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3.3 Hartmut von Hentig: Ein Essay über Bildung
ОглавлениеPopulärwissenschaft
Deutliche narrative Züge hat auch der Essay „Bildung“ von Hartmut von Hentig, dem Gründer der Bielefelder Laborschule und des Oberstufenkollegs. In ihm wird das Thema Bildung so bearbeitet, dass zwar „Neugier und Nachdenklichkeit“ geweckt werden, der Gegenstand dem Leser jedoch zunächst verständlich und frei von wissenschaftlichem Ballast „nackt und bloß“ präsentiert wird (V. HENTIG 2004, S. 8). Mit dieser Vorgehensweise, die sich vor allem in vergleichsweise einfachen Gedankengängen und einer klaren Sprache äußert, bietet der Essay – je nach Sichtweise – entweder einen populärwissenschaftlichen Einstieg in die wissenschaftliche Problemstellung von Bildung oder einen Ausstieg aus der gewohnten wissenschaftlichen Thematisierung hin zu einer allgemeinverständlichen und gut lesbaren Popularisierung. Von „geläufigen Fragen“ und „notwendigen Klärungen“ ausgehend diskutiert von Hentig „mögliche Maßstäbe“ und „geeignete Anlässe“ für Bildung und gelangt abschließend zu „wünschenswerten Folgen“ (ebd., S. 5). Seine Argumentation verläuft auszugsweise so:
Argumentation
„Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat. Für die Bestimmung der Bildung, die dies leistet, sind die Kanonisierung von Bildungsgütern, die Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbild, die Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse (zur Ermittlung der geforderten ,Qualifikationen) gleichermaßen untauglich. Der Mensch bildet sich. Das Leben bildet. Die Schule hat aus Bildung Schulbildung gemacht. In der wissenschaftlichen Zivilisation sind daraus das Mittel und das Kriterium der akademischen Berufslaufbahn geworden. Die ,Rückkehr zur Bildung ist pädagogisch geboten – ein Fortschritt. Alle Menschen sind der Bildung bedürftig und fähig. Für die allen Menschen geschuldete Bildung gibt es gemeinsame Maßstäbe und geeignete Anlässe. […] Alle Bildung ist politische Bildung: eine kontinuierliche, zugleich gestufte Einführung in die polis.“ (ebd., S. 9f.; auf die Nummerierung der Argumente sowie auf textinterne Verweise wurde verzichtet.)
Formale und materiale Bildung
Von Hentig redet in einer Weise von Bildung, wie man dies häufig in der Öffentlichkeit antrifft. Bildung wird als eine Antwort auf jene Frage des Zeitgeistes vorgestellt, die – nicht erst heute – vielen Menschen plausibel erscheint, nämlich die „behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit“. Die Bestimmung dessen, was Bildung dabei konkret bedeutet, bleibt zunächst auffällig vage und weitgehend einem formalen Verständnis von Bildung verhaftet. In Anlehnung an einen Lexikonartikel aus der Brockhaus Enzyklopädie betont von Hentig Züge von Bildung, die auf Humboldt zurückgehen:
„Es geht um Anregung (nicht um Eingriff, mechanische Übertragung, gar Zwang); alle (nicht nur die geistigen) Kräfte sollen sich entfalten (sie sind alle schon da, werden nicht ,gemacht oder eingepflanzt), was durch die Aneignung von Welt (also durch die Anverwandlung des Fremden in einem aktiven Vorgang) geschieht – in wechselhafter Ver- und Beschränkung (das heißt erstens: auch die , Welt bleibt nicht unverändert dabei, zweitens: die Entfaltung ist kein bloßes Vorsichhin-Wuchern, sie fordert Disziplin); die Merkmale sind Harmonie und Proportionierlichkeit (Bildung mildert die Konflikte zwischen unseren sinnlichen und unseren sittlichen, zwischen unseren intellektuellen und unseren spirituellen Ansprüchen, sie fördert keine einseitige Genialität); das Ziel ist die sich selbst bestimmende Individualität – aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie als solche die Menschheit bereichert.“ (ebd., S. 39)
Der inhaltliche Aspekt von Bildung wird zwar gesehen, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt, bestimmte Fächer seien besser oder schlechter geeignet, Bildung zu vermitteln.
Bildungskriterien
Stattdessen nennt von Hentig „mögliche Maßstäbe“, also Kriterien, an denen sich Bildung bewährt. Hierzu zählen:
„Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; und – ein doppeltes Kriterium – die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica.“ (ebd., S. 73)
Bildungsanlässe
Zudem diskutiert von Hentig „geeignete Anlässe“ für Bildung, in denen er ausdrücklich Alternativen zur Schulbildung sieht. Solche Gelegenheiten sind etwa das Erzählen von Geschichten, sei es aus der Mythologie, aus der Bibel oder aus eigenen Erfahrungen, der kultivierte Sprachgebrauch in Unterhaltungen und in Fremdsprachen, Theaterspiele und Theaterbesuche, Naturerfahrungen – etwa durch Zoobesuche – , die Einführung von Kindern und Jugendlichen in politische Zusammenhänge und in die Arbeitswelt, das Feiern von Festen als „gesteigertem Leben“ und die Beschäftigung mit Musik und anderen bildenden Künsten. Als letzten in der langen Aufzählung der geeigneten Anlässe für Bildung nennt von Hentig – in bester jugendbewegter Manier – den „Aufbruch“:
„Darum ein letzter Anlass für eine Bildung, die in der Tat Anpassung und Unterwerfung nicht beabsichtigt: Lasst die Kinder ausbrechen, gebt ihnen nicht nur Gelegenheit, sondern – wo nötig – eine guten Grund, die Familie, die Schule, die Stadt zu verlassen. Die Verhältnisse ermutigen sie nicht dazu – dann tut ihr es, Eltern und Lehrer! […] Familienzeit, Schulzeit, Lehrzeit sind Zeiten der Abhängigkeit. Das hat seinen Sinn, aber auch ungewollte Folgen. Beidem – der Angepasstheit und dem Ausbrechen – kann man vorbeugen: durch geordneten Aufbruch.“ (ebd., S. 136f.)
Statt, wie in der Schule üblich, einen verbindlichen materialen Bildungskanon aufzustellen, sieht von Hentig in der Benennung von Kriterien und Anlässen für Bildung deutliche Vorteile:
„Einen Vorzug hat diese Darstellung von Bildung anhand ihrer Anlässe auf jeden Fall: Sie konstituiert keine Zweiklassengesellschaft, hie Gymnasiasten, da Nicht-Gymnasiasten, hie volkstümlich Gebildete, wie es einst hieß, da akademisch Gebildete; es wird auch kein Bildungs-Einheitsbrei angerührt, sondern aus diesen Quellen und an diesen Anlässen kann sich jeder nach seinem Maß bilden, nicht zuletzt weil man mit ihnen allen – anders als mit unserem Geschichts- oder Physik- oder Mathematikunterricht – in frühester Kindheit anfangen kann und weil kein Ende der Bildungseinrichtung, kein Examen die so verstandene Bildung abschließt.“ (ebd., S. 137f.)
Politische Bildung
Der formale Bildungsgedanke von Hentigs gipfelt im Bekenntnis zu einer antiken Idee der Politik. Sowohl im Denken der griechischen Antike als auch in der römischen Antike war es eine der wesentlichen Aufgaben des Gebildeten, an den öffentlichen Angelegenheiten in den Stadtstaaten oder Städten, griechisch „polis“, lateinisch „res publica“, aktiv und engagiert teilzunehmen. Von Hentigs Plädoyer für diese Seite von Bildung erscheint aus heutiger Sicht einigermaßen fremd, weil wir an die Stelle des öffentlichen Engagements und gemeinschaftlicher Verantwortung unsere individuellen Bedürfnisse und unser „Selbst“ und dessen Verwirklichung gesetzt haben.