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1.3 Thomas Mann: Lebensabriß
ОглавлениеIn seinem biografisch ausgerichteten „Lebensabriß“ unterscheidet Thomas Mann sehr deutlich zwischen dem „unerfreulichen“ (MANN 1990, ebd., S. 99) Bildungsgang hin zu einem „Schulbildungsziel“ (ebd., S. 101) und biografisch bedeutsamen Bildungserfahrungen. Für ihn sind die Institution und das Milieu „Schule“ keine Orte der Bildung, sondern des Zwanges, der Disziplin, der Abrichtung und der Machtausübung.
„Ich verabscheute die Schule und tat ihren Anforderungen bis ans Ende nicht Genüge. Ich verachtete sie als Milieu, kritisierte die Manieren ihrer Machthaber und befand mich früh in einer Art literarischer Opposition gegen ihren Geist, ihre Disziplin, ihre Abrichtungsmethoden. Meine Indolenz, notwendig vielleicht für mein besonderes Wachstum; mein Bedürfnis nach viel freier Zeit für Müßiggang und stille Lektüre; eine wirkliche Trägheit meines Geistes, unter der ich noch heute zu leiden habe, machten mir den Lernzwang verhaßt und bewirkten, daß ich mich trotzig über ihn hinwegsetzte. Es mag sein, daß der humanistische Lehrgang meinen geistigen Bedürfnissen angemessener gewesen wäre. Zum Kaufmann bestimmt – ursprünglich wohl zum Erben der Firma – , besuchte ich die Realgymnasialklassen des ,Katharineums‘, brachte es aber nur bis zur Erlangung des Berechtigungsscheines zum einjährig-freiwilligen Militärdienst, das heißt bis zur Versetzung nach Obersekunda.“ (ebd., S. 99)
(Anmerkung des Autors: Die Obersekunda entspricht der heutigen Jahrgangsstufe 11.)
Bildungserlebnisse
Thomas Mann betont die Wichtigkeit seiner Bildungserlebnisse, die sich nicht durch den Besuch einer Schule realisiert haben und sich auch nicht auf den Erwerb von Qualifikationen und Bildungszertifikaten beziehen lassen. Es sind Erfahrungen, die seine Weltsicht und seine Lebensgestaltung verändern. Im Anschluss an einige „äußerliche“ Daten seiner Schulbildung erinnert er:
„Ich habe der Bildungserlebnisse meiner Kindheit und ersten Jugend nicht gedacht, nicht des unauslöschlichen Eindrucks, den Andersens Märchen mir machten, noch jener Abende, an denen wir dem Vorlesen unserer Mutter aus Reuters ,Stromtid (oder ihrem Liedergesange am Flügel) lauschten, noch auch der Vergötterung Heines um die Zeit, da ich meine ersten Gedichte schrieb, oder der behaglich-begeisterten Stunden, die ich nach der Schule bei einem Teller voll belegter Butterbrote mit der Lektüre Schillers verbrachte. Hier will ich große und entscheidende Lese-Eindrücke nicht ganz übergehen, die in die Jahre fielen, bis zu denen ich vorgeschritten bin – ich meine das Erlebnis Nietzsches und Schopenhauers. Zweifellos ist der geistige und stilistische Einfluß Nietzsches schon in meinen ersten an die Öffentlichkeit gelangten Prosaversuchen kenntlich. Ich habe in den ,Betrachtungen eines Unpolitischen von meinen Beziehungen zu diesem zaubervollen Komplex gesprochen und sie auf ihre persönlichen Bedingungen und Grenzen zurückgeführt. Die Berührung mit ihm war in hohem Grade bestimmend für meine sich bildende Geistesform; aber unsere Substanz zu verändern, etwas anderes aus uns zu machen, als wir sind, ist keine Bildungsmacht imstande; alle Bildungsmöglichkeit überhaupt hat ein Sein zur Voraussetzung, das den Instinktwillen und die Fähigkeit zur persönlichen Auswahl, Assimilierung, Verarbeitung ins Besondere besitzt. Goethe hat gesagt, daß man etwas sein müsse, um etwas zu machen. Aber schon, um in irgendeinem höheren Sinn etwas lernen zu können, muß man etwas sein.“ (ebd., S. 108f.)
Jeder Mensch ist beständig in Bildungsprozesse und -erlebnisse verwickelt, die „unauslöschlich“ sind. Thomas Mann erinnert sich an familiäre Begebenheiten und in besonderer Weise an „große und entscheidende Lese-Eindrücke“, die ihn fesselten, ihn nachdenklich machten und seine „sich bildende Geistesform“ mitbestimmten.