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2.1 „Recht auf Bildung“
ОглавлениеBildungsrecht
Seit der frühen Neuzeit beanspruchen Staaten die Aufsicht und maßgebliche Organisation der Bildung ihrer Bürger und richten ein Schulwesen ein, das zunehmend wirkungsvoll und zeitlich expandierend die Kinder und Jugendlichen integriert. Das Verhältnis von Staat, Bürger und Schule ist rechtlich geregelt, Bildung ist somit in der Gegenwart eine Angelegenheit des Rechts. Im Bildungsrecht werden drei Fragen, genauer: drei konstitutive Konflikte geregelt (vgl. RICHTER1999, S. 97ff.):
(1) Wer bestimmt über Erziehung und Bildung, der Staat, die Eltern oder die Individuen („Sozialisationskonflikt“)?
(2) Wie einheitlich oder wie plural ist das Bildungswesen auf seinen verschiedenen Stufen organisiert, sind es öffentliche oder private Bildungseinrichtungen („Pluralismuskonflikt“)?
(3) Welcher Institution kommt die Regelungskompetenz im Bildungsbereich zu, der EU, dem Bund, den Ländern, den Kommunen, den Wirtschafts- oder Wohlfahrtsverbänden oder der Kirche („Institutionalisierungskonflikt“)?
Landesrecht
Die Mehrzahl der Bundesländer, denen entsprechend der föderalistischen Tradition Deutschlands die Kulturhoheit, d. h. die Zuständigkeit für Schulgesetzgebung und -verwaltung zukommt (vgl. Art. 30 und Art. 70ff. GG), hat in ihren Verfassungen Normen über das Schulwesen aufgenommen. Inhaltlich stimmen sie mit den Vorschriften des Grundgesetzes überein, das trotz vieler Kontroversen zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern die Einheitlichkeit des Rechts garantiert (vgl. AVENARIUS 2001, S. 6ff.). Ein Recht auf Bildung kennt z. B. die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen: „Jedes Kind hat Anspruch auf Erziehung und Bildung.“ (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 NRW Verf.) wie die von Bayern: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten.“ (Art. 128, Abs. 1 bayr. Verf.) oder die von Sachsen: „Alle Bürger haben das Recht, die Ausbildungsstätte frei zu wählen. Alle Bürger haben das Recht auf gleichen Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen.“ (Art. 29 sächs. Verf.)
EU-Recht
Das europäische Gemeinschaftsrecht hat grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht, die Organisation des Bildungswesens und die Bildungspolitik fielen von Anfang an jedoch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaftsorgane. Der EG-Vertrag von Maastricht enthält mit den Artikeln 149 und 150 ein eigenes Bildungskapitel, in dem die Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung als Aufgabe festgeschrieben, eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten jedoch ausgeschlossen ist.
„Recht auf Bildung“
Maßgeblich sind also die im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte. Ein „Recht auf Bildung“ ist dort allerdings nicht kodifiziert. Es lässt sich jedoch aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Recht der freien Wahl der Ausbildungsstätte (vgl. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) herleiten, allerdings ist die Ableitung dieses Rechts und subjektiver Ansprüche auf staatliche Leistungen unter Juristen umstritten. In Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (vgl. Art. 3 Abs. 1GG) und dem Sozialstaatsgebot lässt sich aus diesen Grundrechten „ein Anspruch auf gleiche Teilhabe an den vorhandenen öffentlichen Bildungseinrichtungen ableiten“ (AVENARIUS 2001, S. 9), aber kein juristisch einklagbarer Anspruch des Einzelnen auf staatliche Leistungen.
Bürgerrecht auf Bildung
In der Zeit der Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre ist das „Bürgerrecht auf Bildung“ öffentlich eingefordert worden. Ralf Dahrendorf hat mit der Berufung auf dieses Recht eine aktive Bildungspolitik gefordert, die die Menschen durch eine entsprechende Reform in die Lage versetzt, von ihren durch das Grundgesetz verbürgten Rechten auch wirklich Gebrauch zu machen.
„Rechtliche Chancengleichheit bleibt ja eine Fiktion, wenn Menschen auf Grund ihrer sozialen Verflechtungen und Verpflichtungen nicht in der Lage sind, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Wer seine Kinder zwar auf die höhere Schule schicken darf, aber durch den Kenntnis- und Wunschhorizont seiner sozialen Lage – als Katholik etwa oder als Arbeiter, als Dorfbewohner – gar nicht auf den Gedanken kommt, dies auch zu tun, ist ein sehr abstrakter Staatsbürger, ein Staatsbürger der Theorie, doch nicht der Realität. Daß jede Chance zwei Seiten hat, die der objektiven Möglichkeit – der Erlaubnis – und die der subjektiven Möglichkeit – der Fähigkeit – , ist ein Gedanke, der fast so alt ist wie die modernen Verfassungen, die dennoch immer wieder Menschen Dinge erlauben, ohne sie in die Lage zu versetzen, ihre Rechte auch auszunutzen. Das Recht aller Bürger auf Bildung nach ihren Fähigkeiten bliebe daher unvollständig ohne das Zerbrechen aller ungefragten Bindungen, also dem Schritt in eine moderne Welt aufgeklärter Rationalität. Um dieses Bürgerrecht zu garantieren, reicht auch die beste Verfassung nicht; hier ist vielmehr Politik nötig. Darum begründet das Prinzip des Bürgerrechtes auf Bildung eine aktive Bildungspolitik.“ (DAHRENDORF 1965, S. 23f.)
Chancengleichheit
Dahrendorf unterscheidet zwischen einer formellen Chancengleichheit, der rechtlich garantierten gleichen Zugangschance zu weiterführenden Bildungsgängen für Kinder aus allen sozialen Schichten und Bevölkerungsgruppen allein nach dem Kriterium schulischer Leistungen, und einer materialen Chancengleichheit als der realen Möglichkeit für alle Kinder, die Zugangschancen auch subjektiv zu nutzen. Aktive Bildungspolitik trägt zur Modernisierung der Gesellschaft bei, wenn sie den Bürgern zu den Möglichkeiten verhilft, ihre Rechte auch wahrzunehmen.
Auch die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates argumentierte in dem 1970 veröffentlichten „Strukturplan für das Bildungswesen“ für eine grundlegende Reform des gesamten Bildungswesens mit der Notwendigkeit der Verwirklichung der Grundrechte.
Begründung der Bildungsreform
„Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland macht nach Art. 1 aller staatlichen Gewalt zur Pflicht, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Nach Art. 2 garantiert es jedem einzelnen das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Verfassungen der Bundesländer enthalten entsprechende Verpflichtungen und Garantien. An diese Verfassungssätze sind auch alle Bildungseinrichtungen gebunden. […]
Im Strukturplan wird das Bildungswesen im Sinne der Verfassungen von Bund und Ländern unter den leitenden Gesichtspunkt gestellt, daß der Mensch befähigt werden soll, seine Grundrechte wahrzunehmen und die ihnen entsprechenden Pflichten zu erfüllen. Dem Bildungswesen fällt insbesondere die Aufgabe zu, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der einzelne das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie das Recht auf freie Wahl des Berufs (Art. 12) wahrnehmen kann.“ (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1972, S. 25)
Ziele der Bildungsreform
„Das umfassende Ziel der Bildung ist die Fähigkeit des einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben, verstanden als seine Fähigkeit, die Freiheit und die Freiheiten zu verwirklichen, die ihm die Verfassung gewährt und auferlegt. […]
Die im Grundgesetz genannten Grundrechte, die hier stellvertretend für alle humanen Grundrechte stehen, gelten für alle in gleicher Weise. Jeder einzelne soll sie wahrnehmen können und sich so verhalten, daß er jedem anderen Mitglied der Gesellschaft die Wahrnehmung derselben Grundrechte selbstverständlich zugesteht. Damit ergeben sich aus den Grundrechten auch Pflichten. Jeden Staatsbürger zur Wahrnehmung seiner Rechte und zur Erfüllung seiner Pflichten zu befähigen, muß deshalb das allgemeine Ziel der Bildung sein, für die nächst den Eltern der Staat sorgen muß. Die Aufsicht über das gesamte Schulwesen ist nach Art. 7 des Grundgesetzes Pflicht des Staates.
Aus den Grundrechten und den abgeleiteten Pflichten im demokratischen und sozialen Rechtsstaat ergibt sich, daß das öffentliche Bildungsangebot bestimmte für alle Lernenden gemeinsame Elemente aufweisen muß. Die Zielorientierung, die pädagogische Grundlinie, die Wissenschaftsbestimmtheit sowohl der Lerninhalte als auch der Vermittlung müssen für alle Schullaufbahnen in gleicher Weise gelten.
Wenn sich Schullaufbahnen auch weiterhin nach Lerninhalten, Lernverfahren und Lernansprüchen unterscheiden werden, so wird es doch nicht länger möglich sein, Rangunterschiede dadurch zu begründen, daß man einer volkstümlichen eine wissenschaftliche Bildung entgegensetzt. Das organisierte Lernen soll für alle wissenschaftsorientiert sein. Auch wird es nicht länger zu rechtfertigen sein, einer allgemeinen eine nur berufliche Bildung gegenüberzustellen. Das Lernen soll den ganzen Menschen fördern. Dazu gehört, daß jeder das Lernen erlernt. Das soziale System des Lernens soll in allen Bildungseinrichtungen dazu führen, daß die für das Zusammenleben erforderlichen Verhaltensweisen erworben werden. Allen Staatsbürgern soll es möglich sein, den gleichen Anspruch auf Bildung in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Anspruchsebenen zu realisieren. […]
Chancengleichheit
Das Recht auf schulische Bildung ist dann verwirklicht, wenn Gleichheit der Bildungschancen besteht und jeder Heranwachsende so weit gefördert wird, daß er die Voraussetzungen besitzt, die Chancen tatsächlich wahrzunehmen. Der Strukturplan will deshalb darauf hinwirken, daß bestehende Ungleichheiten der Bildungschancen so weit wie möglich abgebaut werden. Dem Bildungssystem soll eine Verfassung gegeben werden, die niemanden durch Zwang zu nicht korrigierbaren Entscheidungen von bestimmten Chancen ausschließt oder auf andere Weise benachteiligt.
Die Chancengleichheit soll nicht durch eine Nivellierung der Anforderungen angestrebt werden. Die Aufgabe ist vielmehr, frühzeitig die Chancenunterschiede der Kinder auszugleichen und später das Bildungsangebot so zu differenzieren, daß die Lernenden ihren Lerninteressen und Lernmöglichkeiten entsprechend gefördert werden und entsprechende Angebote weiterführender Bildung antreffen. Gleichheit der Chancen wird in manchen Fällen nur durch die Gewährung besonderer Chancen zu erreichen sein. […]
Die Ansprüche auf schulische Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit führen zu dem Grundsatz, daß jeder einzelne so weit wie möglich zu fördern ist. Die Lernangebote müssen deshalb die unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten des Lernenden berücksichtigen. Diese Berücksichtigung des individuellen Bildungsstrebens macht eine Individualisierung des Lernens und somit eine reiche Differenzierung der Bildungswege erforderlich. Zum anderen kann die Differenzierung im rechten Zeitpunkt eine berufliche Orientierung einleiten und die freie Berufswahl vorbereiten helfen.“ (ebd., S. 29 – 31)
„Strukturplan“
Die Reform des Bildungswesens sollte jedem die Wahrnehmung seiner durch das Grundgesetz verbürgten Rechte und gleiche Chancen der Bildung ermöglichen. Die Bildungsreform sollte so zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft beitragen. Die Reform bestand zum einen in der Vereinheitlichung der Struktur und der horizontalen Gliederung des gesamten Bildungswesens (nach Stufen) an Stelle des dreigliedrigen, vertikal gegliederten Schulsystems und zum anderen in der Vereinheitlichung und Modernisierung der Curricula durch das Prinzip der Wissenschaftsbestimmtheit der Inhalte an Stelle der traditionellen Unterscheidung einer niederen, volkstümlichen Bildung und einer höheren, akademischen Bildung. Zu den grundlegenden Merkmalen der Reform gehörten außerdem die Kompensation von Bildungsbenachteiligung (von Mädchen, von Arbeiter-, von Land- und von katholischen Kindern), die Individualisierung des Lernens, die Differenzierung von Bildungswegen, die größere Durchlässigkeit der Bildungsgänge, die Wahl von Ausbildungsschwerpunkten, die Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung, die Hervorhebung des Erlernens des Lernens und eines lebenslangen Lernens. Der Strukturplan wurde nur in Ansätzen verwirklicht, viele seiner Prinzipien und organisatorischen Maßnahmen sind bis heute politisch umstritten. Die Bildungsreform vollzog sich viel unsystematischer, in ganz anderen Zeiträumen, mit unvorhergesehenen Nebenwirkungen und mit bis heute ungelösten Problemen (vgl. CORTINAU. A. 2003, S. 136 ff.).