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1.4 Werner Heisenberg: Das Teil und das Ganze

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Der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg berichtet in seinen autobiographischen Schriften von einer Situation, die für seinen weiteren Lebensweg und für die Entwicklung seines Denkens von großer und nachhaltiger Bedeutung war. Im Frühjahr des Jahres 1919 zeichneten sich nach den Kriegswirren erste geordnete Verhältnisse ab, so dass der Schüler Heisenberg mit einem baldigen Wiederbeginn des Schulunterrichts rechnete. Während der Vorbereitung auf den Griechischunterricht geriet er an jene Passage in Platons „Timaios“, in der von den kleinsten Teilchen der Materie die Rede ist.

„Um verständlich zu machen, daß mir die Erinnerung an das Studium des , Timaios‘ in diesem Moment sehr viel bedeutete, muß wohl auch kurz über die merkwürdigen Umstände berichtet werden, unter denen diese Lektüre stattgefunden hatte. Im Frühjahr 1919 herrschten in München ziemlich chaotische Zustände. Auf den Straßen wurde geschossen, ohne daß man genau wußte, wer die Kämpfenden waren. Die Regierungsgewalt wechselte zwischen Personen und Institutionen, die man kaum dem Namen nach kannte. Plünderungen und Raub, von denen einer mich einmal selbst betroffen hatte, ließen den Ausdruck ,Räterepublik als Synonym für rechtlose Zustände erscheinen. Als sich dann schließlich außerhalb Münchens eine neue bayerische Regierung gebildet hatte, die ihre Truppen zur Eroberung von München einsetzte, hofften wir auf Wiederherstellung geordneter Verhältnisse. Der Vater des Freundes, dem ich früher bei den Schularbeiten geholfen hatte, übernahm die Führung einer Kompanie von Freiwilligen, die sich an der Eroberung der Stadt beteiligen wollten. Er forderte uns, das heißt die halberwachsenen Freunde seiner Söhne, auf, als stadtkundige Ordonnanzen bei den einrückenden Truppen zu helfen. […]

Um mich allmählich wieder auf die Schule vorzubereiten, zog ich mich dann mit unserer griechischen Schulausgabe der Platonischen Dialoge auf das Dach des Priesterseminars zurück. Dort konnte ich, in der Dachrinne liegend und von den ersten Sonnenstrahlen durchwärmt, in aller Ruhe meinen Studien nachgehen und zwischendurch das erwachende Leben auf der Ludwigstraße beobachten. An einem solchen Morgen, als das Licht der aufgehenden Sonne schon das Universitätsgebäude und den Brunnen davor überflutete, geriet ich an den Dialog , Timaios‘, und zwar an jene Stelle, wo über die kleinsten Teile der Materie gesprochen wird. Vielleicht hat mich die Stelle zunächst nur deswegen gefesselt, weil sie schwer zu übersetzen war oder weil sie von mathematischen Dingen handelte, die mich immer schon interessiert hatten. Ich weiß nicht mehr, warum ich meine Arbeit gerade auf diesen Text besonders hartnäckig konzentrierte. Aber was ich dort las, kam mir völlig absurd vor. Da wurde behauptet, daß die kleinsten Teile der Materie aus rechtwinkligen Dreiecken gebildet seien, die, nachdem sie paarweise zu gleichseitigen Dreiecken oder Quadraten zusammengetreten waren, sich zu den regulären Körpern der Stereometrie Würfel, Tetraeder, Oktaeder und Ikosaeder zusammenfügten. Diese vier Körper seien dann die Grundeinheiten der vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser. Dabei blieb mir unklar, ob die regulären Körper nur als Symbole den Elementen zugeordnet waren, so etwa der Würfel dem Element Erde, um die Festigkeit, das Ruhende dieses Elements darzustellen, oder ob wirklich die kleinsten Teile des Elements Erde eben die Form des Würfels haben sollten. Solche Vorstellungen empfand ich als wilde Spekulationen, bestenfalls entschuldbar durch den Mangel an eingehenden empirischen Kenntnissen im alten Griechenland. Aber es beunruhigte mich tief, daß ein Philosoph, der so kritisch und scharf denken konnte wie Plato, doch auf derartige Spekulationen verfallen war. Ich versuchte, irgendwelche Denkansätze zu finden, von denen aus die Spekulationen Platos mir verständlicher werden könnten. Aber ich wußte nichts zu entdecken, was auch nur von ferne den Weg dahin gewiesen hätte. Dabei ging für mich von der Vorstellung, daß man bei den kleinsten Teilen der Materie schließlich auf mathematische Formen stoßen sollte, eine gewisse Faszination aus. […] So benützte [sic!] ich den Dialog weiterhin nur, um meine Kenntnisse im Griechischen aufzufrischen. […] Die Beunruhigung blieb und wurde für mich ein Teil jener allgemeinen Unruhe, die die Jugend in Deutschland ergriffen hatte. Wenn ein Philosoph vom Rang Platos Ordnungen im Naturgeschehen zu erkennen glaubte, die uns jetzt verlorengegangen oder unzugänglich sind, was bedeutet dann das Wort ,Ordnung überhaupt? Ist Ordnung und ihr Verständnis an eine Zeit gebunden?“ (HEISENBERG 1984, S. 19ff.)

Negativität und Krisen

Heisenberg will die Welt kennen lernen, das entspricht seiner Grundhaltung. Diese Neugierde lässt ihn auch über Platons Dialog „Timaios“ „stolpern“, er „gerät“ an ihn. Doch die Lektüre eignet sich offensichtlich nicht gut für den Zweck des Griechischlernens. Die Überlegungen Platons widersetzen sich Heisenbergs Weltsicht und irritieren sein Auswendiglernen. Er wird im Nichtdenken gestört. Heisenberg erzählt hier einen Bildungsprozess, der durch eine negative Erfahrung ausgelöst wird. Bildung erscheint im Zusammenhang mit der Fraglichkeit der eigenen Vorstellungen als eine neue Sicht auf die Welt und markiert ein verändertes Verhältnis zu ihr. Sie ist zugleich eine Erfahrung über Erfahrungen selbst.

Die Lektüre, eigentlich nur zur Auffrischung des Griechischen gedacht, schafft Unruhe und stellt eine vorgefasste Ordnung in Frage. Aber sie bleibt nicht nur auf Platon und die Frage nach den kleinsten Teilchen der Materie begrenzt. Heisenberg stellt sich grundsätzlich die Frage, was Ordnung denn überhaupt sei. Vielleicht sind Ordnungen an die jeweilige geschichtliche Situation gebunden? Dann wären seine Ordnung des Denkens, aber auch die Ordnung des Zusammenlebens und vieles mehr, ebenfalls an eine Zeit gebunden. Woran kann man sich dann noch orientieren?

Einführung in die Theorie der Bildung

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