Читать книгу Gliss. Tödliche Weite - Andreas Eschbach - Страница 12

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Ich stand da wie gelähmt. War ich wirklich hier? Oder lag ich in Wahrheit in meinem Bett und träumte das alles nur?

Dann fiel mir Captainsruh wieder ein und wie ich auch dort das Gefühl gehabt hatte, alles nur zu träumen. Ein gefährliches Gefühl, das wusste ich jetzt. Ich schüttelte mich, holte tief Luft und wandte mich wieder dem Körper zu, der sich da näherte. Das hier war real. Etwas Bedeutsames passierte, und zwar wirklich und wahrhaftig.

Trotzdem wusste ich nicht, was ich tun sollte. Alarm schlagen? Es war ein Mann, das sah ich nun, und er trug ungewöhnliche Kleidung: graubraune Hosen und eine Jacke in derselben Farbe, fremdartig geschnitten und aus einem Material, das seltsam schimmerte. Er lag auf dem Rücken. Sein Gesicht sah aus wie verbrannt, seine Augen waren tief eingefallen.

Es war noch nie vorgekommen – zumindest hatte ich noch nie davon gehört –, dass irgendwelche Dinge aus der Weite in die Mündung gelangt waren. Und nun passierte es nicht nur, es kam gleich ein toter Mann!

Ich sah wie gelähmt zu, wie er heranrutschte, ganz langsam, lautlos. Bis er mit einem leisen, dumpfen Geräusch gegen den Stützbalken unter mir schlug, abprallte und genauso langsam wieder in die Richtung davonglitt, aus der er gekommen war.

Dieser leise, dumpfe Schlag riss mich endlich aus meiner Erstarrung. Mehr noch, er jagte mir einen heißen Schreck durch den Körper: Es durfte nicht geschehen, dass dieser Tote wieder in die Weite entschwand! Auf keinen Fall! Auch wenn ich nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, was das alles zu bedeuten hatte, woher der Tote kam und wie lange er schon über das Gliss trieb, so wusste ich doch, dass ich unbedingt dafür sorgen musste, dass seine Reise hier ein Ende fand.

Also rannte ich los wie der Wind über dem Gliss, schnappte mir eine der Reservestakstangen und hetzte damit dem Toten hinterher, am Pfad entlang, erschrocken, wie weit er schon wieder weg war.

Endlich überholte ich ihn. Ich trat dicht an den Glisspfad heran, der an dieser Stelle schon breiter war, als zwei Stakstangen maßen. Es gelang mir gerade noch, den toten Körper mit der Stange zu berühren und ihn abzubremsen.

Ich keuchte, vom Rennen, von der Aufregung, von der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich gerade erlebte. Jetzt keine Fehler machen! Vorsichtig manövrierte ich den Toten an den Rand des Glisspfads. Ich schaffte es, ihn ein Stück weit auf festen Grund zu schieben, weit genug, damit er nicht mehr davongleiten konnte.

Erst dann sah ich, dass ich an fast derselben Stelle stand, an der Phil, Majala und ich so oft gesessen hatten, um von Abenteuern zu träumen. Und nun stand ich hier und beugte mich fassungslos über einen toten Mann.

Ich hatte noch nicht viele Tote gesehen. Eigentlich nur meine Großmutter, und die hatte schön hergerichtet und sauber in ihrem Bett gelegen, ein so friedliches Lächeln auf dem Gesicht, dass man hätte glauben können, Totsein sei gar nicht so schlimm.

Dieser Tote war anders. Er sah irgendwie … vertrocknet aus. Verbrannt beinahe. Er hatte nicht einfach nur dunkle Haut, wie die meisten Leute, er sah aus, als habe er sehr lange in großer Hitze gelegen.

Vielleicht kam er aus dem Höllenloch?

Mich gruselte noch mehr.

Aber es kam mir plausibel vor. Er war gestorben, war über die Weite geglitten, und die Sonne hatte ihn ausgedörrt. Deswegen stank er auch nicht. Normalerweise, hatte ich gehört, fingen Tote recht bald an zu verwesen, und dann stanken sie. Wenn der Körper nicht mehr funktionierte, nicht mehr lebte, dann zerfiel alles, so wie Küchenreste auf dem Kompost.

Doch woher kam er?

Was ich an Gesichtszügen erkennen konnte, war mir fremd. Seine Kleidung auch.

Wer war dieser Mann? Auf einmal war ich geradezu besessen von der Idee, das herauszufinden. Ich ging in die Hocke und besah ihn mir aus der Nähe. Aber wer trägt schon Kleidung, auf der draufsteht, wer er ist? Niemand. Ich würde ihn anfassen müssen. Einen toten Mann.

Ich atmete mehrmals tief durch, merkte, wie ich innerlich bebte. Dann überwand ich mich und fasste mit spitzen Fingern in die äußere Brusttasche seiner Jacke.

Nichts drin. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Ich ballte die Finger zur Faust, streckte sie wieder, ächzte leise.

Mein Blick fiel auf seine Kehle. Halb versteckt in seinem Hemd, trug er etwas um den Hals, eine Art Anhänger oder Amulett. Ich fasste danach, zog es heraus. Es war eine runde Scheibe aus einem hellen Material, aus Knochen vielleicht, mit einem Loch in der Mitte, durch das ein Lederband gezogen und kunstvoll verknüpft war.

War das ein Hinweis? Ich schaffte es, das Band über den Kopf der Leiche zu ziehen und ihm das Amulett abzunehmen. Dann betrachtete ich es von allen Seiten, aber es enthielt keinerlei Inschrift oder Verzierung. Das helle Material war merkwürdig glatt, fest und schwer. Welches Tier hatte solche Knochen? Ich wusste es nicht. Jedenfalls konnte ich nichts damit anfangen. Ich steckte es ein und wandte mich seinen Seitentaschen zu.

In der rechten fand ich ein zerknülltes Stück Papier mit ein paar trockenen Brotkrümeln. Hatte er Proviant dabeigehabt, als es ihn in die Weite verschlagen hatte? Mich gruselte bei der Vorstellung, über das endlose Gliss zu schliddern, ohne jede Möglichkeit, anzuhalten oder umzukehren oder überhaupt irgendeinen Einfluss darauf zu haben, wohin man geriet … und dann ein Stück Brot dabeizuhaben, das letzte Stück Brot, das man aß, ehe man auf seiner Reise verhungerte. Wobei, wahrscheinlich verdurstete man vorher.

In der anderen Seitentasche war nichts. Mir fiel ein, dass Jacken manchmal auch Innentaschen haben, und tatsächlich, dort fand ich ein anderes Stück Papier, mehrfach zusammengefaltet. Ich zog es behutsam auseinander, aber es zeigte nur Linien, Punkte, Zahlen und seltsame Worte, die mir nichts sagten. Ich faltete es wieder zusammen und schob es zurück in die Tasche.

Dann, schlagartig, wurde mir schlecht. Richtig schwindlig. Ich kippte nach hinten und fiel auf meinen Hintern. Was tat ich hier eigentlich?

Es war höchste Zeit, die anderen zu benachrichtigen. Irgendjemand würde wissen, was zu tun war, und wenn nicht, konnten wir irgendwo anrufen, wo man es wusste.

Ich holte tief Luft, stemmte mich hoch, zog den Leichnam noch ein Stück weiter an Land und rannte los.

Bei den Taylors knallte ich den wuchtigen Türklopfer gegen das Holz, bis die Tür aufgerissen wurde und Phils Vater wutentbrannt vor mir stand.

»Ajit! Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

Ich wedelte mit der Hand in Richtung der Barriere und krächzte: »Da liegt ein toter Mann. Ein toter Mann! Da.«

Oder so ähnlich. Ich weiß nicht mehr, was genau ich gesagt habe. Nur dass es wahrscheinlich nicht besonders klar formuliert war.

»Warte«, brummte Mister Taylor endlich und schlüpfte aus den Pantoffeln in die Schuhe. Dann folgte er mir.

»Dürre!«, entfuhr es ihm, als er den Toten sah. Er klang genau so, wie ich mir vorstellte, dass Phil später einmal klingen würde. »Endlose, allumfassende Dürre! Wo kommt denn der her?«

Ich erklärte ihm, was passiert war. Irgendwie. Er schaute immer wieder zwischen der Pfadmündung und mir hin und her und fragte: »Aus der Weite? Wie kann das sein?«

»Das weiß ich doch auch nicht«, jammerte ich.

»Hmm, hmm … da sollte ich wohl … da muss ich Alarm geben!« Er zeigte auf mich und befahl: »Du bleibst stehen und passt auf, dass niemand was anfasst, klar?«

»Klar«, krächzte ich und nickte heftig.

»Dürre!«, sagte Phils Vater noch einmal und stapfte davon. Gleich darauf schlug er die Glocke, aber nicht zum Morgen, sondern Alarm: Dong-dong-dong! Dong-dong-dong!

Bald darauf kamen sie. Manche kamen angerannt, andere schlappten schlaftrunken daher. Die einen kamen im Pyjama, andere in Übermänteln. Herr Winter kam nur mit einer Hose bekleidet und nacktem Oberkörper. Ich musste ungefähr hundertmal erzählen, was geschehen war.

»Wieso konntest du nicht schlafen?«, wollte mein Vater wissen. »So wie wir gestern gearbeitet haben, müsstest du schlafen wie ein Stein!«

Inzwischen merkte ich auch, wie müde ich war, aber nun war ans Schlafen ja wohl nicht mehr zu denken.

»Es war halt so«, verteidigte ich mich widerwillig, weil ich fand, dass das gerade wirklich nicht das entscheidende Thema war.

Irgendwann standen wir alle um den Toten herum, das ganze Dorf, nur die Kinder nicht, bis auf ein paar, die vom Alarm aufgewacht waren und die Anordnung ihrer Eltern, zu Hause zu bleiben, missachtet hatten. Phils Brüder zum Beispiel, die Zwillinge. Dass die sich das nicht entgehen lassen würden, war ja klar.

Niemand konnte sich überwinden, den Toten zu berühren, bis endlich Belinda McGillis kam, die Medizinfrau. Sie scheuchte uns beiseite und kniete sich bei dem Mann nieder, um ihn richtig anzufassen: Sie hob eins seiner Lider an und schaute in die Augen oder was davon übrig war, bog den vertrockneten Kiefer herab, um ihm in den Mund zu schauen, befühlte seine Handgelenke, drehte ihn hin und her, knöpfte ihm das Hemd auf, um seinen Oberkörper zu betrachten, und meinte schließlich: »Tja, der wird verdurstet sein. Total ausgetrocknet. Richtiggehend mumifiziert.« Sie hob das Jackett an und fügte hinzu: »Seltsame Kleidung. Wer trägt so was?«

»Vielleicht ist er aus dem Osten«, mutmaßte Chao.

»Und wie kommt er dann hierher?«, fragte Herr Winter. Er sah mich an. »Bist du dir sicher, dass er aus der Weite gekommen ist?«

Ich konnte es nicht mehr hören. Sie dachten alle, ich hätte mir das eingebildet oder geträumt. So viel zu dem Ruf, den ich in Letz genoss.

Aber was wollte ich machen? Ich versicherte, dass der tote Mann wirklich und wahrhaftig aus der Weite gekommen war. Und ich beschrieb zum tausendsten Mal, wie der Körper von der Barrikade zurückgeprallt war, beinahe wieder davongeglitten wäre und wie ich ihn aufgehalten hatte.

»Da siehst du es, Cornelius«, warf Raùl ein. »Womöglich kommen hier ständig irgendwelche Toten vorbei, schlagen an und rutschen wieder davon, und wir kriegen’s gar nicht mit! Weil wir nachts schlafen!«

Das glaubte niemand im Ernst. Die Diskussion ging durcheinander, drehte sich aber nur im Kreis; keiner hatte eine zündende Idee, was zu tun war, außer der einen: »Du musst in Hope anrufen, Jess«, sagten sie zu Phils Vater. »Wenn man einen Toten findet, ist das ein Fall für die Polizei.«

»Ja, vielleicht wird jemand vermisst«, meinte Frau Guo.

»Bestimmt«, pflichtete ihr Onkel Prabhu bei. »Ich glaube kaum, dass jemand einfach so verschwinden kann, ohne dass es auffällt.«

Schließlich zogen sie den Leichnam mit vereinten Kräften vollends an Land. Eine der Frauen, Frau Ma, brachte ein altes Leintuch, mit dem sie ihn zudeckte. Dann ließen wir ihn liegen und pilgerten alle zurück zum Gemeindehaus, wo Herr Taylor telefonieren ging, während wir aufgeregt auf der Straße warteten.

»Hab sie erreicht«, erklärte er, als er wieder aus der Tür trat. »Sie schicken einen Glisser mit zwei Polizisten, die sich die Sache anschauen.«

»Sehr gut«, meinte Majalas Vater.

»Hab’s doch gleich gesagt«, ergänzte Raùl.

»Aber«, fuhr Herr Taylor fort, »sie haben schon angekündigt, dass sie den Toten auf jeden Fall zur Untersuchung nach Hope mitnehmen werden. Und derjenige, der ihn gefunden hat, muss mitkommen.« Er sah mich an. »Das heißt, Ajit, du ziehst dir jetzt besser was Ordentliches an.«

Ich sollte nach Hope fahren? Heute? Jetzt?

Das wurde mir alles zu viel. Ich hatte ja noch überhaupt nicht geschlafen und war nach all der Aufregung so erschöpft, dass ich mich am liebsten ins Bett gelegt und um nichts mehr gekümmert hätte. Aber damit würde ich nicht durchkommen, klar. Also öffnete ich die Truhe mit meinen Sachen und versuchte, mich zu konzentrieren. Ich solle für ein paar Tage packen, hatte Phils Vater gemeint; die in Hope waren sich nicht sicher, wie lange die Untersuchungen dauern würden, und sie wollten mich in Reichweite haben, bis sie fertig waren.

Packen. Für mehrere Tage. Eine richtige Reise! So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt.

Während ich dastand und ratlos auf meine Klamotten schaute, kam Mutter mit einer Tasche in der Hand herein. »Die hier sollte reichen«, sagte sie. »Und jetzt lass uns überlegen, was du anziehst. Du wirst vor einer Hohen Kommission erscheinen, da will ich nicht, dass du aussiehst wie der letzte Hirte aus dem Sumpf.« Sie kniete sich vor der Kiste nieder und begann, darin zu wühlen. »Probier das mal an.«

Eine seltsam steife Hose, blau gefärbt … Zum Glück passte mir die nicht mehr.

»Oje.« Meine Mutter haderte sichtlich. Sie zog eine andere Hose heraus, die ich von Tante Disha bekommen hatte. Abgelegt von Nagendra. Natürlich. Zum Glück fand Mutter, sie stehe mir nicht.

Schließlich hatten wir ein paar Kleidungsstücke zusammen, in denen ich einigermaßen was hermachen würde. »Ich will nicht denken müssen, dass du der Familie in der Hauptstadt Schande machst, das verstehst du doch?«, meinte Mutter.

Als ob ich der Familie nicht längst Schande gemacht hätte!

Eine Jacke war mir nur um ein bisschen zu eng, ansonsten aber in Ordnung. »Das kann ich dir schnell umnähen«, meinte Mutter, nahm das Teil und rauschte damit aus dem Zimmer.

Die Müdigkeit überkam mich wie die Flut das Wasserloch. Trotzdem riss ich mich zusammen und begann, mich umzuziehen. Dabei fiel mir der Anhänger wieder in die Hände, den der Tote um den Hals getragen hatte.

Seltsam.

Ich betrachtete ihn genauer. Vor dem dunklen Hintergrund sah er anders aus als vorhin. Das war kein Knochen. Knochen wurde nie so glatt, egal, wie man ihn schliff und polierte.

Ich blinzelte, versuchte, die Müdigkeit zu vertreiben, die hinter meinen Augen brannte. Das … das war doch …

Eine verrückte Idee schoss mir durch den Kopf. Ich hob die Scheibe an dem ledernen Band in die Höhe, bis sie dicht vor meiner Nase schwebte. Sie war so groß, dass man mit Daumen und Zeigefinger nicht darum herumfassen konnte. Durch das Loch in der Mitte hätte ich den Daumen stecken können, wenn es nicht schon zur Hälfte von dem Band ausgefüllt gewesen wäre. Und sie war flach und glatt. Verdünnte sich nach außen hin ein bisschen.

Ich versuchte, die Scheibe mit der Hand zu greifen, aber das klappte nicht. Sobald ich zufasste, entschlüpfte sie mir.

Genau wie Gliss es getan hätte.

Ich ging mit dem Anhänger in die verlassene Küche. Mutter hörte ich hinten im Wohnzimmer an ihrem Nähkasten hantieren.

Ich holte das Glas mit der Braunbeerenmarmelade aus dem Schrank. Dann nahm ich die Scheibe und drückte sie in die süßlich duftende, klebrig braune Masse, nur so tief, dass das Lederband nicht damit in Kontakt kam. Dann zog ich sie wieder heraus.

Nichts. Nichts von dem Mus blieb daran haften. Der Anhänger war so sauber wie zuvor.

Ich starrte das Ding an. Das musste Gliss sein, eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Doch das bedeutete, dass es da draußen in der Weite andere Menschen geben musste und dass der Tote einer von ihnen war.

Menschen, die imstande waren, Gliss zu bearbeiten!

Meine Idee, wie man bessere Energiespeicher bauen könnte, fiel mir wieder ein. Wenn es gelang, Kontakt mit diesen anderen Menschen aufzunehmen, konnte doch noch etwas daraus werden.

Wäre ich nicht so müde gewesen, hätte mir diese Erkenntnis den Atem verschlagen. Womöglich wäre ich sogar wild herumgehüpft vor Begeisterung. So aber steckte ich den Anhänger einfach nur in die Hosentasche und beschloss, niemandem etwas davon zu sagen.

Gliss. Tödliche Weite

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