Читать книгу Gliss. Tödliche Weite - Andreas Eschbach - Страница 10

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An die Rückfahrt erinnere ich mich nur dunkel. Die Mädchen, die bestanden hatten, giggelten und kicherten in einem fort. Nicht auszuhalten! Piotr war froh, dass er durchgefallen war und nicht an die Universität musste – aber er hatte immerhin 37 Punkte erreicht.

Es war zum Heulen.

Nagendra hatte es plötzlich eilig gehabt, zurück nach Hope zu kommen. »Tut mir echt leid, Cousin«, hatte er gesagt und dass er sich, leider, leider, dringend um seine Abschlussarbeit kümmern müsse. Dann war er abgezischt.

Ich hatte die Prüfer gefragt, ob ich meine benoteten Blätter noch einmal sehen dürfe, aber nein, das war nicht vorgesehen. Doch ich konnte mir auch so zusammenreimen, dass mir Isaac Newton null Punkte eingebracht hatte. Bei den übrigen Aufgaben hatte ich nur hier und da einen Treffer gelandet.

Als wir in Sonnenblick anlegten, ertönte schon der Abendgong, und der Himmel färbte sich vor der Flutnacht golden. In Knick sah ich die Steine aufgetürmt, die heute aus Felsbruch gekommen waren, und nickte Piotr zum Abschied zu, als er ausstieg. In Dreibuchen verließen die beiden Mädchen den Glisser, ohne mich zu beachten, ganz in ihr Gespräch vertieft, was sie in Hope machen, wo sie hingehen und was sie anziehen würden.

Und dann erreichten wir Letz, wo gerade die Braunkäfer flogen wie verrückt.

»Gute Nacht«, sagte der Glisseur, der am Morgen die Liste gehabt hatte.

»Gute Nacht«, erwiderte ich. »Und danke.«

Ich sah zu, wie sie den Glisser zurück auf den Pfad schoben, sich an der Barriere abstießen und fast geräuschlos davonglitten. Im orangefarbenen Licht der anbrechenden Flutnacht sah das Gliss besonders unwirklich aus: Als würden sie auf einer Rauchwolke schweben.

Wahrscheinlich wäre ich noch lange dagestanden, wenn mich die Käfer nicht so geplagt hätten. Sie umschwirrten meinen Kopf, krochen unter mein Hemd und in meine Ohren, und so machte ich, dass ich die Straße hinaufkam. Die meisten Fenster waren schon verdunkelt, nur bei uns zu Hause noch nicht. Meine Eltern saßen in der Küche, als ich hereinkam, und ich musste kein Wort sagen. Sie sahen mich an und wussten Bescheid.

Mein Vater goss ein Glas Bier ein, stellte es mir hin und brummte: »Landwirt ist auch ein anständiger Beruf. Nicht bloß was für Dumme. Ganz bestimmt nicht.«

Am nächsten Tag wehte Nebel übers Land und ließ alles noch trostloser aussehen. Ich begleitete meinen Vater zu den Feldern am Wasserloch, um sie nach der Überflutung wieder in Ordnung zu bringen.

Wie jeder, der in einer Wasserlochsiedlung aufwuchs, hatte ich schon oft dabei geholfen. Aber von nun an war es kein Helfen mehr, sondern meine Pflicht, bis ich eines Tages zu alt und zu schwach dafür sein würde. Es fühlte sich so endgültig an. So musste es sein, wenn man die Tore eines Gefängnisses hinter sich zuschlagen hörte.

Vater versuchte gleich, mir die Feinheiten des Berufs näherzubringen. Er ließ mich zum ersten Mal den Schlamm von den Blechen wegschaufeln, die verhindern, dass das zurücklaufende Wasser zu viel Erdreich fortträgt, und erklärte mir, wie man ihn richtig auf den Feldern verteilt. Das hatte er bisher immer selber gemacht.

Irgendwann tauchte Phil auf, um mitzuhelfen. Er wollte wissen, wie es gelaufen war. Als ich es ihm sagte, konnte er es kaum fassen. »Dürre! Und das, obwohl du so gebüffelt hast!«

»Ja«, meinte ich grimmig. »Alles nachtwärts gegangen.«

Majala kam später auch kurz vorbei, nur um zu fragen, wie es mir ergangen sei. Sie musste ihrem Vater bei den Windrädern helfen, von denen eins blockte. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Was machst du denn jetzt?«

»Na, was wohl?«, erwiderte ich und zeigte auf meine Schaufel.

Sie nickte bedrückt. »Verstehe. Gemein, dass man keine zweite Chance kriegt …« Sie deutete in Richtung Windanlage, dünne Schatten im rötlichen Nebel. »Ich muss los. Vater will alles durchchecken, damit beim Fest der Strom nicht wieder ausfällt.«

»Was für ein Fest?«

Sie hob die Brauen. »Nagendra macht demnächst seinen Abschluss und kommt her. Zum Feiern. Weißt du das nicht?«

Kurz nach der Zulassungsprüfung fanden auch die Abschlussprüfungen statt. Gewusst hatte ich es, aber nicht darüber nachgedacht, was das hieß.

»Hab ich verdrängt«, sagte ich und erwog, mich vorher freiwillig ins Höllenloch zu stürzen.

Allzu lange war es nicht möglich, das Herannahen dieses Festes zu verdrängen, denn Tante Disha machte mal wieder mächtig Wirbel. Nagendra habe bestanden, verkündete sie, von Haus zu Haus wandernd. Bestanden! Mit Auszeichnung! Einer der Besten sei er gewesen. Einer von fünf, die der Captain höchstpersönlich empfangen werde. Und gleich danach werde er nach Hause kommen!

Also plünderten wir die Erntefelder und halfen Raùl beim Schlachten von gleich zwei Rentieren, denn es würde nicht nur jede Menge Verwandtschaft kommen, sondern auch deren Freunde mit deren Verwandten. Phils Vater wusste kaum, wie er alle unterbringen sollte.

Dann war es so weit: Nagendra kam. In einem so prunkvollen Glisser, dass man hätte meinen können, der Captain selbst besuche uns.

Und Nagendra benahm sich auch, als sei er der Captain höchstpersönlich. Er stieg aus, winkte gönnerhaft in die Runde und zog so in einer Art Triumphmarsch ins festlich geschmückte Gemeindehaus ein. Bevor sich alle setzten, ging er von einem zum anderen und wechselte mit jedem ein paar Worte. Zu mir sagte er: »Schade, dass es nicht gereicht hat, Cousin. Aber immerhin, du hast es versucht.«

Ich konnte nur betreten nicken. War es nur mein glühender Neid, der Nagendras Worte klingen ließ, als tue ihm mein klägliches Versagen unendlich gut? Ich sagte lieber nichts. Oder zumindest so wenig wie möglich. Ich hatte dafür gesorgt, dass ich einen Platz am Rand hatte, und konzentrierte mich aufs Essen.

Sehr zu Phils Missfallen. »Was hast du denn?«, fragte er mehrmals.

Und ich brummte immer nur: »Nichts, nichts.«

Doch ehe ich mich’s versah, hielt Nagendra wieder eine Rede. Er erzählte von den Prüfungen und wie anstrengend die Zeit gewesen war. Er schilderte die Nächte, in denen er über seiner Abschlussarbeit gebrütet hatte, wie er jeden Satz und jede Formel immer aufs Neue überprüft und wie er darüber vergessen hatte, zu essen und zu trinken.

»Abgemagert bin ich!«, rief er und klopfte sich auf den Leib. Tatsächlich, er war dünner als früher, beinahe hager. »Aber es hat sich gelohnt. Der Zweite Offizier ist auf meine Arbeit aufmerksam geworden, und sie hat ihm so gut gefallen, dass er mich in seinen Stab berufen hat. Dort werden wir das Konzept, das ich entwickelt habe, in die Wirklichkeit umsetzen.«

Jemand klatschte Beifall, die anderen fielen ein. Wenn es stimmte, was er erzählte, war es allerdings wirklich beeindruckend – es beeindruckte sogar mich. Dem Zweiten Offizier unterstanden die Ordnungskräfte, also die Polizei, das Gefängnis und das Arbeitslager. Und er war einer der engsten Vertrauten des Captains. Wenn Nagendra gleich nach dem Studium für ihn arbeitete, gehörte er damit auf einen Schlag zum obersten Kreis der Gesellschaft!

»Was ist das für ein Konzept?«, fragte jemand.

Nagendra lächelte bedauernd. »Das darf ich leider nicht verraten. Es ist ein geheimes Vorhaben. Es hat mit einer bedeutsamen Entdeckung zu tun, die unsere Wissenschaftler vor einiger Zeit gemacht haben … Mehr darf ich darüber nicht sagen. Es ist Sache des Captains zu entscheiden, wann die Bevölkerung informiert wird.«

Wie sie alle staunten! Wie sie einander zunickten, als wüssten sie, was es mit diesen hochpolitischen Dingen auf sich hatte. Und wie sie strahlten, als Nagendra hinzufügte: »Doch das alles erzähle ich euch nicht, um anzugeben! Ich weiß, dass man hier in Letz keine Angeber mag. Ich erzähle es euch, um euch teilhaben zu lassen an dem, was mir widerfährt – denn so steil dieser Aufstieg auch ist, ich bin und ich bleibe einer von euch. Einer von hier. Einer aus Letz!«

Was für einen Applaus das gab! Man musste fast fürchten, dass das Dach jeden Moment abhob.

Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Eine bedeutsame Entdeckung, die man geheim hielt, aber den fabelhaften Nagendra weihte man natürlich ein. Na klar!

»Doch jetzt will ich euch nicht länger quälen, wo es aus der Küche von Meister Taylor so herrlich duftet!«, rief Nagendra. »Genug geredet – guten Appetit!«

Phil sprang auf, weil er beim Servieren helfen musste. Sogar die Zwillinge packten mit an, und sie stellten sich erstaunlich gut an. Es war Gary, der mir meinen Teller brachte, und ich fragte ihn, ob ich ein Bier dazu haben könnte.

»Was?«, rief er empört aus. »Nee. Minzwasser kannst du kriegen.«

Nachher sah ich ihn mit seiner großen Schwester sprechen. Offenbar erzählte er ihr davon, denn sie schauten mehrmals in meine Richtung.

Eine Weile später kam Lynn und stellte mir beiläufig einen Krug Bier auf den Tisch, wortlos, nur mit einem wissenden Zwinkern.

Nach dem Fest erhoben sich alle, ächzend, pappsatt und schwankend von zu viel Alkohol, um Nagendra zum Anlegeplatz zu geleiten. Diesmal ging ich auch mit, hielt mich aber abseits. Ich schwankte ebenfalls. Ich hatte deutlich mehr Bier getrunken, als ich vertrug.

Ich hielt mich von meiner Familie fern. Mutter stand bei Tante Disha und hatte nur Augen für ihren erfolgreichen Neffen, und meine Schwestern umringten Nagendra, als hofften sie, er würde eine von ihnen mitnehmen. Der Glisser stand bereit. Die vier Glisseure (vier!) hatten mitgegessen, sich brav an Minzwasser gehalten, und nun warteten sie in ihren schicken Uniformen, die Stakstangen kerzengerade aufgerichtet.

Mürrisch verfolgte ich, wie Nagendra Majala zur Seite nahm, anstatt endlich einzusteigen. Er verschwand mit ihr in Richtung der Barrikade und redete dabei auf sie ein. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber es konnte nichts Angenehmes sein, so empört, wie Majala die Augen aufriss. Sie wollte etwas erwidern, aber Nagendra brachte sie zum Schweigen, indem er ihr Gesicht zwischen die Hände nahm und ihr einen langen, besitzergreifenden Kuss auf die Lippen drückte.

Das alles sah nicht so aus, als gefiele es ihr. Eher, als wisse sie nicht, wie sie sich wehren solle.

Ich wäre am liebsten hin und hätte ihm eine reingehauen.

Wenn mir bloß gerade nicht zum Sterben schlecht gewesen wäre. Ich war froh, dass ich überhaupt noch stand.

Endlich ließ er von ihr ab, ging zurück, umarmte seine Eltern und lächelte noch einmal in die beifallklatschende Runde. Majala klatschte nicht. Ihr Gesicht war wie aus Stein. Nagendra trat an Bord und hob die Hand, während die vier Männer den Glisser hinaus auf den Pfad schoben.

Alles winkte, bis sie außer Sicht waren. Dann setzte sich die Menschenmenge träge wieder in Bewegung, zurück zum Gemeindehaus, um noch etwas zu trinken und einander zu versichern, was für ein toller Kerl Nagendra doch sei. Einer aus Letz eben.

Nur ich rührte mich nicht. Ich beobachtete Majala, die immer noch dastand wie versteinert. Erst nach einer ganzen Weile gab sie sich einen Ruck und folgte den anderen.

»Was war denn los?«, fragte ich, als sie auf meiner Höhe ankam.

»Was soll los sein?« Ihre Stimme bebte.

»Nagendra hat was zu dir gesagt, bevor er abgerauscht ist, und jetzt bist du ganz durcheinander.«

Majala sah an mir vorbei, in die Richtung, in der Hope lag. »Er hat gesagt, dass er die Tochter des Zweiten Offiziers heiraten wird.«

»Oh«, platzte ich heraus. »Dann können ja vielleicht wir beide heiraten?«

»Du bist betrunken«, sagte sie mit einem bitteren Lachen. Dann wandte sie sich ab und marschierte davon.

Ich schaute ihr nach. Es dauerte peinlich lange, bis mir dämmerte, was das hieß: Mit einem Versager wie mir würde sie sich nicht abgeben.

Gliss. Tödliche Weite

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