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2.5 Bildung aus politischer Sicht
ОглавлениеAufruf zur Bildungsreform
Roman Herzog, Bundespräsident von 1994 bis 1999, hat am 5. November 1997 auf dem Berliner Bildungsforum seine berühmt gewordene Rede „Aufbruch in der Bildungspolitik“ gehalten. Die viel beachtete und rhetorisch erfolgreiche Rede des ehemaligen Bundespräsidenten soll hier aber nicht im Einzelnen erörtert werden. Sie steht hier exemplarisch für ein Reden über Bildung, das für die Bildungspolitik und weite Teile des öffentlichen Diskurses der Gegenwart charakteristisch ist. Gerade auch im Vergleich zu anderen Redeweisen – wie den oben schon dargestellten Erzählungen über Bildung – sind die einführenden Abschnitte der Rede, die das Verständnis von Bildung ausbreiten, bemerkenswert.
„Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land. Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen. Wer sich den höchsten Lebensstandard, das beste Sozialsystem und den aufwendigsten Umweltschutz leisten will, der muß auch das beste Bildungssystem haben.
Außerdem ist Bildung ein unverzichtbares Mittel des sozialen Ausgleichs. Bildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und noch immer die beste Prophylaxe gegen Arbeitslosigkeit. Sie hält die Mechanismen des sozialen Auf- und Abstiegs offen und hält damit unsere offenen Gesellschaften in Bewegung. Und sie ist zugleich das Lebenselixier der Demokratie in einer Welt, die immer komplexer wird, in der kulturelle Identitäten zu verschwimmen drohen und das Überschreiten der Grenzen zu anderen Kulturen zur Selbstverständlichkeit wird.
Man sagt das so leicht, Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Aber wie steht es dann um diese Zukunft, wenn die besten Köpfe dieser Welt auf der Suche nach den besten Ausbildungsmöglichkeiten nicht mehr nach Deutschland kommen?
Noch ist es so, dass Eliten in Asien und Südamerika häufig deutsch sprechen, weil sie in Deutschland studiert haben. Das schafft Bindungen für das ganze Leben. Aber die Söhne und Töchter dieser Eliten zahlen inzwischen lieber hohe Studiengebühren in den USA, als daß sie an unseren Universitäten studieren möchten. Es ist nicht nur der Verlust an Internationalität, der uns schadet. Darin steckt vor allem die unverblümte Nachricht: Ihr seid nicht mehr gut und rasch genug. Diese Nachricht müsste uns so treffen wie einst der Sputnikschock die USA! Als Signal dafür, jetzt alle Kräfte zusammenzunehmen und einen neuen Aufbruch zu wagen.“ (HERZOG 1998, S. 67)
Gesellschaftliche Nützlichkeit von Bildung
Bildung ist in Herzogs Rede Mittel für ökonomische und politische Zwecke. Die politische Sorge um die ökonomische Leistungsfähigkeit der Nation bestimmt den Blick auf das Bildungssystem wie auf die Bildung der Individuen. Sie werden als Bedingungen für innovatives, anwendbares und Gewinn bringendes Wissen und insofern als Beiträge zu den ökonomischen Ressourcen des Landes betrachtet.
Neben dieser ökonomischen Perspektive auf Bildung wird auch ihre gesellschaftspolitische Bedeutung angesprochen. Bildung soll der Integration, dem sozialen Ausgleich und dem nationalen Zusammenhalt dienen. Das Versprechen, dass jeder durch seine eigene Leistung seinen Erfolg erreichen kann und dass seine Stellung in der Gesellschaft Resultat seiner Leistung ist, soll durch Bildung eingelöst werden. Mit der Aussicht auf eine Arbeit oder einen Beruf, mit der Chance eines sozialen Aufstiegs, kommt Bildung eine sozial integrierende Funktion zu. Ihre integrative Funktion erfüllt Bildung darüber hinaus, indem sie durch die Vermittlung von Werten Identität stiftet. Gerade in einer weltoffenen Kultur und globalisierten Welt ist für Herzog Bildung als „das Wissen über die eigene Herkunft und die eigenen prägenden Traditionen“ (ebd., S. 72) elementar. Schließlich sieht Herzog in dem Attraktivitätsverlust der deutschen Universitäten bei ausländischen Eliten langfristig ökonomische Wirkungen, die der Nation schaden und zudem einen Ansehensverlust für ein Land, dessen Bildungssystem in der Vergangenheit als weltweit vorbildlich galt.
Für Herzog ist ein „Kosten-Nutzen-Denken nicht bildungsfeindlich“ (ebd., S. 69), ganz im Gegenteil unterwirft er Bildung dieser Denkweise. Aus politischer Sicht soll Bildung der Volkswirtschaft, der sozialen Integration und letztlich der Stellung der Nation in der Welt nutzen. In diesem Sinn wird das Bildungssystem umgestaltet (zur Kritik vgl. HERRLITZ 1998; RUHLOFF 1998).
Wertevermittlung als Korrektiv
Nun ließe sich einwenden, dass in der Rede nicht nur eine ökonomisch und politisch funktionale Bildung in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch die „Persönlichkeitsbildung“ angesprochen wird. Aber die ist kein kritisches Korrektiv, sondern „das Vermitteln von Werten und sozialen Kompetenzen“ wird wie „die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten“ (HERZOG 1998, S. 71) in der Perspektive ihrer Leistung für Staat und Wirtschaft gesehen und besprochen.
Die funktionale Sicht findet sich auch in anderen politischen Reden. Der Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Johannes Rau, hat ebenfalls in mehreren Reden zu Fragen der Bildung und des Bildungssystems Stellung genommen und Korrekturen an den Positionen seines Vorgängers vorgenommen. Aber trotz anderer Akzentuierungen ist auch sein Blick auf Bildung gesellschaftsfunktional. So führt er in seiner Rede vom 15. Juni 2001 in Berlin „Den ganzen Menschen bilden“ aus:
Bildung als Orientierung und Urteilsfähigkeit
„Ich freue mich über das neu erwachte Interesse an Bildung. Aber ich frage mich doch manchmal, ob die öffentliche Diskussion über „Bildung“ und „Wissen“ breit genug angelegt ist und tief genug schürft.
Wissen kommt häufig nur als Instrument vor, als ein Werkzeug, das man braucht, um erfolgreich zu sein. Bildung erscheint oft als bloße Technik, diese Art von Wissen zu vermitteln, so effizient wie möglich und am besten mithilfe von Computern.
Selbstverständlich sind Wissen und Bildung auch unverzichtbare Werkzeuge. Diese Funktion von Wissen und Bildung war gewiss noch nie so wichtig wie heute. […]
All das ändert aber nichts daran, dass wir uns ein so beschränktes Verständnis von Wissen und Bildung nicht mehr leisten können, weil es nicht nur falsch, sondern auch wirklichkeitsfremd ist. Wer im Wissen nur das Werkzeug sieht und Bildung nur als das Vermitteln von Informationen begreift, der ist auf einem Auge blind. Wir wissen doch alle, dass wir unser Wissen nur dann sinnvoll nutzen können, wenn wir auch Orientierung und Urteilsfähigkeit besitzen. Die brauchen wir, damit wir entscheiden können, welches der Werkzeuge aus dem Baukasten des Wissens wir wie einsetzen können und müssen.“ (RAU 2004, S. 41f.)
Rau wendet sich gegen die instrumentelle Sicht von Wissen und Bildung. Bloßes Wissen und eine auf Informationsvermittlung beschränkte Bildung reichen seiner Ansicht nach nicht aus. Es bedarf auch der Orientierung und Urteilsfähigkeit, um Wissen und Bildung sinnvoll nutzen zu können. Er kritisiert also nicht grundsätzlich ein instrumentelles Verständnis von Bildung, sondern eine bestimmte, eine einseitige Bildungsvorstellung als falsch und wirklichkeitsfremd. Letztlich betrachtet auch er Bildung unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit.
Nützlichkeit von Persönlichkeitsbildung
„Die neuen Möglichkeiten, die sich durch Beschleunigung, Mobilität und Flexibilität ergeben, eröffnen neue Freiheitschancen; sie führen aber auch zu neuen Zwängen. Wer die Wahl hat, unterschiedliche Wege zu gehen, der muss sich entscheiden. Wer das nicht tut oder nicht kann, der kann daran zerbrechen. Das verhindern zu helfen, darin liegt eine entscheidende Aufgabe einer Bildung für den ganzen Menschen.
Damit die Menschen ihre Freiheitschancen nutzen und aus dem Zwang zur Entscheidung etwas machen können, damit sie sich am Arbeitsplatz und im Alltag immer wieder erfolgreich neuen Herausforderungen stellen können, brauchen sie mehr als Wissenswerkzeuge, die sie klug nur für einmal machen.
Wie sollte das auch funktionieren in einer Zeit, in der nichts beständig scheint außer dem Wandel? Jeder Segler weiß doch: Je rauer die See, desto wichtiger ist es, dass der Kompass funktioniert. Jeder Kletterer weiß doch: Je schwieriger die Bergwand ist, desto wichtiger ist die Sicherung.
Das muss die Bildung den Menschen auch geben, vielleicht sogar in erster Linie: einen Kompass, der ihnen hilft, sich in einer Welt des raschen Wandels zu orientieren, und die innere Sicherungsleine, die sie hält, wenn einmal alle Stricke reißen. […]
Nur Menschen, die mehr innere Substanz, mehr Erfahrung und mehr Kenntnisse haben, als sie im Moment im Beruf und Alltag brauchen, können auf Dauer dem Druck der Veränderung nicht nur standhalten, sondern die Veränderung auch mitgestalten. Das gilt im Übrigen ein Leben lang.“ (ebd., 44f.)
Rau wendet sich gegen eine auf unmittelbare Brauchbarkeit in der Gegenwart bezogene Bildung mit dem Hinweis auf zukünftige Entwicklungen der Gesellschaft. Wenn diese Zukunftsperspektiven, die er mit den Stichworten „Beschleunigung, Mobilität, Flexibilität“ bezeichnet, und die damit verbundenen Anforderungen und Risiken für den Einzelnen bedacht werden, kommt der „Bildung der Sinne, des Herzens, des Gemüts, des ganzen Menschen“ (ebd., S. 47) eine andere, eine entscheidende Bedeutung zu. Gerade auf längere Sicht und in der Gewissheit des ständigen Wandels ist „eine Bildung für den ganzen Menschen“ angemessener und funktionaler als eine bloße Schulung von Verstand und Gedächtnis oder die Vermittlung von Informationen und Detailwissen. Wie sein Vorgänger erörtert also auch Rau aus der Perspektive der Sorge um die Zukunft des Landes Bildung in ihrer möglichen und gewünschten Leistung für Staat und Wirtschaft.