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1.1 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre
ОглавлениеAls vielleicht bekannteste Bildungserzählung gilt Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795 / 96). In der folgenden Schlüsselerzählung soll aber nicht der Bildungsgang Wilhelms in den Vordergrund gerückt werden, sondern der einer weiblichen Romanfigur. Die Textpassage versinnbildlicht eine allseitig ausgerichtete Bildungsvorstellung. Die Stiftsdame erinnert ihre Jugend:
„Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel weiß was, alles durcheinander […]. Nun fing die Mutter an, über das stete Lesen zu schmähen; der Vater nahm ihr zuliebe mir einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug, zu bemerken, daß hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, daß auch die Bibel ebenso fleißig gelesen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen Bücher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgfältig, daß keine verführerischen Bücher in meine Hände kämen, und ich selbst würde jede schändliche Schrift aus der Hand geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle äußerst tugendhaft, und ich wußte übrigens von der natürlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken ließ, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und brachte bei meiner Wißbegierde und Kombinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich von Hexen gehört, so hätte ich auch mit der Hexerei bekannt werden müssen. Meiner Mutter und dieser Wißbegierde hatte ich es zu danken, daß ich bei dem heftigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabei war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden, war für mich ein Fest. Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir darüber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen mißratenen Sohn zu nennen.
Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte Französisch, Tanzen und Zeichnen und erhielt den gewöhnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts, was sich auf meinen Zustand bezogen hätte. Ich hörte gern von Gott reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden zu können; ich las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein, zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widerglänzen könnte; das hatte ich ein für allemal schon vorausgesetzt.
Französisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackerer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trockner Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte sättigte er meine Wißbegierde auf mancherlei Weise. Ich liebte ihn so sehr, daß ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeichnen fiel mir nicht schwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meister Kopf und Kenntnisse gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und Übung.
Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein Körper war zu empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Schülern und Schülerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser Übung ganz anders belebt.“ (GOETHE 2000, S. 360f.)
Erzählt wird von der Begierde einer Heranwachsenden, sich so viel wie möglich der ihr zugänglichen Welt und ihrer Gegenstände anzueignen. Ihr Interesse ist schier unbegrenzt und mannigfaltig. Nahezu jeder Gegenstand gewinnt eine bildende Dimension. Kein Bereich wird ausgespart, es ist eine Ausbildung aller Vermögen. Die Gegenstände entstammen Büchern, dem Schulunterricht und der alltäglichen Lebenswelt. Dabei ist die Art und Weise der Beschäftigung auffällig. Es entspricht der Heranwachsenden keineswegs, sich mit den für sie vorgesehenen praktischen Tätigkeiten abzufinden und sich auf sie zu reduzieren. Als „der missratene Sohn“ widmet sie sich Fragen, die ihrem Stand als Frau – zur Freude des Vaters – nicht entsprechen. In allem sucht sie ihr geistiges Interesse zu realisieren, doch von der Vorherbestimmtheit ihrer sozialen Bestimmung kann sie sich nicht befreien. Eine Frau, die sich aus ihrer sozialen Gebundenheit befreit und ihre Neigung zur wissenschaftlichen Betrachtung weiterbildet, passt nicht in das soziale Gefüge der Zeit.
Bildungstrieb
Goethe nimmt den menschlichen Bildungsprozess jedoch auch kritisch in den Blick. Es gibt Hinweise, die den Leser mitunter ins Stocken geraten lassen. Die Heranwachsende gesteht, sie hätte sich – vermutlich mit gleichem Engagement und gleicher Wissbegierde – gleichfalls mit Hexerei beschäftigt, wenn sie zufällig darauf gestoßen wäre. Sie betont, dass sie von Religion schwatzen könne, aber auf ihren „Zustand“ ist das Wissen gerade nicht bezogen. Vielmehr neigt sie dazu, Wissen begierig aufzunehmen, vergisst aber, es auch kritisch zu hinterfragen.
Tätiges Leben
Krisen gehören zum Lebensweg. Nur im tätigen Leben sieht Goethe die Möglichkeit, Bildung zu realisieren. Es gilt, dass „alles, was uns begegnet“, Spuren hinterlässt und „unmerklich zu unserer Bildung“ beiträgt (ebd., S. 422). Das trifft für Wilhelm und auch für die Heranwachsende zu. Nur das tätige Tun und die damit verbundenen Irrtümer erlauben eine Bildung des Menschen.
„Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen […].“ (ebd., S. 493)
Nur im tätigen Leben ist zu erfahren, ob die eigenen Möglichkeiten tatsächlich zu verwirklichen sind. Das Beispiel der Heranwachsenden zeigt allerdings auch, wie problematisch dieser Gedanke ist, wenn die Vielfalt der Möglichkeiten und Tätigkeiten bespielsweise auf einen sozialen und geschlechtsspezifischen Ort beschränkt bleibt.