf der Basis von Interviews geschieht, wird die Normalität durch die Brille der Lehrer*innen betrachtet. Diese Sicht ist insofern angemessen, da sie für die Arbeit der Lehrer*innen die entscheidende ist. Und es ist eben diese Normalität der alltäglichen Rahmenbedingungen, die die Forscher*innen durch möglichst wenig Intervention möglichst wenig verändern wollten.
Noch ein Problem? Nein, eher noch eine Herausforderung, die sich stellt, weil die Forscher*innen auch Hochschullehrer*innen sind, weil sie möchten, dass das Projekt nicht nur Forschungsergebnisse liefert, sondern auch Studierende in ihren Professionalisierungsprozessen unterstützt; weil sie darin eine große Chance sehen, forschendes Lernen an der Universität zu verwirklichen. Deshalb hatten sie das Ziel, möglichst viele Studierende am Projekt zu beteiligen. Die Studierenden sollten Einblicke in die schulische Realität als etwas zu Gestaltendes erhalten und an der Gestaltung mitwirken. Sowohl die Materialerstellung als auch die Konstruktion und Auswertung von Tests fanden daher im Rahmen von Seminaren oder in einer Forschergruppe statt, zu deren Mitgliedern auch viele Studierende gehörten. Die Rückmeldung von den Studierenden und die Eindrücke der Forscher*innen hinsichtlich der Lern- und Bildungseffekte aller Beteiligten waren sehr positiv. Eine große – teilweise bis zum Schluss ungelöste – Herausforderung bestand aber darin, dass die Forschergruppe aus verschiedenen Gründen über den Projektzeitraum ständigen Wechseln unterlag, was es schwierig machte, das erarbeitete Know-how reibungslos an nachfolgende Mitwirkende weiterzugeben.